Andrej Tupolew wollte mit diesem Typ den sowjetischen Luftstreitkräften einen Mehrzweckbomber zur Verfügung stellen, doch konstruktive Mängel, technische Probleme und ein Umdenken in der politischen Führung verhinderten die Indienststellung. Dass statt dessen Jakowles Konkurrenzmuster Jak-28 gebaut wurde, war für den berühmten Konstrukteur eine herbe Niederlage. Im Westen gab man seinem Flugzeug den Namen „Backfin".
Tupolew Tu-98
Im Herbst 1949 startete das Versuchs-Konstruktionsbüro (OKB) Tupolew im Auftrag des Kommandos der sowjetischen Fernfliegerkräfte die Definitionsphase zur Festlegung der Charakteristika künftiger schwerer Unter- und Überschallflugzeuge. Die Studienphase verlief in Kooperation mit dem Zentralen Aero- und Hydrodynamischen Institut (ZAGI) in Shukowskij bei Moskau. Zu Beginn versuchte man das bereits vorhandene „Samoljot 88", besser unter der Typenbezeichnung Tu-16 bekannt, für die neuen Aufgaben zu modifizieren, doch wären die erforderlichen Änderungen an der Zelle, der Waffenanlage und der Avionik zu umfangreich gewesen, um den neuen Anforderungen zu genügen.
Daraufhin begannen die Arbeiten an den Projekten 97 und 103. Ersteres sollte mittels der Umrüstung einer Tu-16 auf stärkere Triebwerke WD-5 und mit bis zu 45 Grad vergrößerter Flügelpfeilung entstehen, während die 103 mit vier Triebwerken WD-7 oder Mikulin AM-13 ausgestattet würde. Diese sollten paarweise übereinander und eng am Rumpf anliegend installiert werden. Auch hier wurde ein stark gepfeilter Flügel projektiert. Diese Entwürfe wurden jedoch nicht realisiert.
1952/53 schließlich reichte Tupolew drei Projekte von Überschallflugzeugen ein, vom taktischen Bomber bis zum Raketenträger mit interkontinentaler Reichweite. Im Mittelpunkt der Arbeiten stand dabei das „Samoljot 98", welches die Codebezeichnung „Samoljot 5201" erhielt. In diesen Entwurf waren bereits positive Erfahrungen eingeflossen, die das ZAGI bei der Erprobung eines auf 55 Grad gepfeilten Tragflügels gesammelt hatte. Mit einem Beschluss des Ministerrates vom 29. Dezember 1952 erhielt Tupolew den offiziellen Auftrag, einen taktischen Bomber mit der Mindestgeschwindigkeit von 1200 km/h zu entwickeln. Das OKB sollte die entsprechenden Entwürfe bis zum 29. März 1953 einreichen.
Streit um die optimale Flügelform
Zwei Prototypen wurden gebaut, von denen der erste am 7. September 1956 zum Jungfernflug startete. Copyright: Sammlung Gründer
Bis Mitte 1954 dauerte schließlich die Definitionsphase für das neue Muster, bei dem mehrere Flügelkonzepte untersucht wurden. Auf der Grundlage der Ergebnisse eines speziellen Forschungsprogramms kamen die Konstrukteure der Entwicklungsabteilung zu der Überzeugung, dass ein Deltaflügel am besten die Forderungen erfüllen würde. Dennoch entschied sich Tupolew für einen Flügel mit 55 bis 57 Grad Pfeilung, was wegen der zu erwartenden konstruktiven Probleme zu starken Kontroversen innerhalb des OKB und des ZAGI führte. Chefkonstrukteur Struminsky jedoch setzte sich mit seinen Argumenten für den Pfeilflügel durch.
Entsprechend eines Befehls des Ministerrates vom 12. April 1954 und einer eine Woche später erteilten Weisung des Ministers für Luftfahrtindustrie erhielt Tupolew den Auftrag zur Konstruktion eines taktischen Bombenflugzeuges mit drei Mann Besatzung, zum Bau zweier Prototypen und zum Beginn der Flugerprobung bereits im Juli 1955. Die Forderungen beinhalteten nunmehr eine Fluggeschwindigkeit von 1200 km/h und sogar 1400 km/h im Nachbrennerregime bei durchschnittlichen Flughöhen zwischen 6000 und 7000 Metern. Die Reichweite mit 3000 kg Bombenlast sollte 2300 Kilometer betragen und mit Zusatztanks bei 2700 Kilometern liegen. Die maximale Flughöhe lag bei bis zu 13500 Metern. Als Antrieb waren zwei Turbojets AL-7F von Ljulka vorgesehen, deren erste Maß- und Massendummys im Februar 1955 ausgeliefert wurden.
Allerdings kamen für die spätere Serienfertigung durchaus auch andere Antriebe in Frage. So entwickelte Mikulin sein AM-11 zum AM-15 weiter, das im Oktober 1955 den 100-Stunden-Testlauf absolvierte. Bereits im Frühjahr 1955 waren die Triebwerke im Flug erprobt worden und wurden daher im Juni auch am ersten, noch unfertigen Prototyp der „98" montiert. Zur gleichen Zeit hatte Klimow mit den Arbeiten am WK-9 begonnen, das im September 1955 erstmals unter dem neuen taktischen Bomber hing.
Wie befohlen bauten Tupolews Experten zwei Prototypen, einen für die Flugerprobung und einen für statische Tests beim ZAGI. Zuvor, im März 1955, waren Vertretern des Kommandos der Luftstreitkräfte das endgültige Design und ein originalgetreues Mock-up des Typs präsentiert worden. Danach sollte das Flugzeug über ein voll verglastes Cockpit verfügen, in dem der Navigator, der Pilot und der Bombenschütze hintereinander auf Schleudersitzen untergebracht waren.
Unsicherer Stand auf engen Fahrwerken
Linke Reihe von oben nach unten: Tu-98A mit Flügelraketen P-15, Tu-24 mit P-15M sowie zwei Versionen des Erprobungsträgers Tu-98 LL. Rechte Reihe: Tu-98B und ein Kurzstart-Projekt dieser Version. © Claus Backmann
Das Aufklärungs- und Feuereinsatzradar „Iniziatiwa" war unter dem Sitz des Piloten untergebracht, während hinter dem Cockpit eine Luftbildkamera AFA-33/75 für die Luftaufklärung und zur Kontrolle der Bombenwirkung installiert war. Der Bombenschacht befand sich nahe des Masseschwerpunkts der Maschine kurz hinter dem Flügelanschluss. Die beiden jeweils vierrädrigen Hauptfahrwerksbeine wurden nach dem Start horizontal in den Rumpf eingezogen.
Ihr schmaler Radstand führte indessen dazu, dass das Flugzeug nur von sehr erfahrenen Piloten geflogen werden konnte. Zudem stand die Maschine bei starkem Wind am Boden auf ziemlich wackeligen Beinen; dennoch verzichteten die Konstrukteure auf die damals weit verbreitete Verendung von Stützrädern an den Tragflächenenden, weil die aerodynamische Sauberkeit des Flügels höchste Priorität hatte.
Neu für eine Tupolew-Konstruktion war auch die Verwendung sehr langer Bleche zur Formung eines durchgehenden Flügelkastens, der dem extrem dünnen Flügel große Stabilität verleihen sollte. Für die Versteifung der dünnen Beplankungsbleche hätten diese mittels sehr dünner Senkkopfniete an den Stringern befestigt werden müssen, doch gab es zu dieser Zeit in der sowjetischen Luftfahrtindustrie keinen Betrieb, der solche Niete produzieren konnte. Aus diesem Grunde entschieden sich die Ingenieure erstmals für eine Flügelhaut, bei der die Beplankung und die Stringer aus einem Stück gefräst wurden.
Als Abwehrbewaffnung war eine ferngesteuerte Zwillingsanlage DK-18 am Heck vorgesehen, die zwei 23-mm-Kanonen AM-23 vereinigte. Verantwortlich für die Entwicklung dieses Systems waren Tupolews Stellvertreter für Be¬waffnung Nadashkewitsch und Chefkonstrukteur Iwan Toporow vom Waffen-OKB, dem heutigen staatlichen OKB Wympel in Moskau. Die Waffe hatte einen Kampfsatz von 300 Granaten und wurde mit Hilfe des Feuerradars PRS-1 Argon gesteuert, dessen Antenne in einem tropfenförmigen Radom am oberen Ende der Seitenflosse installiert war. Eine weitere 23-mm-Kanone mit 50 Granaten war auf der Steuerbordseite der Rumpfnase eingebaut und wurde vom Piloten bedient.
Die Auswahl der einzusetzenden Abwurfwaffen war sehr groß und reichte von 24 Bomben FAB-100, acht davon an Flügelpylonen, über 16 FAB-250 oder zehn FAB-500 hin zu 300 ungelenkten Raketen ARS-85, 61 TRS-132 oder 18 TRS-212. Für den Einsatz bei den Marinefliegern konnten Torpedos der Typen RAT-58, MAN, MAW und TAN-53 beziehungsweise Minen AMD-500 oder AMD-1000 eingesetzt werden. Dafür wurde das Iniziatiwa-Radar mit dem optischen Bombenzielgerät OPB-16 kombiniert.
Dimitri Markow wurde von Tupolew zum Chefkonstrukteur des Projekts 978 ernannt, während der blutjunge Ingenieur Igor Zalesky für den Bau der Maschine verantwortlich war. Der endgültige Entwurf wurde im Juli 1955 fertiggestellt; gleichzeitig war der Bau des ersten Prototyps im Flugzeugwerk No. 156 zu rund 70 Prozent abgeschlossen. Allerdings musste die Maschine bis Februar 1956 auf die Lieferung der ersten einsatzbereiten Triebwerke warten.
Am 7. Juni 1956 begannen dann endlich die Bodenerprobungen, und am 7. September 1956 startete der Prototyp unter Walentin Kowaljow und Navigator K. Malchasjan zum Jungfernflug.
Kein Serienbau wegen technischer Probleme
Bis Ende 1957 folgten 30 weitere Flüge mit einer Gesamtflugzeit von 25 Stunden und zwölf Minuten, wobei einmal die Höchstgeschwindigkeit von 1238 km/h erreicht wurde. Die Tests ergaben enorme Probleme mit dem neuartigen hydraulischen Kontrollsystem, doch schwerer wog die mangelnde Verfügbarkeit zuverlässiger Serientriebwerke.
Indessen wurde Tupolew seitens des Ministeriums der unbefriedigende Stand der Flugerprobung persönlich angelastet, und schließlich verlor das Kommando der Luftstreitkräfte das Interesse an diesem Bomber. Dennoch gelang es bis 1959 weitere Testflüge durchzuführen, um die technischen Probleme endlich in den Griff zu bekommen, würden sie sich doch sonst auch auf künftige Konstruktionen auswirken. Wegen der Geheimhaltung ist heute nicht viel mehr über diese Schwierigkeiten zu erfahren, doch müssen sie ziemlich massiv gewesen sein.
In der offiziellen Begründung für die Auszeichnung des Cheftestpiloten mit dem Titel „Held der Sowjetunion" hieß es beispielsweise: „Kowaljow hat erfolgreich den ersten sowjetischen Überschallbomber Tu-98 erprobt. Dabei gelang es ihm wiederholt, das Flugzeug zu retten."
Weil der Typ nach der langen Erprobungszelt ohnehin nicht mehr die Anforderungen erfüllte, begann das OKB im Juli 1957 mit der Weiterentwicklung des leichteren „Salnoljot 98A", das Tupolew Ende des Jahres den Luftstreitkräften als Tu-24 offerierte. Die Gewichtseinsparungen kamen vor allem durch Verzicht auf die Waffenanlage und die Reduzie¬rung der Besatzung auf zwei Mann zustande, und als Angriffsbewaffnung waren jetzt zwei Flügelraketen P-15A oder P-15M vorgesehen. Damit versuchte Tupolew das Projekt und nicht zuletzt auch die Zukunft seines OKB zu retten, denn Parteichef Nikita Chruschtschow war ein begeisterter Anhänger der Raketentechnik und gab den Bombenflugzeugen keine Zukunft mehr.
Dabei gaben sich die Konstrukteure alle Mühe, die Mängel des Ausgangsmusters zu beseitigen. So brachten sie unter anderem das Fahrwerk in Flügelbehältern unter und verringerten den Rumpfdurchmesser, was vor allem Dank des Verzichts auf den Bombenschacht möglich war, weil die Flügelraketen als Außenlasten befördert wurden. Schließlich schrieb Tupolew gemeinsam mit Kommandeuren der Luftstreitkräfte einen Brief an das Zentralkomitee, worin er die Notwendigkeit der Einführung der Tu-24 in die Truppe begründete.
Die Mitglieder der zuständigen staatlichen Kommission indessen gaben trotz aller Einflussnahme Jakowlews leichtem taktischem Bomber Jak-28 den Vorzug. Selbst der Umstand, dass Tupolew weitere Versionen seines Musters für die verschiedensten Verwendungen projektierte, änderte nichts mehr an der Entscheidung: Im Juli 1958 wurde das OKB angewiesen, die einzige Tu-98 zu verschrotten.
Klassiker der Luftfahrt Ausgabe 01/2008
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