Ende der 1950er Jahre versuchten kanadische Konstrukteure mit finanziellen Mitteln der US Air Force ein kreisförmiges, senkrecht startendes und landendes Kampfflugzeug zur Serienreife zu bringen. Den Deutschen war das schließlich auch gelungen – glaubte man wenigstens, doch höher als einen Meter flog dann die „Untertasse“ nie.
Mit „speziellen Projekten“ den Sowjets zuvorkommen
Der Zweite Weltkrieg brachte es mit sich, dass im früheren Agrarland Kanada Waffen- und Munitionsfabriken wie Pilze aus dem Boden schossen, in denen Panzer, Kriegsschiffe und Flugzeuge hergestellt wurden. Eines der bekanntesten Luftfahrtunternehmen jener Zeit war Victory Aircraft in Malton, Ontario, die ehemalige staatliche National Steel Car. Hier wurden Kampfflugzeuge für die Royal Air Force (RAF) und die Royal Canadian Air Force (RCAF) gebaut, die auf dem europäischen Kriegsschauplatz zum Einsatz kamen, darunter 422 Exemplare der Avro Lancaster und 78 Avro Anson.
Roy Dobson, Direktor der britischen A.V. Roe Company, war bei mehreren Besuchen derart beeindruckt von den Produktionsstätten, dass er dem Mutterkonzern Hawker- Siddeley Group empfahl, diese zu kaufen. Der Vertrag mit der kanadischen Regierung wurde am 2. November 1945 unterschrieben, und so entstand die A.V. Roe Canada Ltd., allerdings unter der Bedingung, dass dies ein kanadisches Unternehmen mit kanadischem Management sein sollte.
Das Unternehmen erwies sich mit all seinen Projekten als eine wahre Ideenschmiede, und so muss es auch nicht verwundern, dass unter Leitung von John Frost ab Juli 1952 Pläne des „Projects Y“ in Angriff genommen wurden, eines VTOL-Fluggeräts in Form einer „fliegenden Untertasse“. Seitens des britischen Mutterkonzerns gab es dafür große Unterstützung, doch die kanadische Regierung war davon weniger begeistert. Nach einer Präsentation vor Vertretern der US Air Force allerdings sicherten diese überraschenderweise eine umfangreiche finanzielle Unterstützung zu.
Vorausgegangen waren dieser Entscheidung Veröffentlichungen in deutschen Medien über die Entwicklung solcher „Flugscheiben“ in der Endphase des Krieges sowie Gerüchte über weiterführende Arbeiten in der Sowjetunion. Aufgeschreckte US-Geheimdienste setzten ihr gesamtes Spionagearsenal in Bewegung, um den Wahrheitsgehalt dieser Informationen zu überprüfen, doch fündig wurden sie nur bei ihrem nördlichen Nachbarn: bei John Frost von A.V. Roe Canada! Weil die Amerikaner in jenen Jahren den Deutschen noch die Entwicklung aller möglichen Wunderwaffen zutrauten, glaubten sie natürlich auch an die Projekte der „Reichsflugscheiben“, und so flossen die Gelder gut und reichlich.
Frost hatte in Großbritannien bei Airspeed, Westland, Miles, Blackburn, Slingsby und schließlich bei De Havilland gearbeitet und war natürlich von der UFO-Manie der späten 1940er und frühen 1950er Jahre angesteckt worden. Beinahe täglich wurden irgendwo
in Nordamerika „fl iegende Untertassen“ gesichtet, und vor allem mit der Verschärfung des Kalten Krieges tauchten in den Medien immer mehr Gerüchte über Geheimwaffenprojekte der USA auf. In Deutschland hatte der Ingenieur Rudolf Schriever aus Bremerhaven behauptet, er habe kurz vor Kriegsende ein solches Fluggerät gebaut und sogar noch erfolgreich getestet, bevor er vor der schnell heranrückenden Roten Armee die beiden Flugscheiben und sämtliche Unterlagen vernichten musste.
Obwohl Schriever keinerlei Beweise für seine Auslassungen vorlegen konnte, galt er allgemein als so vertrauenswürdig, dass er im Jahre 1953 eingehend von britischen und kanadischen Geheimdienstexperten befragt wurde, und auch John Frost war eigens zu diesem Verhör nach Deutschland gereist. Allerdings ergaben die Behauptungen nichts Brauchbares für den Konstrukteur, der in Kanada bereits mit Modellen seines kreisförmigen Fluggeräts experimentierte. Und daher enttäuscht wieder nach Hause flog.
Frost war überzeugt, dass diese Form eines Flugzeuges aerodynamisch viel besser sei als die der herkömmlichen Starrflügler und stürzte sich wie besessen in die Arbeit. Schon im Frühjahr 1952 hatte er eine spezielle Arbeitsgruppe aus acht Ingenieuren und technischen Zeichnern gebildet, die „spezielle Projekte“ ausarbeiten sollte. Unter strengster Geheimhaltung erstellten sie zunächst die Pläne für eine „Turbo Disc“ aus zwei gegenläufig rotierenden Scheiben, mit der man die Machbarkeit eines derartigen Projekts nachweisen wollte. Bald jedoch wurde aus diesem kreisförmigen Entwurf der bereits erwähnte Nurflügler mit dem Spitznamen „fliegender Manta“ und der offiziellen Bezeichnung Project Y. Das 7,8 Meter lange, einsitzige Fluggerät sollte 2 400 Stundenkilometer schnell sein und in einer Minute die Gipfelhöhe von 30 500 Metern erreichen!
Frost erhielt im August 1952 ein britisches Patent für den Entwurf, von dem ein Modell 1953 bei Avro in Manchester im Windkanal getestet wurde, und trotz der Geheimhaltung sickerten Informationen an die Öffentlichkeit, die in zahlreichen Artikeln vor allem der britischen Fachpresse für Spekulationen sorgten. Nach mehreren Briefings hoher Air-Force-Vertreter entschloss sich die USAF also Ende 1954 zur Übernahme der weiterführenden Entwürfe eines scheibenförmigen Flugzeuges und gab ihnen nunmehr die Bezeichnung MX-1794.
Das gesamte Vorhaben hatte höchste Priorität, weil man fest überzeugt war, dass in der Sowjetunion an ähnlichen Vorhaben geforscht würde, ja, dass die sowjetischen „Kollegen“ sogar schon weiter seien. Schließlich hatten sich auch diese nach dem Krieg aus den deutschen Ideenschmieden bedient, und weil die USA nichts Brauchbares in dieser Hinsicht gefunden hatten, musste wohl den Sowjets alles in die Hände gefallen sein. Die Vorstellung, eine ganze Flotte überschallschneller „fliegender Untertassen“ mit dem Roten Stern am Rumpf könnte in absehbarer Zeit über den Westen herfallen, ohne dass dieser Adäquates entgegenzusetzen hatte, war für die Staaten eine Horrorvorstellung.
Schwebendes Luftkissen als Testmodell
Der Vertrag AF33 (600)-30161 zwischen Avro Canada und der USAF wurde am 6.Mai 1955 abgeschlossen und sah unter anderem Windkanaltests im Massie Memorial Wind Tunnel beim Wright Air Development Center sowie Hovertests auf der Wright Patterson AFB in Dayton, Ohio, vor. Hinzu kamen Überschalltests im Navy Research Windkanal des MIT in Cambridge, Massachusetts, sowie diverse weitere Prüfungen beim Hersteller. Diese Arbeiten sollten bis August 1956 abgeschlossen werden, wofür man 784 492,29 US-Dollar zur Verfügung stellte. Kurzzeitig interessierte sich sogar die Navy für das neue Fluggerät, weil gerade zu diesem Zeitpunkt die Ausschreibung TS-140 für das VTOL Visual Fighter Program veröffentlicht worden war, doch nahm man schnell wieder von dem Vorhaben Abstand. Ungeachtet dessen verfolgte man die weiteren Arbeiten mit Interesse und entsandte sogar Beobachter zu den Tests.
Im streng geheimen Technical Report TRAC- 47 vom 15. Februar 1955 des Air Technical Intelligence Center wurde das Project 1794 als Fluggerät in Form eines großen Diskus beschrieben, das eine ganze Reihe radikaler technischer Lösungen in sich vereine, und in der Tat: Radikal waren Frost und Kollegen bei der Auslegung ihres Entwurfs. Allein die Tatsache, dass der größte Teil des Flugzeugs als flache, kreisförmige Turbine gestaltet war, mit einem zentralen Lufteinlauf auf der Oberseite und Luftauslassöffnungen entlang des gesamten Scheibenrandes, war schon revolutionär. Mittels eines komplizierten Systems von Klappen sollten über diese Öffnungen die Bewegungen der Scheibe um alle drei Achsen gewährleistet werden.
Der Pilot indessen thronte oben auf der Scheibe, inmitten der Kraftstofftanks und dem rotierenden Turboreaktor, mit einem 360-Grad-Rundblick in der kompletten oberen Halbsphäre – nur zur Seite oder nach unten war er praktisch blind. Dieser Negativpunkt würde jedoch, darin waren sich alle Beteiligten sicher, durch die enorme Geschwindigkeit und Gipfelhöhe mehr als nur wettgemacht. Die projektierte Reichweite von nur 1250 Kilometern allerdings machte die „Untertasse“ zu einem reinen Abfangjäger.
Interessant war auch, dass man für Start und Landung den Bodeneffekt ausnutzen wollte, bei dem die Scheibe praktisch auf einem kraftvollen Luftkissen schwebte. Auf diese Art konnte man komplett auf ein Fahrwerk verzichten und das Gerät, wo immer man auch wollte, einfach auf dem Beton oder einer Wiese aufsetzen.
Frost hatte drei verschiedene Windkanalmodelle entwickelt, von denen eines im Maßstab 1:6 und einem Durchmesser von 1,52 Metern zwischen 1955 und 1961 allein 900 Stunden Unterschalltests unterzogen wurde. Überschalltests mit einer Gesamtdauer von 250 Stunden fanden an zwei Modellen beim MIT statt. Die Prüfungen ergaben, dass das Fluggerät vor allem bei Geschwindigkeiten zwischen Mach 1.5 und 3 ein außerordentlich günstiges Verhältnis von Auftrieb und Vorwärtsgeschwindigkeit haben würde, was als positives Argument für die Entwicklung angesehen wurde.
Als nächstes musste ein Testmodell des Projects 1794 gebaut werden, an dem man die Flugstabilität, Richtungsänderungen und das Verhalten im Langsamflug untersuchen wollte, bevor das erste operationelle Flugzeug entstehen sollte. Zudem wollte man die Wirkung des Bodeneffekts genau studieren. Die Flugscheibe hatte einen Durchmesser von 10,75 und eine Höhe von 2,34 Metern sowie eine maximale Startmasse von 12 393 Kilogramm. Sechs Triebwerke des Typs Armstrong-Siddeley Viper 8 sollten ihr eine Höchstgeschwindigkeit von 4800 Kilometer pro Stunde und eine Reichweite von 1600 Kilometern verschaffen.
Hohe Kosten und nur ein Meter Flughöhe
Gleichzeitig und mit Genehmigung der USAF arbeiteten die Konstrukteure an einem Testesxemplar mit der Bezeichnung Avro 704 PV (Private Venture), mit dem sich Tests der kompletten Triebwerksanlage durchführen ließen. Die Kosten in Höhe von rund fünf Millionen Dollar übernahm das Unternehmen selbst, und Ziel des Vorhabens war es, die Entwicklungszeit für das Modell 1794 zu verkürzen. Jedoch blieb das Vorhaben erfolglos, weil Brände und Explosionen beinahe zu Katastrophen führten und das gesamte Vorhaben abgebrochen werden musste.
Am 27. März 1957 überführte die USAF die Arbeiten in das Forschungssystem 606A und stellte weitere 1,6 Millionen Dollar zur Verfügung; Avro hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 2,5 Millionen an Eigenmitteln in das Projekt gesteckt. Dieser künftige, zweisitzige Jagdbomber mit geplanten 900 Kilogramm interner und zusätzlicher externer Waffenblast war ein 24,34 Meter durchmessendes GETOL-Flugzeug (Ground Effect Takeoff and Landing), dessen Erstflug im März 1964 stattfi nden sollte. Mit mehr als 75 verschiedenen Modellen wurden nun rund 1000 Windkanalstunden absolviert, doch nun meldete sich die US Army, die ein langsames, stark bewaffnetes taktisches Luftfahrzeug für die Luftnahunterstützung suchte.
Frost musste seine Anstrengungen zwischen der 606A und dem neuen „Avromobile“ teilen, das wiederum auf der Basis des Modells PV 704 entstehen sollte. 1958 wurde ein hölzernes Mock-up gebaut, und im Auftrag der USAF folgte ein verkleinertes, nur 5,4 Meter durchmessendes Testmodell VZ- 9-AV Avrocar. In separaten Cockpits sollten an Backbord der Pilot und an Steuerbord der Beobachter/Schütze sitzen. Als Antrieb installierte man drei Continental J69-T-9, Lizenzbauten des französischen Turbomeca Marboré mit jeweils 4,1 Kilonewton Schub, mit denen man 480 Stundenkilometer und eine Reichweite von 130 Kilometern schaffen wollte.
Dann kam der „Schwarze Freitag“, der 20. Februar 1959 (siehe Kasten auf Seite 21). Avro Canada starb und wurde gleichzeitig stark verkleinert wiedergeboren. Frost hatte plötzlich mehr qualifiziertes Personal zur Verfügung, und so absolvierte der erste Avrocar S/N 58-7055 am 27. Mai 1959 seinen Roll-out, gefolgt vom zweiten im August jenes Jahres. Von den ursprünglich geplanten vier Exemplaren wurden jedoch nur zwei realisiert. Die verschiedensten Tests fanden zwischen Juni 1959 und April 1961 statt.
Am 29. September 1959 führte Avro-Testpilot Spud Potocki den ersten Fesselflug und am 5. Dezember den ersten Freiflug durch. Er beschrieb die Eigenschaften des Vehikels als gut, doch nur innerhalb des Bodeneffekts bis zu einer Höhe von einem Meter. Höher kam es wegen extremen Schubverlusts nie, und außerdem funktionierte das Klappensystem für die Vorwärts- und Seitwärtsbewegung zu keinem Zeitpunkt, egal was Frost und seine Ingenieure auch anstellten. Fred Drinkwater, NASA-Testpilot und Forschungsingenieur machte zwar am 15. März 1960 etwas bessere Erfahrungen mit dem zweiten Prototyp, mit dem er sich wenigstens horizontal bewegen konnte, doch auch er flog nie höher als einen Meter.
Das Avrocar-Programm geriet nach und nach in große Gefahr, zumal auch die Arbeiten am System 606 keinen Erfolg versprachen. Dennoch glaubten die US-Militärs, die Probleme seien zu lösen und hielten vorerst an beiden Projekten fest. Bis zum Juni 1961 fanden insgesamt 93 Test“flüge“ mit rund 75 Stunden Dauer statt, aber trotz mehrfacher konstruktiver Änderungen wurde aus dem Luftkissenfahrzeug kein Fluggerät. Das war das Aus für das ehrgeizige Programm. Die 58-7055 kann heute im USAF-Museum in Dayton besichtigt werden, während die zweite, 59-4975, im US Army Transportation Museum in Fort Eustis, Virginia, eingelagert ist. Flugfähige „Untertassen“ hat es also nie gegeben. Mit heutiger Technik, vor allem mit computergestützter Steuerung, könnte man sicher welche bauen, aber – wer braucht die schon?
Klassiker der Luftfahrt Ausgabe 03/2013
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