Konnte die Boeing 737 als Kurzstrecken-Verkehrsflugzeug ein Erfolg werden? Fachleute hegten damals große Zweifel. Ein FLUG REVUE-Artikel von 1967 beleuchtet die Anfänge der 737-Geschichte, bei der die Lufthansa eine wichtige Rolle spielte.
Der folgende Beitrag stammt aus der Februar-Ausgabe der FLUG REVUE von 1967.
Als Boeing im Sommer 1964 seine Pläne für einen zweistrahligen Kurzstreckenjet bekanntgab, äußerte man in Fachkreisen erhebliche Zweifel an der Rentabilität eines solchen Vorhabens. Immerhin existierten bereits zwei Flugzeugtypen, die für diese Klasse speziell entwickelt worden waren: Douglas DC-9 und BAC 1-11, die Ablösung für Viscount und Metropolitan. Angesichts des Vorsprungs, den sowohl Douglas als auch die BAC zu diesem Zeitpunkt hatten, erschien es fraglich, ob Boeing sich seinen Marktanteil erobern könnte – selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, daß dieser Markenname durch die Typen 707, 720 und 727 bei vielen Luftverkehrsgesellschaften seit Jahren eingeführt war.
Das Projekt 737
Während die ersten Bauteile noch im Werk Wichita gefertigt und zur Montage nach Seattle gebracht wurden, entstand südlich von Renton das Werk Auburn. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Boeing arbeitete dieses Flugzeug, die 737, als Projekt aus und schlug es den Gesellschaften, die in absehbarer Zeit an den Ersatz ihrer veraltenden Flotte von Propellerflugzeugen denken mußten, mit den errechneten Leistungswerten vor. Die Resonanz war denkbar gering und für Boeing wenig ermutigend. Nachdem sich in Europa die Swissair und KLM für die Beschaffung der DC-9 entschieden hatten, tendierte auch die Lufthansa trotz starker Homogenisierungsbestrebungen zu diesem Flugzeugtyp, der den gleichen Triebwerkstyp verwendet, mit dem die bereits im Dienst der Lufthansa stehenden Boeing 727 ausgerüstet sind. Der ursprüngliche Boeing-Entwurf entsprach hinsichtlich der Nutzraum-Kapazität in keiner Weise den Anforderungen der Lufthansa. Boeing hatte ihn für 55 bis 60 Passagiere ausgelegt, die Lufthansa verlangte 82 plus Gepäck und zusätzlicher Fracht für eine Reichweite von 500 nautischen Meilen.
Gespräche mit Lufthansa und United Airlines
Die Lufthansa gab am 19. Februar 1965 bekannt, daß sie sich für den Ankauf von 21 Maschinen dieses Typs entschieden habe. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
In diesem Zeitraum nahm die Lufthansa durch Gerhard Höltje Kontakt mit der United Airlines auf, die von einer ähnlichen Situation der Ersatzbeschaffung ihres veraltenden Materials standen. United stimmte mit der Lufthansa-Ansicht weitgehend überein, verlangte aber eine noch größere Passagierkapazität bei geringerer Reichweite. Die Diskussionen beider Gesellschaften mit Boeing zogen sich bis November 1964 hin. Boeing lenkte schließlich widerstrebend ein, bestand aber darauf, daß man das Projekt 737 nur nach der Festbestellung von mindestens 50 Einheiten realisieren werde. Im Januar 1965 flog Gerhard Höltje noch einmal nach Seattle zur letzten Verhandlung mit Boeing. Ihr Ausgang sollte über das Schicksal dieses Projektes entscheiden. Boeing handelte noch einmal eine Bedenkfrist aus und teilte am 9. Februar der Lufthansa mit, daß man bereit sei, die 737 in Angriff zu nehmen.
Für die Öffentlichkeit brachte der 19. Februar die Überraschung: Die Lufthansa gab bekannt, daß sie sich für den Ankauf von 21 Maschinen dieses Typs entschieden habe. In den folgenden Wochen sah es so aus, als ob dies der einzige Auftrag für die Boeing 737 bleiben werde, aber dann zogen die United Airlines nach: Mit ihrem Erstauftrag über 40 Boeing 737-200 hoben sie dieses Programm über die kritische Schwelle.
Triebwerksanordnung überrascht
Im Vordergrund der erste Prototyp der 737, dahinter die erste Maschine für die Lufthansa. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Die eigentlich erste Überraschung hatte die Veröffentlichung der Auslegung der Boeing 737 gebracht. Man hatte angenommen, daß Boeing dem allgemeinen Trend folgen und die beiden Triebwerke am Heck anordnen werde. Die ersten Modellaufnahmen der 737 zeigten jedoch, daß man zur konventionellen Auslegung zurückgekehrt war: Triebwerksanordnung unmittelbar unter den Flügeln. Ein relativ kleiner Tiefdecker mit tiefliegendem Höhenleitwerk, voluminösem, aber kurzem Rumpf, ein Flugzeug, das nach seinem äußeren Appeal so betont für wirtschaftlichsten Einsatz ausgelegt wurde wie kaum ein anderes in dieser Kategorie.
Entwurfs-Philosophie der 737
Die Boeing 737 wurde als erstes Flugzeug weitgehend nach einem numerischen System von bandgesteuerten Maschinen gefertigt. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Die Entwurfs-Philosophie der 737 basiert in erster Linie auf einer außerordentlich scharfen Kalkulation, zu der Boeing gezwungen war, um in den von Douglas und der BAC beherrschten Markt eindringen zu können. In zweiter Linie spielten neueste aerodynamische Erkenntnisse eine Rolle bei der Auslegung des Flugzeugs, bei dem es darum ging, den besten Kompromiß zwischen Geschwindigkeitsleistung, Fassungsvermögen, Beschränkung der Dimensionen, guten Start- und Landeeigenschaften, großem Reisekomfort und niedrigen Betriebskosten, geringem Wartungsanspruch und guter Wartungsfähigkeit zu finden.
Das Fahrwerk
Man sah der äußerlich so unscheinbaren 737 nicht an, daß sie technologisch das fortgeschrittenste aller konventionellen Flugzeuge war. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Bei der Konstruktion des Fahrwerks konnte eine weitgehende Vereinfachung erreicht werden, sowohl im Aufbau als auch funktionsseitig. Die meisten Teile des Hauptfahrwerks sind von links nach rechts (oder umgekehrt) voll austauschbar und ermöglichen eine einfache Ersatzteilhaltung. In gleicher Weise wurde auch die normalerweise nicht wenig aufwendige Restabdeckung des Fahrwerks vereinfacht. Eine mechanisch angelenkte, dreiteilige Restabdeckung schließt nach dem Einziehen jeder Hauptfahrwerkseinheit den Schacht für das Federbein; die Öffnung im Rumpf, notwendig zur Aufnahme der Zwillingsräder, verschließt das jeweils äußere Rad, dessen Außenseite nach Abschluß des Einziehvorgangs auf dem Niveau der Rumpfbeplankung liegt.
Den durch die Reifenrundung entstehenden Spalt dichtet schließlich ein Wulstring pneumatisch ab. Die Betätigung des Fahrwerks erfolgt hydraulisch; bei einem Ausfall der Hydraulik vor dem Ausfahren werden alle drei Einheiten von Hand entriegelt, sie fallen durch ihr Eigengewicht heraus und verriegeln sich selbsttätig.
Der Rumpf
Die erste Boeing 737 für die Lufthansa mit dem Kennzeichen D-ABEA erhielt den Namen "Coburg". Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Obgleich die Boeing 737 nur geringfügig größer ist als die Metropolitan, kann ihr Rumpf die doppelte Anzahl von Passagieren aufnehmen. Im Verhältnis zur Spannweite und Länge der Maschine wirkt dieser Rumpf ungewöhnlich massig. Boeing übernahm den Rumpfquerschnitt der 727 (vor dem Flügel), im Grunde den gleichen Querschnitt aller BoeingJets von der 707 an, und auch die gleiche Innenausrüstung.
Die Standardisierung der Ausstattung wirkt sich wiederum günstig für eine Gesellschaft aus, die – wie die Lufthansa – ihre Flotte homogenisiert. Sie kann die Ausrüstung wahlweise in einer 707, einer 720, 727 oder 737 verwenden und die Ersatzteilbevorratung erheblich reduzieren. Durch die Übernahme von 66 Prozent bereits existierender 727- und 707-Bauteile konnte Boeing die Konstruktionszeit weitgehend verkürzen und die aufzuwendenden Kosten niedrig halten.
Versionen
Im Vordergrund der erste Prototyp der 737, dahinter die erste Maschine für die Lufthansa. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Boeing sah neben der Grundausführung 737 Serie 100 die Serie 200 mit verlängertem Rumpf vor. Die Verlängerung beträgt 1,93 m, die Nutzlastkapazität erweiterte sich auf 88 bis 113 Passagiere. Von beiden Serien sind erhältlich: 737-100 C (umbaufähige Version für wahlweise Passagiere plus Fracht oder nur Fracht), 737-100E (Executive-Version mit Luxuskabine für maximal 25 Passagiere), 737-100M (militärische Mehrzwecke-Version), 737-2O0 C (wie 1000) und 737-200QC (Quick-ChangeVersion mit schnell umbaufähigem Nutzlastraum). Obgleich die 737-100 mehr als 40 Prozent kleiner ist als die 727, faßt ihr Nutzlastraum mehr als 80 Prozent dessen, was die 727 aufnehmen kann. Der Grund dafür: Der Rumpf der 737 kann bis zum Leitwerksbereich ausgenutzt werden, während bei der 727 ein erheblicher Teil des Hecks für die Installation der drei Triebwerke herangezogen werden mußte.
Elektrik
Produktion von Kabelbäumen. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Die Systemversorgung der Boeing 737 ist von konventioneller Art. Durch ein AiResearch-APU, das im Heckkonus eingebaut ist, wird die gesamte elektrische Energie erzeugt, die während des Aufenthalts am Boden, zwischen Landung und Start, notwendig ist. Die Maschine ist bodenunabhängig und kann auch die Triebwerke mit bordeigenem Strom anlassen. Die während des Flugs notwendige elektrische Energie erzeugen die an den Triebwerken angeschlossenen Generatoren. Ruder, Klappen, Fahrwerk einschließlich Bremsen und Bugradsteuerung werden hydraulisch betätigt. Hierfür stehen zwei voneinander unabhängige Hydraulikkreise mit einem Arbeitsdruck von 210 atü zur Verfügung. Die zur Klimatisierung und Druckbelüftung der Kabine benötigte Luft wird von den Verdichtern beider Triebwerke entnommen. Die Abzapfleitungen entnehmen die Druckluft von der achten und dreizehnten Verdichterstufe und führen sie zu zwei Luftzyklus-Aggregaten, die sich in einem nicht druckbelüfteten Raum unterhalb des Kabinenbodens (unterhalb des mittleren Tankraums) befinden. Während des Aufenthalts am Boden übernimmt das APU die Versorgung der Klimaanlage. Die Druckbelüftung erstreckt sich nicht nur über den Passagierraum und das Cockpit, auch die Gepäckräume werden belüftet.
Erste Entwürfe
Gerhard Höltje, Vorstandsmitglied der Lufthansa, und William Allen, Präsident von Beoing. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Die ersten Entwurfsarbeiten an der Boeing 737 begannen am 11. Mai 1964. Nachdem grünes Licht für die Realisierung des Projektes gegeben werden konnte, vergrößerte Boeing den Stab der Konstrukteure und ihrer Mitarbeiter für die Produktionsvorbereitung auf etwa 1400 Mann. Im November 1965 hatte man 1,6 Millionen Ingenieurstunden aufgewendet, die Windkanalversuche waren bereits auf 5000 Stunden angewachsen. Zwölf Monate später wurde die erste 737 zur Endausrüstung in den neuen, speziell für die Endmontage gebauten Hangar in Seattle gerollt, den nach Plan in naher Zukunft 14 Boeing 737 pro Monat verlassen sollen.
Produktion
Während die ersten Bauteile noch im Werk Wichita gefertigt und zur Montage nach Seattle gebracht wurden, entstand südlich von Renton das Werk Auburn. Foto und Copyright: G.W. Heumann / Motor Presse Stuttgart
Das erste Produktionsflugzeug in dieser Halle ist die für die Lufthansa bestimmte Maschine. Die Einhaltung des Terminplans und das Produktionstempo mögen nach europäischen Begriffen ungewöhnlich sein – für Boeing waren sie es nicht. Und dennoch ist dieses Programm auch in den USA ein Novum: Die Boeing 737 wird als erstes Flugzeug weitgehend nach einem numerischen System von bandgesteuerten Maschinen gefertigt. Während die ersten Bauteile noch im Werk Wichita gefertigt und zur Montage nach Seattle gebracht werden, entstand südlich von Renton das Werk Auburn, mit dessen Bau am 25. September 1965 begonnen wurde. Nach seiner Fertigstellung wird Auburn, dessen Bau im ersten Jahr bereits die Investition von 110 Mio. Dollar erforderte, mit seinem numerisch gesteuerten Maschinenpark das modernste Flugzeugwerk der Welt sein.
Prototyp und Tests
Man sieht der äußerlich so unscheinbaren 737 nicht an, daß sie technologisch das fortgeschrittenste aller konventionellen Flugzeuge ist. Dass sie eines der wirtschaftlichsten werden wird, bestätigt allerdings die Zahl der fest bestellten Einheiten, die Boeing im Auftragsbuch vor dem Erstflug des Prototyps verzeichnen konnte: 129 Einheiten. Am 17. Januar 1967 gab die 737 ihr Debüt vor dem offiziellen Roll-out. Siebzehn Stewardessen, the coffee-tea-or-milk girls jener siebzehn Gesellschaften, die diese 129 Flugzeuge bestellten, zerschmetterten siebzehn Sektflaschen an einem Stahlrohr vor dem rechten Flügel des Prototyps.
Ende Februar oder Anfang März 1967 wird der Prototyp der Boeing 737 seinen Hangar verlassen und zum Erstflug von Boeing Field aus starten. Insgesamt fünf Flugzeuge, vier davon Produktionsmaschinen, werden das Testprogramm absolvieren, ehe die Ablieferung der ersten Serienmaschine stattfinden kann. Die Lufthansa wird als erster Kunde dieses Flugzeug, das erste von 21 Maschinen, von denen jede voll ausgerüstet 13 Mio. DM kosten wird, gegen Anfang Oktober 1967 übernehmen und zunächst zum Besatzungstraining einsetzen. Die anderen Gesellschaften erhalten ihre Flugzeuge in der Reihenfolge ihrer Auftragserteilungen, Flugzeuge eines Typs, den Boeing eigentlich gar nicht bauen wollte, dem man keine reelle Chance gab, sich gegenüber der Konkurrenz durchsetzen zu können ...
Dieser Artikel kann Links zu Anbietern enthalten, von denen FLUG REVUE eine Provision erhalten kann (sog. „Affiliate-Links“). Weiterführende Informationen hier.