Alleingang: Russlands Flugzeugbauer improvisieren

Gezwungener Alleingang
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Russlands Flugzeugbauer müssen improvisieren

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Unter höchstem Zeitdruck versucht Russland, seinen Verkehrsflugzeugbau umzukrempeln und anzukurbeln. Alte Lieferketten und Partnerschaften werden aufgekündigt, gleichzeitig sollen Rekordzahlen gebaut werden. Wie soll das gehen?

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Während einer im Fernsehen übertragenen Videokonferenz vom 11. Januar rüffelte Russlands Präsident Wladimir Putin seinen für Flugzeugbau zuständigen Minister für Industrie und Handel und stellvertretenden Premierminister, Denis Manturow, streng: "Was spielst Du hier den Narren? Die Verträge fehlen noch, sagen mir die Direktoren der Flugzeugwerke", widersprach der Präsident Beteuerungen seines Ministers, Hubschrauber-Bauaufträge seien bereits erteilt worden und noch ausstehende Flugzeug-Bauaufträge weitgehend vorbereitet. Manturow versprach das erste Quartal 2023 für deren Freigabe, der Präsident befahl: "Höchstens vier Wochen!"

Tatsächlich dauerte es anschließend nur ein paar Tage mehr als vom Kreml-Chef angeordnet: Mitte Februar meldete der Staatskonzern Rostec, seine Tochterfirmen UAC und Russian Helicopters hätten "Verträge für die Produktion von Zivilflugzeugen und Hubschraubern unterzeichnet, die über Leasinggesellschaften an die Betreiber geliefert werden." Die Vereinbarung sieht demnach den Bau von 71 neuen Passagierjets und 107 Helikoptern bis Ende 2025 vor.

Kraftakt und Hürdenlauf

Doch auch, wenn der Deal jetzt eingetütet ost: Die Nerven liegen in Russland trotzdem blank – wenig überraschend bei dem industriepolitischen Kraftakt, den die russische Regierung ihren Flugzeugbauern abverlangt: Manturow soll bis zum Jahr 2030 mindestens 700 Flugzeuge aus einheimischer Fertigung an militärische und zivile Kunden liefern. Das zumindest ist seit Ende Januar die offizielle Vorgabe des Kreml. Ursprüngliche Pläne sahen sogar den Bau von über 1.000 neuen Flugzeugen vor.

63 neue Verkehrsflugzeuge soll Aeroflot schon in den Jahren 2023 bis 2025 übernehmen, darunter 34 Superjets, 18 MS-21 und 11 Tu-214. Allein dieser Teil des Beschaffungsauftrags wird mit umgerechnet 2,4 Milliarden Euro aus Staatskrediten mit-finanziert, die zu Vorzugszinsen und – ohne die sonst üblichen Anforderungen an die Projektrentabilität – mit Erleichterungen gewährt werden.

700 Flieger – trotz Sanktionen?

Schon rein mengenmäßig erfordert der Auftrag für 700 Luftfahrtzeuge (die Airbus in einem Jahr produziert) eine logistische und technische Meisterleistung mit wesentlichen Produktionserhöhungen und einem deutlichen Ausbau der einheimischen Luftfahrt-Zulieferer. Diese hatten sich seit dem Ende der Sowjetunion oft aus der Luftfahrtbranche in andere, lukrativere Bereiche, wie etwa die Autoindustrie, umorientiert.

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Die russische Luftfahrtbehörde Rosawiazija hat die MS-21 vor dem Jahreswechsel auch zum Betrieb bei extrem niedrigen Temperaturen freigegeben.

Sorgenkind MS-21

Noch schwieriger wird das Vorhaben aber durch die Vorgabe der "Importsubstitution". Dieser Begriff bedeutet, dass ausländische Partner und Zulieferer, sie unterliegen westlichen Liefersanktionen wegen des Ukraine-Krieges, komplett durch einheimische, russische Lieferanten abgelöst werden müssen. Das zwingt besonders Russlands potenziellem neuem Verkehrsflugzeugstar MS-21 eine logistische Kehrtwende auf. War der moderne Zweistrahler doch gerade erst als "das Beste aus beiden Welten" und als Vorzeigeprojekt der Ost-West-Kooperation konzipiert worden: modernste Getriebefans aus dem Westen, kombiniert mit einem besonders geräumigen, aber leichten Metallrumpf, dazu ein Glascockpit mit neuesten elektronischen Zutaten aus dem Westen und mit einem schmalen Kohlefaserflügel hoher Streckung aus westlichem CFK. Entwickelt im Konstruktionsbüro Jakowlew und gebaut vom sibirischen Flugzeughersteller Irkut. Die MS-21-300 hat etwa die Größe einer Boeing 737 MAX 9, also leicht unterhalb der A321neo, und sollte später noch einmal leicht verkürzt werden. Doch die bisherigen Partner aus USA, EU, Japan, Schweiz und Ukraine liefern nicht mehr zu, der vielversprechende Twin muss deshalb komplett ohne westliche Zutaten in Serie gehen. Das betrifft nicht nur die Triebwerksversion der MS-21-300 mit PW1400G-Getriebefans, die durch die "MS-21-310RUS" mit Awiadwigatel-PD-14-Turbofans ersetzt wird, sondern auch große Teile der Avionik und das CFK-Material der Flügel, das künftig allein aus Russland bezogen wird und nicht mehr von Hexcel (USA) und Toray (Japan).

© Rostec

Die mit neuen Triebwerken modernisierte Il-76MD-90A von Aviastar.

Niedrige Produktionsrate

Wenige Tage vor dem Rüffel des Präsidenten war Minister Manturow mit einer Test-MS-21 aus Moskau-Schukowski nach Uljanowsk geflogen, wo ihm der Chef der Flugzeugbauholding United Aircraft Corporation (UAC), die der staatlichen Rüstungsholding Rostec untersteht, im Flugzeugwerk PJSC II-Aviastar in Uljanowsk die dort neu aufgebaute Endmontage der Iljuschin Il-76 zeigte. Die Pläne des zu früheren Sowjetzeiten im usbekischen Taschkent gebauten Vierstrahlers wurden durch UAC in elektronische Konstruktionssoftware übernommen, und das Flugzeug wurde mit modernen, russischen PS-90A-76-Triebwerken für mehr Reichweite und Nutzlast erfolgreich grundmodernisiert. Außerdem wurden ein Glascockpit, ein digitaler Autopilot und neue Funkgeräte installiert. Von der erneuerten Version Il-76MD-90 könnten dank Erweiterungen nunmehr bis zu fünf Militärtransporter im Jahr gebaut werden, meldete Aviastar-Werksdirektor Sergej Scheremetow. Die Transporter werden nicht mehr wie einst in separaten Produktionsbuchten, sondern schneller auf einer Taktstraße montiert, wo die Sektionen per Lasertechnik zur Endmontage ausgerichtet werden.

Die Zahlen bleiben klein

Doch die immer noch geringe Produktionsrate des inländisch belieferten, etablierten Sowjet-Transporters zeigt, wie schwierig eine nennenswerte Produktionssteigerung ist. Selbst ein riesiges und erfahrenes Flugzeugwerk wie Aviastar schafft unter Dringlichkeitsbedingungen – nicht einmal zum Jahreswechsel gab es freie Tage – nur eine Handvoll Jets pro Jahr. Zum Vergleich: Airbus hatte allein von der A400M bis zu 15 Flugzeuge im Jahr gebaut (2018), die keineswegs der einzige westliche Militärtransporter ist.

© Rostec

Die MS-21 hat Belastungstests mit ihrem neuen Flügel aus russischem Verbundwerkstoff-Material bereits bestanden.

Neue Zulassungen und extreme Tests für MS-21

Unterdessen hat die russische Luftfahrtbehörde Rosawiazija am 29. Dezember 2022 den im Sommer 2021 angeordneten Umbau der MS-21-310 auf rein russische Triebwerke und den Flügel aus einheimischem Kohlefaser-Verbundwerkstoff mit ihrer Änderungszulassung "FATA-01010A" genehmigt. Außerdem wurde der zugelassene Betriebsbereich der MS-21 auf extrem niedrige Temperaturen ausgedehnt. Vorausgegangen waren Belastungstests im Moskauer Forschungsinstitut ZAGI, wo eine MS-21 absichtlich bis zum Bruch überlastet wurde und ein separater Test-Flügelkasten die Lasten einer simulierten Notlandung mit sehr hoher Sinkrate bestehen musste. Dabei soll das Fahrwerk bei zu harten Landungen gezielt und sauber von der Zelle abscheren, statt diese zu beschädigen. Alle Festigkeitsvorgaben seien bestätigt worden, vermeldete Rostec. Außerdem waren 2022 mehr als 160 Testflüge mit dem auf PD-14-Triebwerke umgerüsteten MS-21-Prototyp "73055" durchgeführt worden. Derweil fliegt dessen Schwester "73361" auch schon mit dem russischen CFK-Flügel.

Mehr Gehalt und neue Freileitungen

Die der UAC übergeordnete Rüstungsholding Rostec gab bekannt, das Triebwerk PD-14 habe "die Fähigkeit nachgewiesen, die Charakteristik der ausländischen Konkurrenten zu erreichen." Dennoch ist eine Indienststellung der MS-21-310 vor 2025 kaum zu schaffen. Für die Serienfertigung der MS-21 wird das Flugzeugwerk Irkutsk bereits modernisiert. Die Maßnahmen reichen bis zu neuen Hochspannungsfreileitungen zu dem sibirischen Werk. Dessen Arbeitskräftebestand soll für die MS-21 um 4500 Mitarbeiter wachsen. Sie sollen im Rahmen eines fünfjährigen Personal- und Karriereprogramms auf einer eigenen Irkut-Betriebsakademie "Irkutsk Aircraft Engineering and Materials Processing College" qualifiziert, aber auch aus anderen Landesteilen abgeworben werden. Der durchschnittliche Monatslohn der Irkut-Flugzeugbauer soll dafür auf 100 000 Rubel (1400 Euro) erhöht werden. Das russische Kabinett hatte erst im Oktober 15 Milliarden Rubel (umgerechnet 210 Mio. Euro) für den Ausbau der zivilen Flugzeugproduktion bereitgestellt. Diese Mittel werden über Rostec an die Werke geleitet, insbesondere um dort Vorauszahlungen für die Anschaffung technischer Ausrüstungen leisten zu können. Laut einem neuen Plan soll künftig auch das Flugzeugwerk JSC Aviakor in Samara Zulieferer für Kabinenfenster der MS-21 und des SSJ werden und dazu von 2022 bis 2031 für umgerechnet 900 000 Euro ausgebaut werden. Über 11 000 Fenster sollen an der Wolga hergestellt werden, von denen die ersten schon geliefert wurden.

© Flughafen Chabrowo

„Väterchen Frost“ bei einer Stippvisite in Kaliningrad mit der MS-21.

Zulassung bis Ende 2024

Kurz vor Jahresende wagten die russischen Flugzeugbauer sogar ein PR-Event: Am 23. und 27. Dezember flog eine MS-21 mit spezieller Neujahrslackierung aus Moskau jeweils nach Nischni Nowgorod und Kaliningrad und brachte ein paar als "Väterchen Frost" und "Schneeflocke" verkleidete Schauspieler zu atheistischen Festsaison-Kurzbesuchen an die "Neujahrsbäume" der beiden Städte und zurück.

"Die genehmigten Änderungen für das einheimische Triebwerk und den Flügel sind ein wichtiger Meilenstein für das Projekt MS-21 und die Grundlage für die spätere Importsubstitution aller Flugzeugkomponenten", sagte UAC Generaldirektor Juri Sljusar. Man werde diese Systeme im laufenden Jahr im Flug testen, um die Zulassung einer voll- ständig russischen MS-21 bis Ende 2024 zu schaffen. Dafür stehen bisher sechs Testflugzeuge bereit, von denen fünf im Dezember in der Luft waren. Am 25. Dezember 2024 ist nach aktuellem Stand die amtliche Zulassung geplant. Innerhalb von fünf Jahren soll die MS-21-310RUS-Serienproduktion auf 72 Flugzeuge pro Jahr wachsen, so der Plan.

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