Nach der Maisfeld-Bauchlandung eines Airbus A321 der Ural Airlines bei Moskau wird Pilot Damir Yusupow zu Hause als „russischer Sully“ gefeiert. Dabei hat auch Russlands Luftfahrtgeschichte spektakuläre Notlandungen mit Passagierflugzeugen zu bieten. Drei Beispiele.
„Das Wunder auf der Newa“, 21. August 1963
Am Morgen des 21. August 1963 macht sich eine Tupolew Tu-124 der Aeroflot mit 45 Passagieren an Bord auf den Weg von Tallinn nach Moskau-Wnukowo. Der innersowjetische Kurzstreckenflug startet um 8:55 Uhr Ortszeit, doch schon kurz nach dem Start bemerken Pilot Victor Mostowoj und seine Crew ein Problem: Das Bugfahrwerk klemmt – es lässt sich nicht einfahren, scheint aber auch nicht mehr eingerastet zu sein. Da in Tallinn dichter Nebel herrscht, steuert Mostowoj für eine Notlandung das 320 Kilometer entfernte Leningrad an (heute St. Petersburg). Dort will er das Flugzeug auf einer Schotterpiste außerhalb der Stadt landen – auf dem Bauch, wenn nötig.
Die Tu-124 ähnelte der größeren Tu-104, war aber speziell für Kurzstrecken entworfen worden, auf denen sie die Iljuschin Il-14 ablösen sollte. 165 Tu-124 wurden gebaut.
Über Leningrad dreht die Tu-124 mehrere Schleifen in 500 Metern Höhe, um Kerosin zu verbrennen. Offenbar verbrennt sie dabei zu viel, denn als sie gerade ihren achten Kreis fliegt, geht plötzlich das linke Triebwerk aus. Und obwohl die Spritanzeige im Cockpit noch eine Tonne Restvorrat suggeriert (ein Fehler, wie sich später herausstellt), verabschiedet sich wenig später auch das rechte Triebwerk, mitten über dem Stadtzentrum. Die Landebahn ist mit rund 13 Kilometern zu weit entfernt – also trifft der 27-jährige Pilot Mostowoj eine riskante Entscheidung: Er will die Maschine auf dem Fluss Newa landen, der Leningrad durchfließt und im angepeilten Bereich etwa 300 Meter breit ist, wohlwissend, dass mehrere Brücken ihm dabei in die Quere kommen. Und so schwebt die Tu-124 (Kennzeichen CCCP-45021) wenig später dicht über der Bolscheochtinski-Brücke ein, streift um ein Haar die gerade im Bau befindliche Alexander-Newski-Brücke – und setzt schließlich, mit dem Heck zuerst, stromaufwärts auf der Newa auf. Keiner der 52 Insassen kommt ernsthaft zu Schaden, obwohl der Rumpf sich nach der Landung mit Wasser füllt: Ein zufällig in der Nähe fahrendes Schleppboot zieht das Tupolew-Wrack an Land, wo Passagiere und Besatzung die Maschine wohlbehalten verlassen können. Pilot Mostowoj und seine Crew erhalten einen Orden. Von jeglicher Mitverantwortung für den Vorfall werden sie freigesprochen – vor allem aus Propagandagründen, wie mancher heute meint.
Glücklicherweise befand sich ein Schleppboot (Baujahr 1898) in direkter Nähe zur gewasserten Tu-124 und zog das Flugzeug an Land. Von dort aus brachte ein Bus die Passagiere wenig später zum Leningrader Flughafen...
Alrosa Flug 514, 7. September 2010
Die Tupolew 154M RA-85684 der sibirischen Airline Alrosa ist am 7. September 2010 mit 81 Menschen an Bord von Udatschny nach Moskau-Domodedowo unterwegs. Das Flugzeug befindet sich im Reiseflug auf 10600 Meter, als ein Stromausfall die gesamte Elektronik lahmlegt. Navigationssystem und die elektrischen Kraftstoffpumpen, die den Sprit aus den Flügeltanks in den zentralen Rumpftank leiten, quittieren ihren Dienst – der Crew um die beiden Piloten Andrej Lamanow und Jewgeni Nowoselow bleiben somit 3300 Kilogramm Kerosin, um einen geeigneten Platz zum Landen zu finden. Bei der Tu-154M reicht diese Reserve für etwa 30 Minuten. Eher suboptimal, mitten über den Urwäldern Nordwestrusslands.
Da entdecken die Piloten unter sich einen – ganz offenbar verlassenen – Flugplatz. Es ist der Airport von Ischma in der Republik Komi, der seit 2003 für Flugzeuge geschlossen ist und nur noch für Hubschrauberflüge genutzt wird. Aus den Karten wurde das Flugfeld längst gestrichen, doch seine 1300 Meter lange Runway existiert noch immer, die Piloten können sie sehen. Eine Tu-154M benötigt zum Landen im Normalfall allerdings gut 2000 Meter. Außerdem hat der Stromausfall nicht nur Navigation und Spritpumpen lahmgelegt, sondern auch Funk, Vorflügel und Landeklappen (die funktionieren zwar hydraulisch, werden aber elektrisch geschalten). Doch zum Lamentieren bleibt keine Zeit: hier oder nirgendwo!
Die Tu-154M RA-85684 wurde 1990 gebaut. Spezialisten reparierten sie nach der Notlandung in Ischma und flogen sie aus. Bis September 2018 war sie bei Alrosa im Dienst.
Mit zwei Anflügen stimmen sich die Piloten auf die Herkulesaufgabe ein, ihre angeschlagene Tu-154 auf der viel zu kurzen Runway zu landen. Beim dritten Mal schließlich gilt es: Mit einer Landegeschwindigkeit von 350 km/h bis 380 km/h (normal wären etwa 250 km/h) rast die Tupolew auf den Flugplatz zu, überfliegt die Pistenschwelle – und setzt auf. Schubumkehr und Bremsen sollen die Maschine im Zaum halten, aber sie ist zu schnell, die Landebahn reicht nicht aus. Erst 160 Meter hinter der Bahn kommt der Dreistrahler zum Stehen, ausgebremst durch Büsche und Matsch. Doch das Husarenstück ist geglückt: Alle 81 Personen können das Flugzeug ohne Blessuren verlassen. Die Piloten werden später von Präsident Medwedew zu „Helden der Russischen Föderation“ ernannt – und die Tupolew wird an Ort und Stelle repariert. Am 24. März 2011 verlässt sie Ischma auf dem Luftweg ins nahegelegene Uchta. Nur 800 Meter Startstrecke brauchen die Testpiloten dabei. Frisch aufgetankt, fliegt sie weiter von Uchta nach Samara, wo sie letzten Reparaturen unterzogen wird. Dann kehrt sie zurück zu Alrosa in den Liniendienst. Am 29. September 2018 schließlich tritt die RA-85684 ihre letzte Reise ins Museum nach Nowosibirsk an – natürlich wieder auf dem Luftweg.
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Orenair Flug 554, 10. Februar 2016
Vollbesetzt mit 355 Passagieren und 20 Besatzungsmitgliedern macht sich am 10. Februar 2016 eine Boeing 777-200 der Orenair auf den Rückflug von Punta Cana (Dominikanische Republik) nach Moskau. Die Maschine mit der Kennung VP-BHB ist vor ihrem Aufbruch in die Karibik in Domodedowo von Lufthansa Technik gecheckt und technisch für einwandfrei befunden worden. Doch mitten im Steigflug auf dem Weg zurück nach Hause, auf einer Höhe von knapp 3700 Metern, ist in der Kabine auf einmal ein Knall zu hören. Kurz darauf ertönt im Cockpit ein Feueralarm für das rechte Triebwerk. Aus der Kabine wird Rauch gemeldet. Die Piloten entscheiden sich deshalb, sofort zum Flughafen Punta Cana zurückzukehren und direkt zu landen, ohne vorher Kerosin abzulassen.
Die VP-BHB war eine von drei Boeing 777-200, die Orenair besaß. Am 27. März 2016 stellte die Airline den Betrieb ein. Die VP-BHB fliegt immer noch.
Die Landung mit dem vollbesetzten, vollgetankten und damit übergewichtigen Zweistrahler gelingt, doch sie fordert ihren Tribut: Die Reifen überhitzen und gehen in Rauch auf, einige fangen sogar Feuer. Dennoch kommt die 777 sicher zum Stehen, alle Passagiere und die Crew können das Flugzeug über die Notrutschen verlassen. Die VP-BHB bleibt gut zehn Monate in Punta Cana und wird dort repariert, bevor sie am 9. Dezember 2016 nach Amsterdam aufbricht. Orenair hat nach Fusion mit Rossiya im März 2016 aufgehört zu existieren, doch die 777 ist seit 2018 wieder am Himmel unterwegs: sie fliegt heute für Ukraine International Airlines.
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