Schlangenbeschwörer: Das deutsche Flughafenchaos 2022

Rückblick auf ein turbulentes Jahr
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Das war das deutsche Flughafenchaos 2022

© Fraport 10 Bilder

Deutsche Passagiere stellte das Jahr 2022 vor besondere Herausforderungen: Das chaotische Wiederanlaufen der Flughäfen nach der Corona-Flaute führte zu stundenlangen Wartezeiten, fehlenden Gepäckstücken und unterbesetzten Sicherheitskontrollen. Die Flughäfen bekommen die Lage nur mühsam in den Griff.

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Nächtelange Wartezeiten vor Check-in, Gepäckschalter und Sicherheitskontrolle, ganze Wellen kurzfristig wieder gestrichener Flüge und Flugausfälle sowie teilweise chaotische Zustände bei der Sauberkeit – das war der nervenzehrende Alltag für Flugreisende in Deutschland im Jahr 2022. Urlauber bangten um ihre Pauschalreisen, Geschäftsleute um ihre abendliche Rückkehr an den Heimatort und Städtereisende um ihre Koffer.

Fairerweise muss man sagen, dass auch im Ausland, etwa in Amsterdam Schiphol oder London-Heathrow, der Wiederanstieg des Flugaufkommens nach Corona keineswegs problemlos bewältigt wurde; doch die neue deutsche Realität überraschte angesichts der hier zuvor jahrelang durchgehend guten gebotenen Leistungen an den Airports doppelt.

Personalmangel

"Es fehlt beim Fachpersonal am Boden und bei der Sicherheitsabfertigung", hatte Bundesverkehrsminister Volker Wissing am 29. Juni nach einem Treffen mit Innenministerin Nancy Faeser und Arbeitsminister Hubertus Heil als Ursache der Probleme ausgemacht, die in den Oster-, Sommer- und Herbstferien besonders schmerzhaft sichtbar wurden und bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch immer andauerten.

Während der für sie ruinösen Corona-Flaute hatten Flughäfen und Airlines aus Kostengründen schlagartig Personal abgebaut – zu radikal, wie sich nun herausstellt. Denn insbesondere erfahrene, altgediente und besser bezahlte Spezialisten, die man heute am dringendsten bräuchte, waren mit Prämien bevorzugt zum freiwilligen Ausscheiden verleitet worden. Nachdem sich der Luftverkehr mit dem Ende der Corona-Beschränkungen aber, eigentlich genau wie erhofft, erholte, reichte das noch verbliebene Personal nicht mehr aus, um das wieder schlagartig wachsende Aufkommen abzufertigen.

Das Institut der deutschen Wirtschaft schätzte den Personalmangel an den deutschen Verkehrsflughäfen schon im Sommer auf 7200 unbesetzte Stellen, vor allem bei den Bodendiensten. Auch der Flughafenverband ADV meldete ein Fünftel der Stellen als unbesetzt, Airlines sprechen von 15 Prozent Unterbesetzung bei ihrem Bodenpersonal.

© Flughafen Düsseldorf

Nicht nur im Terminal, sondern auch auf dem Vorfeldern herrscht Personalmangel.

Privatdienstleister sollen aushelfen

Während einst vor allem Flughafengesellschaften und Airlines das Personal an den Flughäfen stellten und es bedarfsgerecht in Spitzenzeiten intern verschieben konnten, ist heute eine Vielzahl privater Anbieter im Wettbewerb als Dienstleister bei der Abfertigung parallel aktiv. Diese Dienstleister erfüllen oft nur noch eine gezielte Aufgabe, zum Beispiel das Check-in. Mal schnell an anderer Stelle helfen, wie früher, können sie nicht.

Viele Bodenmitarbeiter waren in der nachfrageschwachen Corona-Zeit relativ grob gekündigt worden. Sie suchten sich, an einem deutlich bewerberfreundlicher gewordenen Arbeitsmarkt, erfolgreich neue Jobs und stehen jetzt nicht mehr für die Flughafenarbeit zur Verfügung. Hier rächt sich die vorher zu harte Gangart mancher Dienstleister.

Zudem hatten manche ihre Mitarbeiter durch immer nur stundenweise Beschäftigung systematisch von einer Festanstellung abgehalten. Damit waren die mittlerweile durch solide Mindestlohnvorgaben theoretisch gut bezahlten Flughafenjobs in der Praxis lange nicht so einträglich wie erhofft. Hier ist politische Steuerung gefragt, die anspruchsvollen Aufgaben im Schichtdienst am Flughafen auch tatsächlich fair zu entlohnen und nicht mehr nur auf Tagelöhnerniveau.

© Lufthansa

Tools wie die Gesichtserkennung am Gate sollen helfen, die Schlangen zu verkürzen.

"Pain Point" Sicherheitskontrolle

Einen ganz besonderen Flaschenhals in Deutschland bildeten auch die Sicherheitskontrollen. Sie dienen der staatlich angeordneten, hoheitlichen Aufgabe Luftsicherheit. Passagiere und Handgepäck müssen vor dem Betreten der "Luftseite" der Flughäfen auf verbotene Gegenstände im Handgepäck und am Körper durchsucht werden.

Die Bundespolizei lagerte die Ausführung dieser Kontrollen wegen Personalmangel an private Sicherheitsdienstleister aus, die jedoch beim Anschwellen der Passagierströme nicht schnell genug ausreichend Personal mobilisieren konnten. Immerhin dauert die obligatorische, aufwendige Zuverlässigkeitsüberprüfung "ZÜP" für Flughafenpersonal sechs bis acht Wochen. Deswegen fruchtete auch der im Sommerferienchaos aus dem Ärmel gezauberte Vorschlag nicht, als Verstärkung für die deutschen Personalengpässe kurzfristig bis zu 2000 türkische Flughafenarbeiter als Verstärkung nach Deutschland zu holen. Denn deren frühester Arbeitsbeginn wäre mit Überprüfung niemals vor dem Ende der Ferienreisewelle zu schaffen gewesen.

"Klar ist: Wir können keine Abstriche bei der Sicherheit machen. Sicherheitsrisiken einzugehen, nur weil man keine Fachkräfte hat, ist keine Option", hatte der Verkehrsminister gemahnt.

Lösungsansätze

Mit einer Vielzahl von Maßnahmen versuchten die Flughäfen, den aufbrandenden, öffentlichen Unmut wieder in den Griff zu kriegen: So wurden die sogenannten Priority Lanes an der Sicherheitskontrolle – normalerweise sind diese Vorrangspuren für Reisende höherer Buchungsklassen reserviert – oft für die Allgemeinheit geöffnet oder gezielt für Familien mit Kindern oder Hilfsbedürftige freigegeben. Am Flughafen BER wurden beim Projekt "Runway" sogar versuchsweise "Slots" für eine zusätzliche Kontrollspur vergeben. Nur wer als Passagier vorab einen Kontrolltermin ausgemacht hat, darf diese Spur in der vereinbarten Zeit nutzen, wobei deren besser geordneter Passagierstrom die Abfertigung beschleunigen soll.

Für die Masse der Normalreisenden blieb es vor allem beim Rat, Stunden früher zu erscheinen und das Bordgepäck schon vor der Sicherheitskontrolle auf überzählige oder unzulässige Gegenstände zu durchforsten, sodass nicht erst beim Auspacken am Scanner zeitaufwendig aussortiert werden muss. Außerdem wurden zusätzliche Packtische vor der Sicherheitskontrolle und mehrere Auspackstationen direkt vor dem Scanner aufgestellt, damit jeweils mehrere Passagiere zugleich ihre Garderobe ablegen können.

© FBB

Am BER sollen zusätzliche Packstationen helfen, den Ablauf bei der Sicherheitskontrolle zu beschleunigen.

Technische Helfer

Den größten Zeitgewinn würde aber eine neue Scannergeneration versprechen, die gefährliche Stoffe im Handgepäck ohne Auspacken aufspüren kann. Ob der Bund sich diese kostspieligen Geräte leisten kann und möchte, steht auf einem anderen Blatt. Die ebenfalls mit vielen Vorschusslorbeeren bedachten Körperscanner scheinen die Sicherheitskontrollen jedenfalls nicht entscheidend beschleunigt zu haben. Vielmehr reicht hier teilweise schon ein benutztes Taschentuch in der Hosentasche, um eine gelbe "Verdachtsmarke" zu erzeugen, was jedes Mal eine manuelle Nachkontrolle zur Folge hat.

Strategische Herangehensweise am FRA

Den strategischsten Lösungsansatz für die gegenwärtigen Abfertigungsprobleme entwickelte der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport: Die Hessen übernehmen zum Jahresanfang 2023 die Steuerung aller Luftsicherheitskontrollen an ihrem Flughafen vom Bund. Schon im Mai 2021 waren dazu die Ausschreibungen ergangen. Künftig wählt damit direkt der Flughafenbetreiber die zu beauftragenden Dienstleister aus und entscheidet, unter Beachtung polizeilicher Vorgaben, wieviele Spuren jeweils geöffnet oder geschlossen werden und welche stets vom Innenministerium zugelassenen Geräte aufgestellt und mit welchen Prozessabläufen diese optimal genutzt werden.

Unterdessen gründeten Fraport und Lufthansa Ende Oktober auch das Bodenabfertigungs-Joint-Venture "FraAlliance", das bei strategischen Themen im operativen Bereich die Zusammenarbeit zwischen Airline und Flughafen im Terminal 1 verbessern soll. Als erster Schritt werden bereits die aktuellen Wartezeiten an der Frankfurter Sicherheitskontrolle in die Lufthansa-App eingespeist. Durch eine bessere Analyse der Passagierströme sollen außerdem für eine Million Fluggäste durch die Vermeidung von Doppelkontrollen die Umsteigezeiten "signifikant" verkürzt werden.

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