Vom Flugtaxi bis zum Airliner: Wie Avionikhersteller das Fliegen mithilfe neuester Technologien sicherer, effizienter und nachhaltiger machen wollen.
Große Touchscreens und nur wenige Schalter, Knöpfe und Drehregler: Schon heute sehen viele Cockpits in Geschäftsreise- und Militärjets so aus. Dieses Bild wird sich aber auch zunehmend auf Airliner ausdehnen – sowie auf Hubschrauber und Lufttaxis. Denn die Avionik-Suiten der sechsten Generation, an denen beispielsweise Honeywell und Thales arbeiten, sind so ausgelegt, dass sie an verschiedene Größen und Typen von Luftfahrzeugen angepasst werden können.
Anthem von Honeywell wird seit September 2021 in der unternehmenseigenen Pilatus PC-12 im Flug getestet, zunächst noch aus Sicherheitsgründen in einer Hybrid-Variante mit einem zugelassenen Avionik-System auf der linken Seite. Im Mai 2023, nach mehr als 120 Hybrid-Flugstunden, flog die PC-12 erstmals ausschließlich mit Anthem.
Auch Thales erprobt seine neue Avionik-Suite FlytX seit September 2021 im Flug in einem Guimbal-Cabri-G2-Helikopter. Mehr als 200 Stunden sind dabei bisher zusammengekommen. "Wir arbeiten daran, FlytX für nächstes Jahr in einem anderen Fluggerät zu installieren", sagt Alain Senjean, Collaborative Avionics Product Lines Director bei Thales. Welches, wollte der französische Technologiekonzern noch nicht verraten.
Vernetzt mit der Cloud
Die neuen Avionik-Systeme zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie in einem größeren Umfang als bisher vernetzt sind. Anthem beispielsweise ist über das Internet verbunden mit einer Cloud. Das heißt, das System generiert und transferiert Daten von und zu Servern am Boden. Sie werden automatisch durch die Bord-Avionik oder bodenbasierte Anwendungen gespeichert und autorisierten Nutzern zur Verfügung gestellt.
Piloten können bereits zu Hause oder im Hotel ihren Flugplan auf ihrem Electronic Flight Bag (EFB), einem Tablet mit spezieller Software, erstellen und per Internet ins Flugzeug schicken, wo sie ihn später nur noch bestätigen müssen. Nach Angaben von Honeywell sollen so bis zu 45 Minuten Vorbereitungszeit pro Flug eingespart werden können. Im Cockpit gibt es einen eigenen, sicheren Browser. Darüber können die Piloten im Flug Webanwendungen von Drittanbietern nutzen, zum Beispiel das Flugplanungs- und Navigationstool ForeFlight oder die Wind- und Wettervorhersagen von Windy. "Wir versuchen nicht, das EFB zu ersetzen. Wir arbeiten mit EFB-Anbietern zusammen, um ihre Anwendungen in Anthem zu integrieren", sagt Vipul Gupta, Vice President und General Manager, Avionics Business Enterprise bei Honeywell Aerospace.
Interessant ist der Echtzeit-Datenaustausch – je nach verfügbarer Verbindung über WLAN, UKW, Mobilfunk oder Satcom – auch für das Maintenance-Personal und andere Dienstleister, beispielsweise die Bodenabfertigung oder Catering-Firmen. "Wir müssen nun herausfinden, was die Hersteller und Kunden noch gerne hätten und was wir anbieten können. Die Möglichkeiten sind endlos", so Gupta.
Auch FlytX von Thales integriert Daten aus der "offenen" Welt außerhalb des Flugzeugs in das Avionik-System. "Das ermöglicht der Besatzung beispielsweise, die im Missionsvorbereitungssystem ermittelten Wegpunkte direkt in das Flight Management System [FMS; d. Red.] einzuspeisen, was zu einer geringeren Arbeitsbelastung der Besatzung und einer höheren Effizienz der Mission führt", sagt Senjean. Auch Thales neues FMS namens PureFlyt ist kein geschlossenes System mehr, sondern ermöglicht beispielsweise die Nutzung von Echtzeit-Wetterinformationen.
Offene Systeme
"Als Basisdienst kann FlytX mit einem Open-World-Tablet verbunden werden und ermöglicht dessen Nutzung über seine nativen Cockpit-Schnittstellen und Displays", erklärt Senjean. "In einer erweiterten Funktion ermöglicht es die Kommunikation mit externen Anwendungen über ein Cybergateway." Dann können Anwendungen von Drittanbietern genutzt werden, zum Beispiel für die Flugvorbereitung sowie zur Flugroutenoptimierung. "Ein Beispiel für eine solche Anwendung ist die AvioBook-Lösung", so Senjean.
Wichtig ist beim Thema Vernetzung, dass die Avionik auch "offline" funktioniert. "Alle sicherheitskritischen Anwendungen befinden sich an Bord", sagt Gupta über Anthem. Um ein möglichst hohes Niveau an Cybersicherheit zu gewährleisten, nutzt Honeywell eine sogenannte Zero-Trust-Architektur. Sie arbeitet, vereinfacht gesagt, nach dem Grundprinzip "Glaube nichts ungeprüft".
Ein weiteres Merkmal der neuen Cockpits: Sie sind kleiner, leichter und energieeffizienter. Honeywell schätzt die Gewichtseinsparung von Anthem gegenüber dem Primus Epic auf 50 Prozent ein, Thales kommt nach eigenen Angaben auf 30 bis 40 Prozent im Vergleich zu aktuellen Systemen. Honeywell erreicht das nach durch neue Technologien wie System-on-a-chip, ein Konzept, bei dem alle oder große Teile der Funktionen eines programmierbaren, elektronischen Systems auf einem Chip realisiert sind. Dadurch seien niedrigere Betriebstemperaturen möglich, was wiederum dazu führt, dass nur eine passive Kühlung nötig ist, so Gupta. Eine dieser passiv gekühlten Rechner-Einheiten ist laut Gupta nur so groß wie ein Buch und könne an unterschiedlichen Stellen im Flugzeug verbaut werden, in einer Cessna 172 beispielsweise unter dem Pilotensitz.
Thales setzt auf eine starke Integration von Avionikanwendungen wie FMS, HTAWS (Helicopter Terrain Awareness and Warning System) und RMS (Radio Management System) innerhalb des Displays. "Unterdessen hat die Virtualisierung von Bedienfeldern, die von Tasten zu Touch-Interaktionen übergeht, zu weiteren Gewichts- und LRU-Einsparungen [Line Replacable Units; Bauteile, die im Rahmen der Wartung vor Ort ausgetauscht werden können; d. Red.] geführt", so Senjean.
Intuitive Bedienung
Künftige Cockpits nutzen die neuesten Touchscreen-Technologien. Wo bisher begrenzte Texteingabe und simple grafische Menüs dominierten, kommen Visualisierungen und moderne grafische und gestenbasierte Methoden zum Einsatz – zum Beispiel Tippen, Wischen, Ziehen und Zoomen. "Es ermöglicht Piloten, sich schneller mit dem Cockpit vertraut zu machen", sagt Gupta. Zudem soll durch eine sinnvolle Anordnung der in der jeweiligen Flugphase wichtigsten Informationen das Situationsbewusstsein steigen, was der Sicherheit dient. "Wir haben sehr gutes Feedback von den Piloten", so Gupta. Künftig könnte sowohl in Anthem als auch in FlytX Sprachsteuerung integriert werden. Denkbar ist zum Beispiel, dass die über Funk gegebenen Anweisungen der Lotsen in Text bzw. Zahlen umgewandelt und in die Cockpitsysteme eingespeist werden. Die Piloten müssten diese Eingaben aber immer noch bestätigen.
Die ersten Kunden von Anthem sind die elektrischen Senkrechtstarter von Lilium, Vertical Aerospace und Supernal. Honeywell hat aber nach eigenen Angaben bereits zwei weitere Kunden aus dem Geschäftsreisemarkt gewonnen, die noch nicht genannt werden wollen. Honeywell erwartet die TSO-Zulassung (Technical Standard Order) der US-Luftfahrtbehörde FAA für Anthem 2024. Das System soll auch zur Nachrüstung erhältlich sein.
Airbus Helicopters und die französische Rüstungsbeschaffungsbehörde DGA haben FlytX 2019 für die H160M Guépard, die militärische Version der H160, ausgewählt. Auch Aura Aero’s elektrisches Regionalflugzeug ERA und das Luftschiff LCA60T von Flying Whales sollen mit FlytX ausgestattet werden. Als Retrofit wird die Avionik für Missionshubschrauber angeboten. Die Zulassung strebt Thales für Ende 2026 an. 2027 soll FlytX dann sowohl im Guépard-Hubschrauber als auch in ERA von Aura Aero in Dienst gehen.
Auch Collins Aerospace beobachtet den Trend zur Vernetzung und zu offenen Systemarchitekturen. "Wir glauben, dass sich offene Systemarchitekturen in allen kommerziellen und militärischen Bereichen als erfolgreich erweisen werden", sagt Chip Gilkison, Marketing Director, Military Avionics bei Collins Aerospace. Zukünftig würden Cockpits aus Funktionen von verschiedensten Anbietern bestehen, die sich durch den Einsatz offener Standards effizienter integrieren ließen. So können Upgrades und Updates schneller und kostengünstiger umgesetzt werden.
Anders als Thales und Honeywell hat Collins Aerospace derzeit offiziell keine neue Avionik-Suite in der Entwicklung. Allerding investiere man strategisch in zunehmende Automatisierung und sichere Konnektivität, um die Arbeitsbelastung der Piloten zu reduzieren, so Chuck Wade, Marketing Director, Business and Regional Avionics bei Collins Aerospace.
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