Saratov Airlines-Absturz: Vereiste Pitotrohre, Chaos im Cockpit

Abschlussbericht zum Saratov Airlines-Absturz
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Vereiste Pitotrohre und Chaos im Cockpit

© Alex Snow (CC BY-SA 4.0)

Der Absturz einer Antonow An-148 der Saratov Airlines im Februar 2018 war die Folge menschlichen Versagens. Das geht aus dem nun vorgelegten Abschlussbericht hervor. Demnach beging die Crew schon vor dem Flug fatale Fehler – und arbeitete am Schluss gar gegeneinander.

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Moskau-Domodedowo, 11. Februar 2018. Flug 703 der Saratov Airlines macht sich startklar für den anstehenden Inlandsflug ins 1600 Kilometer östlich gelegene Orsk in der Oblast Orenburg. Es ist ein typischer Wintertag mit trübem, grauem Himmel und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. An Bord der knallorange lackierten Antonow An-148 mit der Kennung RA-61704 befinden sich 65 Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder. Die Stimmung im Cockpit ist angespannt, die Crew der Antonow ist in Eille: Seinen vorangegangenen Flug beendete das Flugzeug mit saftiger Verspätung. Die dadurch verlorene Zeit möchten die Piloten nun wieder gutmachen, um möglichst pünktlich nach Orsk aufzubrechen. Entsprechend überhastet gehen sie die Checkliste für die Vorflugkontrolle durch. Dabei vergessen sie offenbar, die Heizung für die Pitotrohre am Bug des Flugzeugs anzuschalten, die diese vor Vereisung schützen soll. Eine Warnung, die beim Start auf dem Display erscheint und auf diesen Missstand hinweist, ignorieren sie ebenfalls – mit fatalen Folgen.

Keine Überlebenschance

Der Plan der Crew scheint zunächst aufzugehen: Um 14:21 Uhr Ortszeit hebt Flug 6W703 fast pünktlich in Domodedowo ab und nimmt Kurs auf Orsk. Doch in der Stadt am Ural kommt das Flugzeug nie an. Stattdessen endet die Reise sechs Minuten nach dem Start auf einem verschneiten Feld nahe des Dorfes Stepanowskoje. Der Aufschlag ist so heftig, dass die Maschine in unzählige Teile zerbirst. Noch in einem Kilometer Entfernung liegen die Trümmer. Für die Einsatzkräfte, die kurz darauf am Absturzort eintreffen, ist schnell klar: Hier gibt es keine Menschen mehr zu retten.

© IAC

Die Absturzstelle des Saratov-Fluges 703: Im Umkreis von einem Kilometer wurden Trümmer gefunden.

Abschlussbericht: Piloten verloren die Kontrolle

Als Grundübel des Unglücks machten die Unfallermittler des Interstate Aviation Committee (IAC) schon Mitte des vergangenen Jahres die Pitotrohre aus. Mangels angeschalteter Heizung vereisten diese nach dem Start und lieferten deshalb falsche Werte an die Fahrtmesser im Cockpit, was die Piloten verwirrte. Der nun veröffentlichte Abschlussbericht offenbart jedoch, dass auf den Kardinalfehler der Crew am Boden eine ganze Reihe weiterer Fehler in der Luft folgte, die letztlich in der Katastrophe mündeten. Während der letzten Sekunden von Flug 703 regierte im Cockpit demnach das nackte Chaos.

Abweichende Geschwindigkeitsanzeigen

Für zweieinhalb Minuten hat es den Anschein, als würde Flug 6W703 einen ganz gewöhnlichen Verlauf nehmen. Doch in einer Höhe von 1300 Metern meldet ein Alarmsignal plötzlich Unstimmigkeiten bei der Geschwindigkeitsanzeige: Die Fahrtmesser von Pilot und First Officer liefern abweichende Werte. Die Antonow setzt ihren Steigflug fort, doch schon wenige Sekunden später, die Flughöhe beträgt nun 2000 Meter, ertönt der Alarm erneut. Betrug der Unterschied beim ersten „Speed Disagree“-Alarm noch rund 10 km/h, fällt der Fahrtmesser des Piloten jetzt rapide ab, während die Anzeige des Copiloten steigende Werte liefert. Die Crew, unerfahren im Umgang mit einer solchen Lage und auch im Simulator nicht darauf vorbereitet, schaltet den Autopiloten aus und übernimmt selbst das Kommando.

© Papas Dos (CC BY 2.0)

Die Unglücksmaschine, RA-61704, wurde 2010 im russischen Woronesch gebaut, in Kooperation mit Antonow.

Sinkflug, Steigflug, Sturzflug

Doch anstatt das Flugzeug in die Horizontale zu bringen und sich einen Überblick über die Problemlage zu verschaffen, geht der Pilot als Reaktion auf den scheinbaren Geschwindigkeitsverlust direkt in einen 5-Grad-Sinkflug über – während der Fahrtmesser des First Officer weiter nach oben klettert. Wenig später steigt auch die Airspeed-Anzeige des Piloten wieder sprunghaft an. Auf Vorschlag des First Officer schaltet die Crew beide Triebwerke in den Leerlauf, gibt Vollgas und geht dann wieder in den Leerlauf. Das Flugzeug sinkt mit 1200 Metern pro Minute pro Minute weiter auf 1760 Meter, als auf einmal eine „overspeed“-Warnung ertönt. Die Piloten reagieren, indem sie die Maschine wieder steigen lassen. Als sie 1900 Meter erreichen, fällt der linke Fahrtmesser erneut ins Bodenlose. Dies veranlasst die Crew abermals zum Sinken, dieses Mal mit einem Neigungswinkel von 16 Grad. Über die noch immer auf dem Info-Display angezeigte Meldung, dass die Pitotrohr-Heizung nicht aktiviert sei, erfolgt laut Unfallbericht während all dieser Vorgänge im Cockpit keine Diskussion.

© IAC

Akribisch werteten die Unfallermittler des IAC Flugschreiber und Voice-Recorder aus und rekonstruierten den Unglücksflug vom Start bis zum Crash.

Mit 800 km/h in den Boden

Als seine Fahrtanzeige wenig später auf Null fällt, verliert der Pilot offenbar die Nerven: Er erhöht den Neigungswinkel des Flugzeugs auf 30 Grad – nun rast die Antonow mit einer Sinkrate von fast 3000 Metern pro Minute auf die Erde zu. In 1500 Metern Höhe ertönt im Cockpit erstmals das „Pull up“-Signal, doch die Maschine behält ihre Flugbahn bei. Als der Höhenmesser nur noch 1200 Meter anzeigt, greift der Erste Offizier eigenmächtig ins Steuer. Verzweifelt versucht er, die Maschine hochzuziehen – während gleichzeitig der Pilot sein Steuerhorn weiter nach vorne drückt. Der Eingriff des Copiloten bleibt wirkungslos, die Antonow rast weiter auf den Boden zu, bis sie in etwa 300 Metern Höhe die Wolkendecke durchbricht. Nun erkennt auch der Pilot sein fatales Handeln und reißt die Steuersäule ebenfalls zu sich heran. Doch zu spät: Trotz eines Lastvielfachen von 4,2 g, das nun auf das Flugzeug wirkt, schlägt die Antonow um 14:27 Ortszeit, Nase voraus, in 25-Grad-Rechtsneigung und mit einer Geschwindigkeit von fast 800 km/h südöstlich von Moskau in den Boden ein. Alle 71 Insassen sind sofort tot.

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