Die Auftragsbücher sind voll, doch die europäische Luftfahrtbranche kämpft nach wie vor mit angespannten Lieferketten. Wie ist der Hochlauf zu schaffen?
Bis 2026 will Airbus die monatliche Fertigungsrate auf 75 Flugzeuge der A320-Familie hochschrauben. Auch Boeing plant, sobald die Qualitätsprobleme überwunden sind, die Produktionsrate der 737 wieder hochzufahren, auf zunächst 38 Flugzeuge pro Monate ab dem zweiten Halbjahr 2024. Allerdings sieht sich derzeit jedes dritte Unternehmen der europäischen Luftfahrtindustrie nicht gut aufgestellt, um die anstehenden Produktionssteigerungen umzusetzen. Das ist das Fazit einer Umfrage der Unternehmensberatung Roland Berger in Kooperation mit dem Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie (BDLI) sowie den Luftfahrtverbänden aus Großbritannien, ADS, und Frankreich, GIFAS, die Anfang Juni vorgestellt wurde. Befragt wurden dafür rund 145 Unternehmen aus Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich.
Airbus will 2024 insgesamt 800 Flugzeuge ausliefern, die meisten davon sind A320.
Produktion stottert
"Die Aufholjagd nach dem Einbruch in den Coronajahren ist in vollem Gange und die Orderbücher der europäischen Luftfahrtindustrie sind entsprechend voll", sagt Stephan Baur, Partner bei Roland Berger. "Um diesen Auftragsbestand abzuarbeiten, muss die Anzahl der ausgelieferten zivilen Flugzeuge bis 2030 fast verdoppelt werden. Doch viele der Unternehmen, vor allem aus dem Kreis der kleinen und mittelständischen Zulieferer, sehen sich derzeit nicht in der Lage, ihre Produktion entsprechend hochzufahren." Mehr als 60 Prozent der befragten Unternehmen tun sich demnach schwer, die nötigen Fachkräfte für den Hochlauf zu finden, 40 Prozent beklagen, dass es an Kapital für Investitionen fehlt. 35 Prozent der befragten Firmen kämpfen mit mangelnden Produktionskapazitäten. Die seit Corona labilen und durch den Krieg in der Ukraine sowie die Spannungen zwischen den USA und China weiter gestressten Lieferketten beschäftigen die Luftfahrt noch immer. Zwei Drittel der befragten Unternehmen berichten von Produktionsstörungen durch Lieferunterbrechungen und bewerten deren Folgen als noch gravierender als 2023. Probleme bereiten unter anderem längere Vorlaufzeiten, eingeschränkte Materialverfügbarkeit, mangelnde Qualität der gelieferten Vorprodukte, Preissteigerungen und neue Regulierungen wie die EU-Chemikalienverordnung REACH. Besonders betroffen sind sogenannte Tier-1-Zulieferer, die ganze Systeme zum Flugzeug beisteuern. Dazu gehören beispielsweise Hersteller von Triebwerken, Fahrwerken, Avionik, Flugsteuerungssystemen und Kabinenausstattung sowie Strukturzulieferer.
Diehl Aviation gehört zu den wichtigen Zulieferern des A320-Programms und fertigt unter anderem Bordküchen.
Lokal statt Global
Die Umfrage ergab aber auch, dass nur die Hälfte der Unternehmen daran arbeitet, die eigenen Lieferketten so um- zustellen, dass sie widerstandsfähiger werden. 38 Prozent der befragten Firmen befinden sich immer noch im reaktiven Krisenmanagement. So sei es sehr schwierig für die gesamte Luftfahrt-Lieferkette, die Hochlaufziele zu erreichen, da die Unternehmen voneinander abhängig seien, heißt es in der Studie. "Angesichts der Vielzahl an Krisen, denen die Unternehmen ausgesetzt sind, ist es nicht verwunderlich, dass die Zahl derer, die im Feuerwehr-Modus sind, gegenüber dem Vorjahr nochmals zugenommen hat", sagt Baur. Für eine langfristige Stabilisierung brauche es jedoch mehr Resilienz der Lieferketten. Die sei nur mit strukturellen Anpassungen zu er- reichen. Dazu gehört beispielsweise, auf Zulieferer aus dem eigenen Land, aus Nachbarländern oder Ländern in derselben Region zu setzen. Der BDLI hat die Initiative "AeroExcellence" gestartet, um Zulieferer dabei zu unterstützen, ihre Lieferketten zu optimieren. "Abgesehen von Maßnahmen auf der individuellen Unternehmens- ebene brauchen wir auch mehr europäische und internationale Kooperation in der Luftfahrtindustrie, um Lieferketten zu diversifizieren und so resilienter zu machen", so Stefan Berndes, Leiter Luftfahrt, Ausrüstung und Werkstoffe beim BDLI. Die schwierige Situation der europäischen Branche gelte es zu lösen, "um den positiven Schub aus dem Auftragsboom mitnehmen zu können".
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