Tiltrotor gegen Flugschrauber: Im Kampf um die Nachfolge des legendären Black Hawk-Helikopters hat die US Army die Qual der Wahl. Wo liegen die Stärken beider Konzepte? Wo die Schwächen? Und weshalb hat ein Hersteller bereits jetzt gewonnen? Wir haben die Antworten.
Mit dem im Jahr 2009 ins Leben gerufenen FVL (Future Vertical Lift) Programm des US-Verteidigungsministeriums sollen die gesamten Helikoptersysteme der Streitkräfte umfassend modernisiert und ersetzt werden. Während es in den letzten Jahrzehnten nur vereinzelt grundlegende Neuentwicklungen gab, sollten die neuen FVL-Helikopter im Hinblick auf Material, Kampfkraft, Technik und Fähigkeiten kollektiv eine neue Generation bilden. Die beiden wichtigsten Programme in diesem Komplex sind die Suche nach einem neuen Kampf- und Aufklärungshubschrauber (Future Attack Reconnaissance Aircraft, kurz FARA) sowie die Auswahl eines künftigen Transport- und Mehrzweckhelikopters (Future Long-Range Assault Aircraft, FLRAA).
Das FLRAA-Programm soll einen neuen Mehrzweck- und Transporthubschrauber (oder ein Kipprotorflugzeug) hervorbringen, das die Black Hawk ersetzt.
Welche Muster stehen zur Wahl?
Der Sieger im FLRAA-Wettbewerb soll die UH-60 Black Hawks der US Army sowie die UH-1Y Huey der Marineinfanterie ersetzen. Die beiden vom Department of Defense für eine Endausscheidung ausgewählten Designs sind die SB-1 Defiant X, eine Kooperation zwischen Sikorsky und Boeing, sowie der V-280 Valor von den Konkurrenten Bell und Lockheed Martin. Bei beiden Konkurrenten zeigt sich der Fokus auf Geschwindigkeit als Haupt-Designaspekt: Die V-280 Valor ist ein Schwenkrotor-Luftfahrzeug und ähnelt damit der bekannten und erprobten V-22 Osprey: die Drehung der Rotorebene um 90 Grad ermöglicht den Reiseflug als klassischer Turboprop, während VTOL-Fähigkeiten erhalten bleiben. Als Bonmot am Rande sei erwähnt, dass, egal welcher Entwurf das Rennen macht, Lockheed Martin so oder so auf der Siegerseite stehen wird. Schließlich gehört Sikorsky seit 2015 zur Unternehmensgruppe des Rüstungskonzerns.
Bell und Lockheed Martin setzen bei ihrem Entwurf V-280 Valor auf das Kipprotor-Design
Was kann die V-280 Valor?
Federführend bei der V-280 Valor ist jedoch nicht Lockheed Martin, sondern Bell. Die Texaner besitzen dank der V-22 Osprey bereits mannigfach Erfahrung in Sachen Kipprotorflugzeuge. Während die Osprey-Flotte lange Zeit mit Kinderkrankheiten zu kämpfen und einige Abstürze zu beklagen hatte, ist sie mittlerweile zu einem Rückgrat für den Transport, insbesondere von Marineinfanteristen, geworden. Bei Bell und Lockheed Martin scheint deshalb überzeugt von der Bauart, hat das Konzept jedoch weiter verfeinert: Anders als bei der V-22, bei welcher die gesamte Einheit aus Motor, Getriebe und Rotor zum Wechsel des Flugmodus gedreht werden musste, sollen die Motoren bei der V-280 fixiert am Flügel bleiben. Möglich macht dies ein komplexes Getriebe, welches teilweise um den Motor herum rotiert und die Leistungsübertragung zum Rotor sicherstellt. Trotz des aufwendigeren Getriebesystems erhofft man sich bei den beteiligten Ingenieuren einen geringeren Wartungsaufwand, insbesondere was die Motoren angeht.
Laut Bell konnte die V-280 bei Testflügen bereits Geschwindigkeiten von über 560 km/h erreichen – kein Vergleich zu den 280 km/h Reisegeschwindigkeit der UH-60 Black Hawk. Bell verspricht viel und rechnet vor: Eine Verlegung von zwölf Soldaten oder mehreren Verwundeten soll bei einer Strecke von 830 Kilometern weniger als zwei Stunden dauern. Die Black Hawk müsste zweimal zwischentanken und das Ziel erst nach fünf Stunden erreichen.
Die Sikorsky/Boeing SB-1 Defiant X kommt als Flugschrauber mit Koaxialrotor und Druckpropeller.
Ist der Flugschrauber besser?
Während die V-280 Valor noch stark an bereits existierende Systeme wie eben die V-22 Osprey erinnert, haben Boeing und Sikorsky tief in die Trickkiste gegriffen und ein futuristisches Fluggerät abgeliefert. Ihre SB-1 (SikorskyBoeing-1) Defiant X ist ein mittlerer Transporthubschrauber mit doppeltem Hauptrotor sowie Druckpropeller am Heck. Die einzelnen Designkomponenten sind dabei keine revolutionären Neuentwicklungen. Während aber die russischen Militärhelikopter bereits seit längerer Zeit oft über einen doppelten Hauptrotor (Koaxialrotor) verfügen, war dies im Westen lange Zeit kein gewünschtes Design. Entwicklung sowie Wartung seien zu teuer und zu aufwendig, hieß es.
Die Vorteile liegen allerdings auf der Hand: ein entgegengesetzt drehender Koaxialrotor macht den Heckrotor entbehrlich. Dieser wird bei klassischen Helikopter-Konfigurationen benötigt, da die Erzeugung des Auftriebes davon abhängt, den Hauptrotor in sehr schnelle Drehung zu bringen. Gemäß den Gesetzen der Drehimpulserhaltung entsteht daraufhin im Rumpf ein entgegengesetztes Moment. Folge: Der Helikopter fängt an, sich schneller und schneller um die eigene Achse zu drehen – und stürzt schließlich ab. Ein Heckrotor ist daher notwendig, da er dem Moment des Hauptrotors etwas entgegensetzt und den Helikopter damit stabilisiert.
Variationen in der Drehzahl und den Blatt-Anstellwinkeln des Heckrotors können dann genutzt werden, um kontrollierte Drehungen zu ermöglichen. Wenn jedoch ein zweiter Hauptrotor eingebaut wird, welcher entgegengesetzt zum ersten dreht, heben sich die beiden Drehmomente auf: ohne Zutun eines Heckrotors bleibt der Helikopter stabil um die eigene Achse.
Druckpropeller als Ass im Ärmel
Um mit der Defiant X gegenüber dem Tiltrotor V-280 Valor konkurrenzfähig zu bleiben, mussten sich Sikorsky und Boeing etwas einfallen lassen. Da die SB-1 wegen ihres Koaxialrotors keinen klassischen Heckrotor benötigt, steht im Heck Volumen und nutzbares Gewicht zur Verfügung. Die logische Konsequenz: ein Druckpropeller, der die Reisegeschwindigkeit und Beschleunigung wesentlich erhöht und zudem ungekannte Anstellwinkel im Hover ermöglicht.
Durch den Druckpropeller, welcher über Getriebe sowie verstellbare Rotorblätter genau angesteuert werden kann, soll der SB-1 nicht nur hohe Geschwindigkeiten in der Spitze erreichen, sondern vor allem extrem agil sein. Bei Testflügen konnten bereits Geschwindigkeiten über 450 km/h erreicht werden – wobei dem Prototypen noch die Honeywell HTS7500-Triebwerke fehlen, die später einmal die Defiant X befeuern sollen. Aktuell fliegt der Testträger noch mit zwei T55-Turbinen, ebenfalls von Honeywell.
Die Vorzüge des Konzepts sind allerdings schon jetzt ersichtlich: Während klassische Helikopter je nach Geschwindigkeit recht lange brauchen, um ihr Momentum ab- bzw. aufzubauen, wird diese Aufgabe bei der Defiant X vom Druckpropeller übernommen. Auch ein "nose-down hover" soll möglich sein, versprechen die Hersteller: Dabei kann die Nase des Helikopters deutlich abgesenkt werden, obwohl das Luftfahrzeug still in der Luft steht. Dies ist bei normalen Helikoptern nur eingeschränkt möglich und soll die Manövrierfähigkeit sowie die Feinderkennung und -bekämpfung des Defiant X verbessern.
Die V-280 Valor wird wohl schneller sein als die Defiant X, ist technisch aber aufwendiger. Zudem benötigt sie zum Landen und Starten mehr Platz.
Vor- und Nachteile der Konzepte
Im Vergleich der beiden Prototypen zeigen sich also zwei grundlegend verschiedene Ansätze: Bell und Lockheed Martin sind überzeugt von der Bauform des Kipprotors, erhoffen sich insbesondere durch die Erfahrungen mit der V-22 Osprey eine Programmzusage. Ihr Prototyp dürfte am Ende auch der schnellere der beiden werden, jedoch wird man bei der Army sehr genau auf Themen wie Wartungsaufwand und Fehleranfälligkeit schauen. Auch der zum Landen und Starten benötigte Platz ist ein Faktor – etwa wenn es darum geht, in bewaldetem Gelände zu operieren. Hier ist die kompaktere SB-1 im Vorteil: Der Entwurf von Boeing und Sikorsky ähnelt in Form und Größe stark den heutigen Black Hawks. Die Konfiguration ohne Schwenken der Rotoren soll weniger aufwendig sein und dank Druckpropeller trotzdem hohe Geschwindigkeiten erreichen.
Obwohl noch keine Entscheidung für den neuen Transporthubschrauber der US Army und Marines gefallen ist, steht damit eins schon fest: Der Erbe der Black Hawk wird sehr, sehr schnell sein.
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