Russlands Ochotnik-Drohne flog bewaffnet in die Ukraine
Der Verlust der Stealth-Drohne S-70 Ochotnik über der Ukraine, von einem russischen Kampfjet abgeschossen, wird (nicht nur) in Russland weiter heiß diskutiert. Derweil zeigen Fotos von der Absturzstelle der S-70: Das unbemannte Flugzeug hatte Gleitbomben geladen.
Es ist eine Story, wie gemacht für Spekulationen: Ein russischer Kampfjet, allem Anschein nach eine seltene Suchoi Su-57, feuert in der Luft aus kurzer Distanz eine Lenkwaffe ab – und trifft damit, voller Absicht, eine noch seltenere russische Riesendrohne vom Typ S-70 Ochotnik. Und das nicht irgendwo im russischen Hinterland, sondern über der Ukraine, in einem der meist umkämpften Gebiete des Krieges, hinter den feindlichen Frontlinien.
Mitarbeiter ukrainischer Behörden untersuchten vor Ort in Konstantinowka die Wrackteile der Ochotnik und stellten sie sicher.
Wrackteile unter der Lupe
So geschehen am 5. Oktober in der Oblast Donezk, über der ukrainisch kontrollierten Stadt Konstantinowka. Dort regneten daraufhin die Trümmer des unbemannten russischen Nurflüglers vom Himmel, der sich offiziell nach wie vor im Prototypenstadium befindet und über den es bislang nur wenige wirklich handfeste Details gibt. Im Westen hegt man nun die Hoffnung, dass sich dies durch die Analyse der Wrackteile zeitnah ändert – und tatsächlich eilten Polizei und Armee in Konstantinowka schnell zur Stelle, um in den verkohlten Trümmern nach auswertbaren Teilen zu suchen.
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Es war wohl ein Prototyp
Durchs Internet geistert seither der O-Ton eines ungenannten ukrainischen Experten, die sagenumwobene S-70 Ochotnik sei "keine fortschrittliche Kampfdrohne", sondern gleiche eher "einem Segelflugzeug, mit grundlegenden Flugfähigkeiten und Funksteuerung." Diese anonymen Aussagen, weitläufig zitiert von diversen Medien, sind – zumindest zum aktuellen Zeitpunkt – allerdings mit Vorsicht zu genießen. Auch die Feststellung, dass das abgestürzte UCAV anscheinend keine radarabsorbierende Beschichtung besaß, lässt wenig Schlüsse auf den Rüststand einer (späteren) Ochotnik-Serienversion zu – die dürfte es, nach allem, was man weiß, nämlich noch gar nicht geben. Es ist nicht einmal klar, ob das abgeschossene Exemplar die für die Serien-Ochotnik eingeplante flache Schubdüse am Heck besaß, über die zum Beispiel der zweite Prototyp verfügt. Ein auf X kursierendes Bild, das ein Wrackteil mit der Aufschrift "S-70-4" zeigt, lässt sich so interpretieren, dass es sich bei der S-70 von Konstantinowka um den vierten Prototyp handelt. Tatsächlich wollte der Staatskonzern Rostec nach eigenen Angaben aus dem Frühjahr 2021 vier Test-Ochotniks bauen.
Dieses Bild zeigt die Reste des AL-41F-Turbofans der Ochotnik, die am 5. Oktober über der Ukraine von einer Su-57 abgeschossen wurde.
Mit Gleitbombe an Bord
Klar ist indessen, dass der Ochotnik-Prototyp nicht unbewaffnet über der Ukraine unterwegs war. Unter den Trümmern in Konstantinowka finden sich auch die Reste von mindestens einer Gleitbombe, mutmaßlich vom Typ UMPB D-30SN. Das deutet darauf hin, dass die Ochotnik tatsächlich auf einer scharfen Kampfmission unterwegs war und Ziele auf ukrainisch kontrolliertem Territorium attackieren sollte. Ob dies tatsächlich im Verbund mit dem Stealth-Fighter Su-57 geschah, von dem sie schließlich abgeschossen wurde, bleibt bislang unbestätigt. Dem russischen Kriegsreporter Aleksander Kots zufolge soll es solche gemeinsamen Kampfeinsätze von S-70 und Su-57 im Ukrainekrieg bereits gegeben haben.
Das ungleiche Duo sei "besonders effektiv, um die feindliche Luftverteidigung zu durchbrechen", schreibt Kots auf seinem Telegram-Kanal und spricht von mindestens zwei gemeinsamen Einsätzen, bei denen insgesamt "zwei Dutzend Ziele" getroffen worden seien. Die S-70 spiele in diesem Szenario die Rolle des "loyalen Flügelmanns" der Su-57, übernehme Aufklärungsaufgaben, gebe Zielbezeichnungen aus, sei aber auch selbst in der Lage, Angriffe "mit hochpräzisen Waffen" auszuführen.
Dieses Wrackteil gehört zu einer Gleitbombe, die von der Ochotnik mitgeführt wurde - wohl in der Absicht, sie auf ein ukrainisches Ziel zu werfen.
Unbemerkt im Luftraum
Selbstredend sind auch diese Ausführungen, wie immer in einem Krieg, mit Vorsicht zu genießen. Allerdings ist es durchaus bemerkenswert, dass die Ochotnik-Drohne und die Su-57 zusammen tief in einem Gebiet operierten, in dem die ukrainische Flugabwehr eigentlich in der Lage sein müsste, gegen russische Angreifer vorzugehen. Dennoch scheint das Duo unbehelligt über die Frontlinie gelangt zu sein, liegt doch der Absturzort der Ochotnik rund 20 Kilometer von selbiger entfernt.
Mikroelektronik aus Taiwan?
Offen bleibt außerdem weiter, warum genau der russische Kampfpilot seinen offenbar untreu gewordenen "loyalen Flügelmann" mit einer Luft-Luft-Rakete vom Himmel holte. Sowohl im Westen als auch in Russland herrscht hierzu die Ansicht vor, dass die Ochotnik im Einsatz mit einem Mal nicht mehr auf Befehle reagierte und stattdessen geradewegs in die Ukraine flog. Der Abschuss der Drohne diente aus russischer Sicht höchstwahrscheinlich der Schadensbegrenzung.
Über die Gründe für den Kontrollverlust wird leidenschaftlich spekuliert. Die Palette reicht von elektronischen Gegenmaßnahmen auf ukrainischer Seite, die den Kontakt zwischen Befehlsgeber und Drohne störten, über menschliches Versagen und Programmierfehler bis hin zu der These, die Elektronik des Ochotnik-Prototyps, die sich offenbar auf importierte Mikrochips aus Taiwan stützt, sei von westlichen Spezialisten gehackt worden.
"Kinderkrankheiten"
Der russische Telegram-Kanal Fighterbomber gibt sich, was die Ursachensuche angeht, optimistisch: "Die Telemetrie funktionierte, bis die Drohne getroffen wurde, sodass es möglicherweise möglich ist, die Ursache des Vorfalls zu verstehen." Auch Kriegsreporter Kots schreibt auf Telegram, die russischen "Ingenieure und Designer konnten Informationen erhalten, um künftige Geräteausfälle zu verhindern". So gesehen habe der Verlust der S-70 über der Ukraine auch sein Gutes: "Jede neue Waffe weist eine Reihe von Kinderkrankheiten auf, die nur durch den praktischen Einsatz identifiziert werden können", so Kots.
Eines allerdings dürfte, auch wenn viele Aspekte ungeklärt sind, anhand der bislang bekannten Details und Bilder außer Frage stehen: dass die S-70 Ochotnik noch weit davon entfernt ist, als vollwertig einsatzfähige Stealth-Kampfdrohne zu agieren.
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