Die Geheimküche der Bundeswehr
Am 7. Oktober 1982 feierte die Erprobungsstelle 61 der Bundeswehr ihren 25-jährigen Geburtstag. Die Vorgeschichte dieses deutschen Flugversuchszentrums begann schon in den 20er Jahren. Der Vertrag von Versailles verbot es dem Deutschen Reich, Flugzeuge zu bauen und zu besitzen. Aufgrund eines geheimen deutsch-russischen Abkommens stellte die Rote Armee ihren Flugplatz Lipezk der Reichswehr zur Verfügung. In relativ kurzer Zeit entstand dort, zirka 110 km nördlich von Woronesch, die geheime deutsche „Fliegerschule Stahr", benannt nach ihrem ersten Kommandeur, Major a. D. Stahr. In Lipezk wurde ab Sommer 1925 vor allem fliegendes und technisches Personal ausgebildet, gleichzeitig aber auch die militärische Brauchbarkeit neuer Flugzeugmuster untersucht.
Neues Flugerprobungszentrum
Hier ergaben sich jahrelange Erfahrungen. Im September 1933 kam schließlich das Ende für Lipezk, doch einige der dort erprobten Flugzeugmuster standen nunmehr bereit für die Vorbereitung ihrer Serienfertigung und Weiterentwicklung durch die Industrie. In Rechlin, einer kleinen Ortschaft am Südufer des Müritzsees in Mecklenburg, wurde ein neues Flugerprobungszentrum aufgebaut. Die Dynamik der damaligen flugtechnischen Entwicklung führte im Laufe der nächsten Jahre zur Errichtung mehrerer Außenstellen, für spezielle Aufgaben; zum Beispiel wurden Waffen in Tarnewitz erprobt, Seeflugzeuge in Travemünde, Torpedos und Gleitbomben in Gotenhafen. In Peenemünde-West gab es die E-Stelle der Luftwaffe und auch in Cazaux, südwestlich von Bordeaux, eine deutsche Erprobungsstelle. Das Flugversuchszentrum, auch Kommando der Erprobungsstellen genannt, blieb jedoch bis 1945 Rechlin. Dort wurden unter dem Schleier strengster Geheimhaltung neue Flugzeuge für die Luftwaffe unter härtesten Bedingungen getestet.
Bescheidener Anfang in Oberpfaffenhofen

Als die Bundesrepublik Deutschland in die NATO aufgenommen wurde, erhielt sie die Hoheit über ihren Luftraum mit den entsprechenden Verpflichtungen. Die zahlreichen Nachbauprogramme für die Luftwaffe machten auch wieder eine Erprobungsstelle erforderlich. Dies geschah im Oktober 1957, als ein Vorkommando von zwei Mann einen Teil der stark beschädigten Gebäude des früheren Flugfunk-Forschungsinstituts am Dornier-Werksflugplatz in Oberpfaffenhofen bezog. Es hatte die Aufgabe, mit der Errichtung einer vorläufigen Dienststelle zu beginnen und die endgültige Problemlösung in die Wege zu leiten.
Bald zeigte sich, dass Oberpfaffenhofen für eine leistungsfähige Erprobungsstelle nur ein Provisorium sein konnte, keinerlei Ausdehnungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Nach langen Überlegungen und nachdem sich andere Projekte als nicht realisierbar herausstellten, fiel im Juni 1959 die endgültige Entscheidung für das Gelände in Manching bei Ingolstadt. Parallel zu einer bereits vorhandenen Startbahn aus dem Zweiten Weltkrieg wurde für die E-Stelle im Frühjahr 1961 eine neue Startbahn geschaffen. Mit einer Länge von 3500 m und einer Breite von 60 m gehört sie zu den größten militärischen Startbahnen in Europa.
Auf- und Ausbau in Manching
Die Startbahnen verlaufen in Ost-West-Richtung. Zwischen ihnen wurden die ersten neuen Hallen und Gebäude errichtet, vorrangig die Messerschmitt-Werft für die Endmontage des Starfighters. Außerdem hatte der Entwicklungsring Süd hier eine Versuchsabteilung zur Flugerprobung des Senkrechtstarters VJ 101C. Der eigentliche Aufbau der E-Stelle in Manching konnte erst im Jahre 1963 mit der Erschließung eines angrenzenden Geländes beginnen, das heute eine Fläche von 300 ha aufweist. Die Bebauung ging in den nachfolgenden Jahren zügig voran, doch noch immer ist ein Ende nicht in Sicht. Das eindrucksvollste Gebäude der E-Stelle dürfte zweifellos die Rüsthalle sein, die bei einer Länge von 150 m und einer Tiefe von 60 m als die größte freitragende Halle Deutschlands gilt. Ihre 18 m hohen Tore lassen sich über die volle Hallenlänge verschieben und gestatten auf diese Weise die Unterbringung auch größerer Flugzeugmuster.
Die Hauptaufgaben der E-Stelle

Hauptaufgabe der E-Stelle 61 ist die technische Erprobung des gesamten fliegenden Geräts der Bundeswehr. Seit einer Neuorganisation im Jahre 1974 erfolgt sie im Zusammenwirken mit den Fachabteilungen des Bundesamts für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB) in Koblenz. Diese haben deshalb in Manching „Ausgelagerte Fachbereiche" mit zirka 90 Mitarbeitern eingerichtet. Als Erprobungsträger stehen 15 verschiedene Flugzeug- und Hubschraubermuster zur Verfügung, 35 bis 40 Maschinen insgesamt. Nur die beiden Hubschrauber der Marineflieger, Westland Sea Lynx und Sea King sowie der Fernaufklärer Atlantic sind nicht immer in Manching. Jährlich werden mindestens 3000 Flugstunden absolviert, davon mehr als die Hälfte in Form von Meßflugstunden.
Die Mehrzahl der Erprobungsaufgaben liegt gegenwärtig bei den Kampfflugzeugen Tornado und Alpha Jet, deren Truppeneinführung inzwischen angelaufen bzw. schon abgeschlossen ist. Im Vordergrund steht dabei besonders die Erprobung neuer Waffen und Avioniksysteme für diese beiden Muster. Doch auch die elektronische Kampfführung kommt nicht zu kurz. Sogar das Ultraleichtflugzeug Firebird wird von der E-Stelle zur Zeit auf seine Flugeigenschaften und -leistungen untersucht. Hinzu kommt noch das seit einiger Zeit laufende Programm der Kampfwertsteigerung von Phantom 11-Jägern und -Aufklärern für „Dual Role"-Einsätze.
Neue Waffen und Waffensysteme
Die Beschaffung von Waffen und Waffensystemen für die Bundeswehr unterliegt sehr strengen Bestimmungen. Aus den militärischen Anforderungen der Führungsstäbe an ein Gerät entsteht im BWB ein für die Entwicklung und Lieferung verbindliches Lastenheft. Vor Einführung des Geräts in Form eines Truppenversuchs bei Heer, Marine oder Luftwaffe werden meist mehrere Muster einer gründlichen technischen Erprobung unterworfen. Primäre Aufgabe ist es, die im Lastenheft aufgeführten technischen Forderungen mit den Tatsächlichen Leistungen des Geräts zu vergleichen. Dabei gewinnt der Erprobungsingenieur auch wertvolle Aufschlüsse über Konstruktion, Zuverlässigkeit, Bedienbarkeit und Fertigungstechnik des Prüflings. Das befähigt ihn zu einem Urteil über den Kampfwert des Geräts im Vergleich zu den entstehenden Kosten. Die Beurteilung führt zu Annahme oder Ablehnung oder Änderung der vorgelegten Muster. Auf eine Änderung muss in der Regel eine neue Erprobung folgen, was jedoch durch rechtzeitige Einflussnahme erfahrener Versuchsingenieure auf die Entwicklung weitgehend vermieden werden kann. Hat die Erprobung die Eignung des Geräts nachgewiesen oder ist mit einiger Sicherheit ein positives Urteil zu erwarten, so beginnt die Einweisung von Soldaten der entsprechenden Spezialeinheiten durch die E-Stelle. Anschließend kann der Truppenversuch vorbereitet und durchgeführt werden, wobei Manching dann auf Verlangen Amtshilfe leistet.
Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg

Für bestimmte Versuchsaufgaben und zur Entlastung des süddeutschen Luftraums müssen Erprobungen auch ins Ausland verlegt werden. Etwa 20 solcher „Auswärtserprobungen" sind es im Jahresdurchschnitt; unterwegs sind die Erprober aus Manching dabei durch ganz Europa, von Kreta über Sardinien, Frankreich bis Schottland, manchmal auch bis in die USA. Solche Einsätze sind für die Teilnehmer natürlich nicht nur eine besondere Herausforderung, sondern obendrein auch noch sehr reizvoll.
Die fliegenden Waffensysteme der jüngsten Generation wurden auf multinationaler Basis entwickelt, weiterentwickelt und beschafft. Dementsprechend wurde auch ihre Erprobung multinational durchgeführt. Bei der nicht immer einfachen, aber stets konstruktiven und zufriedenstellenden Zusammenarbeit ist die E-Stelle 61 im Laufe der Zeit zu enger Partnerschaft mit den französischen, englischen, italienischen und amerikanischen Flugversuchszentren gelangt. Die Kooperation aller staatlichen und industriellen Stellen ist auch über die Grenzen hinweg - mit klarer Abgrenzung der Verantwortlichkeiten - mehr denn je erforderlich. Sie hat sich schon hervorragend bewährt und wird auch weiterhin sorgfältig gepflegt. Was ihre Infrastruktur betrifft, so wird die E-Stelle bis Ende dieses Jahrzehnts weiter ausgebaut werden. Das gleiche gilt für die teilweise sehr kostspieligen Anlagen und Ausrüstungen, die zur Bewältigung neuer Erprobungsaufgaben dringend erforderlich sind. Sie werden jedoch mehrfach genutzt und sind somit relativ kostenwirksam. Fazit: Die Manchinger werden auch weiterhin gute Arbeit leisten.




