Schon Otto Lilienthal ließ sich von der Natur für seine Flugapparate inspirieren. In seinem 1889 erschienenen Buch „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ schrieb er: „Daß wir uns die Vögel zum Muster nehmen müssen, wenn wir danach streben, die das Fliegen erleichternden Prinzipien zu entdecken, und demzufolge das aktive Fliegen für den Menschen zu erfinden, dieses geht aus den bisher angeführten Versuchsresultaten eigentlich ohne weiteres hervor.“ Auch die Gebrüder Wright ahmten 1903 den Vogelflug nach und entwickelten verwindbare Tragflächen, mithilfe derer die Bewegung eines Flugapparates um die Längsachse kontrolliert werden konnte. Flügel, die sich an verschiedene Flugzustände und Geschwindigkeiten anpassen, sind schon lange Gegenstand der Forschung. Die Tragflächen heutiger Verkehrsjets sind nur für den Reiseflug optimiert. Eine geringe Wölbung und eine große Flächenbelastung sollen für möglichst wenig Luftwiderstand bei hohen Geschwindigkeiten sorgen. Für den Langsamflug bei Start und Landung sind Auftriebshilfen an Vorder- und Hinterkanten nötig.
Die Lösung könnten adaptive Flügel sein, wie sie beispielsweise die NASA seit drei Jahren an einer Gulfstream GIII im Flug erprobt. Der modifizierte Business Jet bietet vor allem im Landeanflug einen ungewöhnlichen Anblick. Keine Landeklappen fahren aus, auch keine Vorflügel, um den Auftrieb zu erhöhen und damit den Geschwindigkeitsverlust zu kompensieren. Stattdessen biegt sich ein Teil der Flügelhinterkante nach unten, ohne Spalt. Die flexiblen Hinterkanten sind das Ergebnis des Forschungsprogramms Adaptive Compliant Trailing Edge (ACTE / anpassbare, nachgebende Flügelhinterkante) der NASA und des US Air Force Research Laboratory. Im Sommer 2013 wurden die ursprünglichen, 5,80 Meter langen Aluminium-Landeklappen der GIII durch formveränderliche Klappen aus Verbundwerkstoffen ersetzt. Sie stammen vom US-Unternehmen FlexSys. Die Wölbung des Flügels kann mithilfe von Magnetaktuatoren von minus neun bis plus 40 Grad verändert werden. Die flexiblen Strukturen halten laut FlexSys bis zu 220 Millionen Verformungszyklen aus.
„Der adaptive Flügel soll ganz allgemein die Leistungsfähigkeit des Flügels erhöhen“, erklärt Dr. Markus Kintscher vom Institut für Faserverbundleichtbau und Adaptronik des Deutschen Zen-trums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig, das seit mehr als zwei Jahrzehnten an dem Thema arbeitet. Durch adaptive Flügel könnten verschiedene Ziele erreicht werden, beispielsweise eine Verringerung des Luftwiderstands und damit des Treibstoffverbrauchs. NASA-Studien gehen davon aus, dass ein Mittelstreckenflugzeug mit solchen Flügeln bis zu fünf Prozent weniger Kerosin verbraucht. Zudem wird eine Anpassung der Auftriebsverteilung möglich, was unter anderem für eine Verringerung von Böenlasten sorgen könnte. Klassische Flügel sind für größtmögliche Lasten ausgelegt und entsprechend schwer. Wenn es gelänge, die Wölbung der Tragfläche beim Flug durch eine Böe schnell zu verändern und den Auftriebspunkt zu verschieben, könnten Flügel deutlich leichter ausfallen.
Ein weiterer Vorteil formveränderlicher Flügel: Sie könnten vor allem im Landeanflug Lärm reduzieren, da keine Spalte zwischen Flügeln und Klappen Umströmungsgeräusche erzeugen. Diesem Thema widmeten sich die jüngsten Flugtests der NASA im Oktober 2017 am Armstrong Flight Research Center in Edwards, Kalifornien. „Die ACTE-Technologie reduziert als Nebenprodukt auch den Lärm, was gar nicht die ursprüngliche Absicht war“, sagt der Projektmanager Kevin Weinert. Nach Abschluss der Tests analysieren die NASA-Wissenschaftler nun die gesammelten Daten, um herauszufinden, wie hoch der Beitrag zur Lärmverringerung ist. Die ersten Anhaltspunkte seien vielversprechend. FlexSys spricht von bis zu 40 Prozent weniger Lärm.
Neue Materialien und Fertigungsmethoden
Nicht nur adaptive Flügelhinterkanten stehen im Fokus der Forscher. Das DLR begann vor einigen Jahren gemeinsam mit Industriepartnern wie Airbus, eine fugenlose und flexible Flügelvorderkante aus glasfaserverstärktem Kunststoff (Smart Droop Nose) zu entwickeln. Sie könnte einmal anstelle herkömmlicher Vorflügel eingesetzt werden. Die Droop Nose senkt sich mithilfe von integrierten Antrieben und Stützelementen entlang der Kante um bis zu 20 Grad ab. Dabei wird das Material nur gebogen, nicht gedehnt, um die Beanspruchung gering zu halten. Belastungstests und Windkanalversuche haben die Funktionsfähigkeit des Konzepts bereits belegt. „Aktuelle Projekte beschäftigen sich mit der Weiterentwicklung der Smart Droop Nose oder aber mit dem 3D-Druck von formveränderlichen Strukturen“, sagt Kintscher. Im neuen 3D-Druck-Labor AddComS (Additive Composite Structures) in Braunschweig kombinieren DLR-Forscher klassische Faserverbundfertigungstechnologien mit additiven Verfahren. So ist die Herstellung formvariabler Flügelkanten möglich, die über elastische, luftdruckgesteuerte Zellen verfügen.
Gleich die ganze Tragfläche verbiegen wollen die NASA und das Massachussetts Institute of Technology (MIT). Dazu wurde ein Flügel entworfen, der aus Bausteinen aus Kohlefaserverbundstoffen besteht. Darüber liegen sich überlappende Streifen aus einem flexiblen Material. Zwei Motoren steuern die Verdrehung der Flügelspitzen. Windkanaltests zeigten, dass die Aerodynamik der eines konventionellen Flügels entspricht – bei nur einem Zehntel des Gewichts.
Die Vorteile adaptiver Flügel liegen auf der Hand, doch es gibt noch einige Herausforderungen zu meistern. „In der heutigen Zeit wird sehr genau darauf geachtet, dass eine neue Technologie im Flugzeug nicht zu viel zusätzliches Gewicht mit sich bringt“, sagt Kintscher. Auch sollte die Komplexität des Systems im Vergleich zu vorhandenen Lösungen nicht allzu stark zunehmen. „Es gilt also für die Zukunft, vorhandene Sensoren und Aktuatoren zu nutzen, um einfache und robuste adaptive Strukturen für die Luftfahrt von morgen zu entwickeln“, so Kintscher.
FLUG REVUE Ausgabe 01/2018