Generalmajor Walter Rugen, Leiter des funktionsübergreifenden Future Vertical Lift Teams im Futures Command der US Army, lässt keine Zweifel: Das amerikanische Heer muss in der Lage sein, von Hawaii aus Kräfte schnell in den Indopazifik zu verlegen, um der chinesischen Herausforderung zu begegnen. "Die derzeitige (Hubschrauber-)Flotte kann das nicht leisten. Sie sind nicht schnell genug und können nicht lange genug fliegen", sagte er auf der Konferenz der Association of the United States Army in Washington. "Wir wollen außerhalb des Boden-Boden-Feuers und außerhalb der Reichweite ballistischer Mittelstreckenraketen sein", so Rugen, und trotzdem bei Gefahr schnell über große Distanzen eingreifen können.
FLRAA-Programm
Unter diesen Vorzeichen und den jüngsten Erkenntnissen aus dem Krieg in der Ukraine, wo sich konventionelle Hubschrauber über dem Gefechtsfeld als höchst verwundbar gezeigt haben, sind die aktuellen Vertical-Lift-Entwicklungsprogramme der Army – das Future Long Range Assault Aircraft (FLRAA) und das Future Attack Reconnaissance Aircraft (FARA) – wichtiger denn je. Die nach einigen Verzögerungen am 5. Dezember 2022 um 17:15 Uhr verkündete Entscheidung im FLRAA-Wettbewerb ist dabei "wirklich ein bedeutender Meilenstein und eine sehr wichtige Fähigkeit, die wir der Army liefern", betonte Generalmajor Robert Barrie, Programmbeauftragter für fliegendes Gerät im Redstone Arsenal.
Mit dem FLRAA sollen die Streitkräfte ein Fluggerät mit erhöhter Geschwindigkeit, Reichweite, Überlebensfähigkeit und Manövrierfähigkeit erhalten, das es dem US-Heer ermöglicht, die Überlegenheit gegenüber feindlichen Kräften in einem sich ständig verändernden Umfeld zu wahren. Es erlaubt den Einsatz von Kräften aus einem relativ geschützten Raum. "Diese Fähigkeit zur Beförderung mittlerer Lasten, zum taktischen Angriff und zur medizinischen Evakuierung soll die H-60-Black-Hawk-Hubschrauberflotte ergänzen und den Brigaden Langstrecken- und Hochgeschwindigkeitsoptionen bieten, die in umkämpften Umgebungen überlebensfähig sind", so die US Army – oder mit Generalmajor Rugen ganz simpel gesprochen: "Die FLRAA-Anforderungen ermöglichen es uns, eine sehr große Fähigkeitslücke in der Army zu schließen, nämlich die Durchführung eines Angriffs in Brigadegröße auch in der Nacht."

Bell setzte sich durch
Das Mittel der Wahl ist dabei ein über 520 km/h schnelles Kipprotorflugzeug. Genauer gesagt hat sich die Bell V-280 Valor gegen einen vom Team Sikorsky/Boeing vorgeschlagenen Koaxialrotor-Verbundhubschrauber (Defiant X) durchgesetzt. Welche Gründe dafür genau ausschlaggebend waren, will die Army nicht sagen, es sei um eine "bestmögliche Lösung" der Anforderungen gegangen. "Der Begriff ‚bester Wert‘ ist im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen, denn es handelt sich um eine umfassende Analyse einer Vielzahl von Faktoren, bei der nicht ein einziger Faktor ausschlaggebend war. Wenn man sich also – im Großen und Ganzen auf einem sehr hohen Niveau – die Faktoren oder Variablen der Leistung, der Kosten und des Zeitplans ansieht, wurden alle berücksichtigt, und die Kombination dieser Faktoren wurde explizit definiert und bewertet, und das Ergebnis ist das, was ich als besten Wert bezeichnen würde", so Generalmajor Barrie.
Höchstgeschwindigkeit und bessere Reichweite
Die V-280 Valor hat hier einige Vorteile zu bieten. Die Marschgeschwindigkeit soll zum Beispiel bei den schon genannten 520 km/h liegen (der Prototyp erreichte maximal 565 km/h) gegenüber vielleicht 460 km/h bei Defiant X. Auch die Reichweite dürfte mit einem Einsatzradius von 930 bis 1480 Kilometern und einer Überführungsreichweite von 3900 km deutlich besser sein. Zudem wurden im Entwurf viele Kritikpunkte eliminiert, die der V-22 Osprey das Leben schwer machen. Zum Beispiel sind die Proprotordurchmesser mit 10,7 Metern nur einen Meter geringer als die der im Senkrechtstart sieben Tonnen schwereren Osprey, was die Kreisflächenbelastung deutlich senkt. Ein wesentlicher Unterschied ist auch, dass die beiden an den Flügelenden montierten Rolls-Royce-AE-1107F-Triebwerke fest in horizontaler Lage eingebaut sind und im Schwebeflug nicht nach unten schwenken. Das verhindert Probleme mit angesengten Grasnarben und ausreichender Schmierung. Dafür musste ein neuer Getriebemechanismus für das Schwenken der Proprotoren konstruiert werden. In senkrechter Stellung liegt der komplexe Mechanismus frei im Luftstrom und ist Umwelteinflüssen wie Sand ungeschützt ausgesetzt, was allerdings angesichts der speziellen Umströmung in dieser Konfiguration vertretbar ist, so die Konstrukteure.

"Dicker Brummer"
Die aus Verbundwerkstoffen geklebten Tragflächen der V-280 haben eine relativ große Streckung und sind gerade und nicht leicht nach vorn gepfeilt. Das vereinfacht die Fertigung enorm und eliminiert auch die Notwendigkeit eines leicht über 100 kg schweren Zwischengetriebes für die Welle, mit der beide Triebwerke gekoppelt sind, sodass bei einem Ausfall immer noch beide Proprotoren angetrieben werden können. Der Rumpf berücksichtigt die Präferenz der Army für großzügige seitliche Ausstiegstüren – dummerweise genau im Bereich der Flügelmontage, was strukturell nicht einfach zu bewerkstelligen ist. Wie bei den aktuellen Mustern setzt Bell auf ein (einziehbares) Fahrwerk mit zwei Rädern vorn und zwei Heckrädern. Das Leitwerk ist in V-Form ausgeführt, was Gewicht spart. Natürlich hat die Valor ein Fly-by-Wire-Flugsteuersystem, dreifach redundant und mit vielen Automatikfunktionen. Im Cockpit kommt eventuell ein einziges, großes Panorama-Touchdisplay zum Einbau.
Die Kabine ist so ausgelegt, dass sie Platz für bis zu 14 voll ausgerüstete Soldaten bietet. Zur Besatzung gehören die beiden Piloten und zwei Bordschützen für die aus den vorderen Fenstern feuernden MGs. Mit einer Länge von 15,4 Metern, einer Höhe von 7 Metern und einer Spannweite über die drehenden Proprotoren von 25 Metern ist die 14000 kg schwere V-280 gegenüber einem Black Hawk ein dicker Brummer. Bell beruhigt allerdings: Auf einem Fußballfeld ließen sich acht Valors landen, deren Agilität auch im Tiefflug nichts zu wünschen übrig lasse.
Vorserienfertigung beginnt nicht vor 2028
All diese Eigenschaften und Leistungen kommen natürlich nicht zum Nulltarif. Die letzte bekannte Schätzung für den Preis einer Valor aus dem Jahr 2018 lag bei 43 Millionen Dollar. Bevor die Lieferungen beginnen können, steht nun erst einmal die Entwicklung der Serienausführung an, denn bisher flog ja nur ein Demonstrationsmodell, das bei Bell allerdings deutlich näher am Endprodukt gelegen haben soll, als bei Sikorsky/Boeing. Der am 6. Dezember erteilte Auftrag hat ein Volumen von 1,361 Milliarden Dollar, wobei zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe für die Jahre 2022 und 2023 Forschungs-, Entwicklungs-, Test- und Evaluierungsmittel der US Army in Höhe von 232,2 Millionen Dollar gebunden waren. Für diese 232 Millionen gibt es allerdings noch keine Prototypen. Vielmehr geht es um "modellbasiertes System-Engineering in einer digitalen Umgebung", was "ein Eckpfeiler dieses Programms" ist. Die vorläufige Entwurfsprüfung wird anhand von digitalen Daten ("ein gut definiertes und robustes digitales Modell des Systems") erfolgen. Erst danach folgt der Detailentwurf für die geplanten sechs Prototypen, die ab 2025 in die Flugerprobung gehen sollen. Ab 2028 könnte dann die Vorserienfertigung anlaufen, um ab 2030 den ersten mit der V-280 ausgestatteten Verband zu haben. Bis dahin sollen sich die Kosten auf etwa 7,1 Milliarden Dollar belaufen, was mit Optionen im Vertrag abgedeckt ist. Es geht aber um ein viel größeres Geschäft, "etwa 70 Milliarden Dollar, die davon abhängen, wie viele Flugzeuge die Army langfristig beschafft, einschließlich möglicher Verkäufe an ausländische Streitkräfte", so Generalmajor Barrie.