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Cockpit der Zukunft: Tippen, wischen, Finger spreizen

Immer größere Bildschirme und Bedienung durch bloßes Berühren: Bei den Cockpits künftiger Verkehrsflugzeuge lassen sich die Hersteller von Smartphones und Tablet-Computern inspirieren. Über das Internet sollen Piloten auf wichtige Echtzeit-Daten zugreifen können.

Cockpit der Zukunft: Tippen, wischen, Finger spreizen

Minimalistisch

Die Piloten lassen sich auf ihren Plätzen im Cockpit nieder, von vorne fahren vier große Bildschirme dicht an sie he-ran. Ein Schubhebel befindet sich in der Mitte zwischen ihnen, rechts und links gibt es Sidesticks zur Steuerung. Schalter, Drehknöpfe, ein Bedienpanel an der Decke sucht man hingegen vergeblich. Sämtliche Eingaben werden direkt auf den Monitoren gemacht, das Ganze erinnert an die Bedienung überdimensionierter iPads. Vom Kopfbügel der Headsets neigt sich ein kleines Display direkt vor das rechte Auge der Piloten. Darauf werden Aufnahmen einer Wärmebildkamera eingespielt und mit computeranimierten Geländedarstellungen fusioniert. Dieses Combined-Vision-System ermöglicht auch bei Nacht und schlechtem Wetter vollen Durchblick in alle Richtungen.

Was sich eher nach „Raumschiff Enterprise“ anhört, könnte bald schon Realität in Verkehrsflugzeugen sein. Zumindest, wenn es nach dem französischen Avionikhersteller Thales geht. Das futuristische Avionics-2020-Konzept wurde 2013 auf der Paris Air Show erstmals vorgestellt und seitdem weiterentwickelt. Schon in drei Jahren könnten das Cockpitdesign und die dahinterliegende Softwarelösung laut Thales in Dienst gehen. Simulationen und Flugtests wurden bereits durchgeführt.

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Ein Cockpit ohne Schalter und Drehknöpfe

„Die Einführung der Touchscreen-Interaktion wurde beispielsweise mithilfe einer um sechs Achsen beweglichen Plattform überprüft, die verschiedene Arten von Turbulenzen simulieren kann. Einige andere Funktionen wurden im echten Flug mit kleinen Flugzeugen getestet“, sagt Guillaume Lapeyronnie, Head of Marketing for Flight Avionics bei Thales. Einen Erstkunden soll es bereits geben. Um wen es sich handelt, wollte das Unternehmen aber auf Nachfrage der FLUG REVUE nicht preisgeben.

Avionics 2020 ist Thales‘ Antwort auf die Frage, wie die Bedienung künftiger Airliner einfacher, sicherer und besser vernetzt werden kann. „Wir haben festgestellt, dass die Luftfahrtindustrie rasant an die Grenze der Komplexität (…) kommt, die in aktuelle Cockpit-Architekturen integriert werden kann“, sagt Lapeyronnie. Heute hat fast jedes System im Flugzeug seine eigene Schnittstelle, sprich: eine eigene Anzeige und ein Bedienelement. Aus der Fülle an Informationen müssen die Piloten die jeweils relevanten herausfiltern.

Thales will mit Avionics 2020 weg von diesem Prinzip. Das gesamte Cockpit sei um die Bedürfnisse der Piloten herum aufgebaut. Das beinhaltet ergonomische Aspekte, aber auch ein „aufgabenorientiertes Design, das den Piloten ermöglicht, die richtigen Informationen zu erhalten, um die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit zu treffen“, so Lapeyronnie. Das soll die Arbeitsbelastung in den einzelnen Flugphasen verringern, das Situationsbewusstsein steigern und dadurch die Sicherheit erhöhen.

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Moderne Business Jets sind Technologie-Vorreiter

Intuitive Bedienung ist auch für Rockwell Collins von zentraler Bedeutung. Die in der Entwicklung befindliche Boeing 777X wird als erster Airliner überhaupt mit Touchscreens des US-Avionikherstellers ausgestattet. Den Vorteil sieht Jean Pierre Rivet, Direktor Marketing und Business Development, Commercial Systems bei Rockwell Collins, unter anderem darin, dass sich Piloten einfach und schnell mit der Bedienung vertraut machen können: „Die zugrundeliegende Philosophie lautet: ‚Berühre, was du ändern willst‘, zum Beispiel Höhe, Kurs, Geschwindigkeit.“ Dadurch könnte nicht nur die Ausbildung vereinfacht werden, sondern auch die Wartung und mögliche Upgrades, denn es müssen keine Anzeigen und Schalter ausgetauscht, sondern einfach eine neue Software-Version aufgespielt werden.

Die Bildschirme fürs Cockpit sind laut Rockwell Collins deutlich robuster als beispielsweise der Touchscreen eines Tablet-PCs. Immerhin müssen zwei Piloten simultan darauf arbeiten können, und die Vibrationen des Flugzeugs verlangen eine andere Art der Bedienung: Die Displays reagieren – anders als kapazitive Touchscreens von Smartphones  – nicht auf bloße Berührung, sondern auf Druck. Damit beispielsweise bei Turbulenzen nicht aus Versehen ein falsches Symbol angetippt wird, ist mehr als eine einzige Berührung des Bildschirms nötig. „Für sämtliche Touchscreen-Aktivitäten gibt es zudem Back-up-Steuerungen“, sagt Rivet.

Mit Touchscreens hat Rockwell Collins Erfahrungen, mehr als 100 Geschäftsreiseflugzeuge sind mit dem Pro-Line-Fusion-Cockpit mit berührungsempfindlichen Displays des Herstellers ausgestattet. Überhaupt sind viele der angedachten Neuerungen für Airliner bereits in der Business Aviation im Einsatz. Dort sind die Flugmissionen häufig komplexer, nicht selten muss der Flugplan während des Fluges verändert werden. Die künftigen Ultralangstrecken-Flaggschiffe des US-amerikanischen Herstellers Gulfstream, die G500 und G600, erhalten mit dem Symmetry Flight Deck auf der Basis des Honeywell Primus Epic das wohl modernste Cockpit, das heute verfügbar ist. Die vier 10 mal 13 Zoll großen Bildschirme direkt im Sichtfeld der Piloten (jeweils Primary Flight Display und Navigationsdisplay) sind konventionelle, farbige Flüssigkristallanzeigen (LCD). Neu sind hingegen zehn Touchscreens, die die wichtigsten Informationen je nach Flugphase darstellen. Sie ersetzen unter anderem die Funktionen der Multifunction Control and Display Unit (MCDU), der Ein- und Ausgabeeinheit des Flugmanagement-Computers.

Gibt es künftig nur noch einen Piloten im Cockpit?

Zudem führt Gulfstream bei der G500/G600 aktive Sidesticks ein. Jede Bewegung, ob vom Piloten oder Autopiloten ausgeführt, sieht und spürt der Copilot an seinem eigenen Stick und umgekehrt. Das dient vor allem dazu, die Koordination des Cockpitpersonals untereinander zu verbessern. Die Technologie findet bisher nur im militärischen Bereich Anwendung, unter anderem in der Lockheed Martin F-35. Als erstes Verkehrsflugzeug wird die russische Irkut MS-21 mit aktiven Sidesticks ausgestattet.

Neben neuer Hard- und Software spielt ein anderer Faktor für künftige Cockpits eine wichtige Rolle, sowohl in Business Jets als auch in Passagierflugzeugen: die Vernetzung. „Heute ist ein Flugzeug ein geschlossenes Ökosystem. Seine Instrumente stellen die Mehrheit der Daten zur Verfügung, die Piloten nutzen, um ihre Mission durchzuführen – mit einigen begrenzten Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt“, sagt Lapeyronnie. Durch den Ausbau von Breitband-Internettechnologien in der Luftfahrt sollen Flugzeuge künftig stärker mit der Flugsicherung, den Betriebszentralen der Airlines, Diensten von Drittanbietern und untereinander in Verbindung stehen. Echtzeit-Wetter, Verkehr auf der Strecke, Bedingungen am Zielflughafen: „Das bedeutet, dass ein Pilot nicht nur das weiß, was seine Instrumente ihm sagen, sondern auch, wie die Situation entlang seiner kompletten Route ist“, sagt Lapeyronnie. Das könnte nicht nur dabei helfen, Treibstoff zu sparen, sondern auch Kapazitäten im Luftraum und an Flughäfen besser zu nutzen.

Zusätzliche Echtzeit-Informationen und eine übersichtliche Datenaufbereitung auf großen Bildschirmen: Die Steuerzentralen der Zukunft sollen Piloten die Arbeit erleichtern, sie aber nicht durch zu starke Automatisierung übergehen. Dieser menschenzentrierte Trend wird aus Sicht der großen Hersteller auch die Cockpits der übernächsten Generation beeinflussen. Sie könnten sogar über Sprachsteuerung verfügen. Anstatt lange durch ein Menü klicken zu müssen, würde ein gesprochenes Stichwort genügen, um zur richtigen Stelle zu gelangen. Rockwell Collins und der US-Konzern Honeywell forschen daran bereits seit Jahren. Datenbrillen und Gestensteuerung könnten ebenfalls in den nächsten Jahrzehnten Einzug in die Zivilluftfahrt halten: „Wir können uns vorstellen, dass Cockpits in 30 Jahren vollständig entmaterialisiert sind und Virtual- und Augmented-Reality-Systeme zum Einsatz kommen“, meint Lapeyronnie.

Technisch wäre auch ein Ein-Mann-Cockpit machbar, wie jüngst das US-Luftfahrtunternehmen Aurora Flight Sciences zeigte. Sein Automatisierungssystem ALIAS (Aircrew Labor In-Cockpit Automation System), ein Roboter, flog und landete eine Boeing 737 erfolgreich im Simulator. Ob und wann solche Systeme in Verkehrsflugzeugen eingesetzt werden, ist aber noch unklar.

FLUG REVUE Ausgabe 07/2017

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