Colditz Glider: Kühner Fluchtplan mit Eigenbau-Gleitflugzeug

Colditz Glider
Kühner Fluchtplan mit dem Eigenbau-Gleitflugzeug

Veröffentlicht am 03.11.2024
Kühner Fluchtplan mit dem Eigenbau-Gleitflugzeug
Foto: Meiko Haselhorst

Fluchtgeschichten gibt es viele, vor allem das einst geteilte Deutschland kann auf etliche, teils spektakuläre Fälle zurückblicken. Jene, die das Land verlassen wollten, nahmen körperliche Strapazen auf sich, gruben Tunnel, schwammen durch Flüsse oder das Meer und mussten stets mit Entdeckung oder Tod rechnen. In der Minderheit sind indes jene, die versuchten, Grenzen auf dem Luftweg zu überwinden – teils mit selbst konstruierten Flugmaschinen. Eine jener Geschichten, in denen der Weg in die Freiheit durch die Luft führen sollte, trug sich aber noch im zweiten Weltkrieg zu, im deutschen Kriegsgefangenenlager auf Schloss Colditz.

Histovery

Eine britische Heldengeschichte

Ein Gleitflugzeug, gebaut aus Möbelteilen und Bettwäsche, sollte auf einer Rampe aus Tischen – montiert auf dem Dachfirst der Schlosskapelle – und beschleunigt mit Hilfe eines Seilzugs, an dessen Ende eine schwer beladene Badewanne hing, den Weg in die Freiheit bringen. Allein die Planungen für den Start klingen nach einem Himmelfahrtskommando. Wenn man sich allerdings anschaut, was die britischen Offiziere Bill Goldfinch und Jack Best in den Wochen und Monaten zuvor auf die Beine gestellt hatten, wäre es nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn sie den Flieger auch noch in die Luft bekommen hätten. In Großbritannien muss man die Heldengeschichte vom "Colditz Glider" nicht mehr erzählen, dort kennt sie fast jeder. Sie wurde sogar verfilmt. In Deutschland ist sie nicht ganz so verbreitet.

"Da steht das gute Stück", sagt Frank Modalek und muss erst mal ein bisschen durchschnaufen. Es sind einige Treppenstufen zu nehmen, bis man auf dem Dachboden von Schloss Colditz ankommt. Ein Weg, den die Erbauer des Flugzeugs jedes Mal hinter sich bringen mussten, wenn sie ihr streng geheimes Projekt weiter vorantreiben wollten. Die körperliche Ertüchtigung dürfte dabei allerdings ihr kleinstes Problem gewesen sein. Die Materialbeschaffung war die deutlich größere Herausforderung, ganz abgesehen von der ständigen Angst, erwischt zu werden. "Wir haben für unseren Nachbau Spannlack benutzt", sagt Modalek und streicht über eine Trag-fläche des blau-weiß-karierten Fliegers. Goldfinch und Best hatten damals nur Hirsebrei zur Verfügung. Aber wenn man die Geschichte schon erzählen möchte, sollte man’s von Anfang an tun…

Flugwelt Altenburg-Nobitz

Flugzeugbau im Lager für Offiziere

Schloss Colditz ist ein pittoreskes Renaissance-Gemäuer oberhalb der gleichnamigen Stadt im sächsischen Landkreis Leipzig. Zur Zeit des Nationalsozialismus diente es zunächst als Konzentrationslager für Andersdenkende jeglicher Art und schließlich im Zweiten Weltkrieg unter dem Namen "Oflag IVc" als Kriegsgefangenenlager für alliierte Offiziere. Die legendären Ausbruchsversuche der Colditzer Kriegsgefangenen haben das Schloss populär gemacht, vor allem in Großbritannien. Für die wohl bekannteste Geschichte sorgten die beiden Piloten Jack Best und Bill Goldfinch, die nach Fluchtversuchen aus anderen Kriegsgefangenenlagern in das stark bewachte Schloss gebracht worden waren. Der Legende nach waren es Schneeflocken, die im Aufwind der Zwickauer Mulde über das Schloss hinweggetragen wurden, die die beiden Briten auf die Idee brachten, mit einem selbst gebauten Segelflugzeug vom Dach aus zu starten und zu türmen – allerdings nur für den Fall einer absoluten Notsituation, wie zum Beispiel die Übernahme des Schlosses durch die gefürchtete SS.

Zusammen mit zahlreichen Helfern machten sich Goldfinch und Best an die Arbeit. Zunächst baute man eine Tarnwand, die einen Teil des Dachbodens für die geheimen Arbeiten abtrennen sollte. Die Briten nahmen an, dass die Wachen ohnehin eher damit beschäftigt waren, nach Fluchttunneln zu suchen. Eine Werkstatt unter dem Dach, so die Hoffnung der Flugzeugbauer, vermuteten die Deutschen eher nicht. Trotzdem setzten sie Beobachter und auch ein elektrisches Warnsystem ein, um die Entdeckung ihres Projektes zu verhindern. Wenn laute Arbeiten verrichtet werden mussten, so heißt es in manchen Erzählungen, musste der Gefangenenchor proben, um etwaige Klopf- und Sägegeräusche zu übertönen.

Gleiter aus Möbelstücken und Bettzeug

Das Segelflugzeug entstand aus Möbelstücken und Holzresten, die Goldfinch, Best und ihre Helfer im ganzen Schloss zusammenklaubten. Die Tragflächenholme stellten sie aus Dielen her, die Rippen aus Lattenrosten. Für die Seilzüge der Steuerung wurden elektrische Leitungen aus unbenutzten Teilen des Schlosses entfernt. Baumwollbettbezüge mit blau-weißem Karomuster dienten als Bespannung für Tragflächen und Rumpf. Der Clou: Gekochte Hirse aus den Gefangenenrationen wurde benutzt, um die Poren des Tuches zu versiegeln.

Das Ergebnis der monatelangen Geheimarbeit war ein zweisitziger Hochdecker mit Rechtecktragfläche und 109 Kilogramm Leermasse. Das Leitwerk des Fliegers bestand aus einem ungedämpften Seitenleitwerk mit senkrechter Vorderkante und einem davor angebrachten gedämpften Höhenleitwerk mit rechteckiger Grundfläche. Die Flügelspannweite betrug 32 Fuß (9,75 Meter) und die Gesamtlänge 20 Fuß (6,10 Meter). Kurios: Auf eine Rückenlehne für die Piloten wurde aus Gewichtsgründen verzichtet. Sie sollten Rücken an Rücken im Cockpit sitzen und sich gewissermaßen gegenseitig als Lehne benutzen – einer von beiden musste also nach hinten schauen.

Flug über die Zwickauer Mulde

Die Montage des Flugzeugs sollte erst unmittelbar vor dem Fluchtversuch stattfinden. Dazu sollte zunächst ein großes Loch in den Dachgiebel gebrochen werden. Dann wollten die tollkühnen Männer in Windeseile besagte Rampe aus Tischen auf dem Dachfirst errichten und den improvisierten Seilzug installieren. Bei einem solchen Unterfangen, so heißt es, wäre ihnen der Umstand entgegengekommen, dass der Dachfirst der Schlosskapelle von den Suchscheinwerfern nicht erfasst wurde und des Nachts immer im Schutz der Dunkelheit lag. Die Landung war nach Überquerung des Flusses Zwickauer Mulde auf einer etwa 60 Meter tiefer gelegenen Wiese vorgesehen. Von dort aus wollte man sich zu Fuß durchschlagen.

Die waghalsige Flucht war am Ende nicht mehr nötig: Im April 1945 wurde das Lager von US-amerikanischen Truppen befreit. Aus diesen Tagen stammt das einzige heute noch existierende Foto des Originalgleiters.

"Eine Wahnsinnsgeschichte!", befand Frank Modalek, als er zum ersten Mal davon hörte. "Das war im Jahr 2007", erinnert sich der langjährige Vorsitzende des Vereins Flugwelt Altenburg-Nobitz, der am gleichnamigen Verkehrslandeplatz in Ostthüringen ein kleines Luftfahrtmuseum betreibt. "Ich war mit meiner Frau ein paarmal am Schloss vorbeigekommen. Einmal sind wir reingegangen." Als er dort vom "Colditz Glider" erfuhr, war es um ihn geschehen. Es dauerte nicht lange, da kam ihm die Idee mit dem Nachbau. 2008 sei im Verein klargewesen: "Wir machen das." 2009 habe man sich das nötige Werkzeug und das richtige Material beschafft und sei ans Werk gegangen. "Das Flugzeug sollte mindestens 30 Jahre halten, darum haben wir vernünftiges Holz und keine Möbelteile benutzt", sagt Modaleck. Für die Bespannung hätten sie sich aber echte blau-weiß karierte Bettwäsche aus dem Strafvollzug besorgt.

Nachbau als Ausstellungsstück

2011 war der Flieger fertig. "Der wäre auch geflogen", glaubt Modalek. Ist er aber nicht – das Flugzeug war von Anfang an als Ausstellungsstück geplant. Nach einem recht kurzen Intermezzo im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr auf dem Flugplatz Berlin-Gatow kam der Gleiter 2014 nach Colditz. "Es war nicht einfach, die großen Einzelteile auf den Dachboden des Schlosses zu bekommen", erinnert sich Modalek und zeigt Bilder vom Rumpf, der an einem Kran baumelt, und von anpackenden Menschen, die eine Tragfläche durch ein geöffnetes Fenster bugsieren.

Zeitungsausschnitte von damals hat er auch aufgehoben. "Legende in blau-weißem Karo", ist einer der Artikel überschrieben. "Eine tolle Zeit war das!", sagt Frank Modalek, und seine Augen glänzen. Mit dem Zustand des Fliegers nach nunmehr 13 Jahren ist er sehr zufrieden. Und die bewundernden Blicke der vielen Besucher – Schloss Colditz ist heute ein Museum und der Gleiter Teil der Dauerausstellung – machen ihn durchaus ein bisschen stolz.

Erfolgreicher Start vom Dach

Eine Etage weiter unten können sich die Besucher ein Video anschauen: 2012 ist einem britischen Team mit einem weiteren Nachbau tatsächlich ein "Katapultstart" vom Dachfirst der Schlosskapelle gelungen. Die Erbauer hatten allerdings leichteres Holz benutzt und den Badewannen-Seilzug ein wenig modifiziert. Statt der zwei Piloten saß eine Puppe im Cockpit, und bei der Landung zerbrach das ferngesteuerte Flugzeug in seine Einzelteile (die heute ebenfalls auf dem Dachboden des Schlosses ausgestellt sind). Trotzdem gilt die Aktion vor Hunderten von Schaulustigen und vielen Medienvertretern als ultimativer Beweis dafür, dass der hehre Plan der Herren Goldfinch und Best seinerzeit nicht zwangsläufig gescheitert wäre.

Colditz gilder flies from castle roof
DPA

Apropos: Im Jahr 2000 durften die beiden einstigen Kriegsgefangenen noch hochbetagt miterleben, wie ein Replikat ihres Flugzeugs für die britische TV-Dokumentation "Escape from Colditz" bereits beim ersten Startversuch erfolgreich abhob – wenn auch "nur" per Winde. So oder so: Es ist und bleibt eine Wahnsinnsgeschichte. Findet nicht nur Frank Modalek.