Junkers Jumo-004: Das erste Serien-Strahltriebwerk der Welt

Junkers Jumo-004
Das erste serienreife Strahltriebwerk der Geschichte

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Die 1940er-Jahre läuteten den Sprung der Luftfahrt ins Düsenzeitalter ein. Mit an der Spitze dieser Entwicklung standen die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke mit ihrem Jumo 004. Er wurde in Dessau zur Großserienreife entwickelt und lieferte den Antrieb für zwei revolutionäre Flugzeugtypen: die Messerschmitt Me 262 und die Arado Ar 234. Die Zahlen dieser Serie klingen gewaltig, wenn man den kurzen Zeitraum und die zunehmend widrigen Umstände in der deutschen Industrie zum Ende des Zweiten Weltkriegs bedenkt. Innerhalb von nur 13 Monaten wurden zwischen Februar 1944 und März 1945 insgesamt 6010 Jumo 004 B 1 und B 2 fertiggestellt. Davon wurden 4752 Stück noch ausgeliefert, weitere 1258 waren bereits fertig montiert und 506 in der Reparatur. Alleine in den ersten drei Monaten des Jahres 1945 wurden 3350 Antriebe fertiggestellt: Im Januar 950 Stück, im Februar 1100 und im März 1300. Das machte über die Hälfte aller Auslieferungen ab Beginn des Serienanlaufs im Februar 1944 aus. Ein Triebwerk konnte in rund 700 Arbeitsstunden gefertigt werden.

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Der Beginn einer Revolution

Diese Erfolgsgeschichte begann 1938, als Hubert Wagner bei Junkers erste Arbeiten zur Konzeption eines neuen Turbinenluftstrahl-Triebwerks durchführte. Der TL oder Turbojet ist die einfachste und früheste Form eines Strahltriebwerks. Zu dieser Zeit war gerade ein Jahr vergangen, seitdem das weltweit erste Strahltriebwerk Heinkel HeS 1 unter größter Geheimhaltung die ersten Testläufe auf dem Prüfstand absolviert hatte – geflogen war es jedoch beim Start der Jumo-Entwicklung noch nicht. Erst am 27. August 1939 hob die Heinkel He 178 zum historischen ersten Flug mit einem Strahltriebwerk ab. Dieser Heinkel-Antrieb lieferte 4,5 kN Schub.

Ein bedeutsames Projekt

Kurz zuvor, im Juli 1939, hatte das Reichsluftfahrtministerium (RLM) das Motorenwerk in Dessau formal beauftragt, einen Strahlantrieb mit einem Vollgasschub von 5,8 kN für ein neues Jagdflugzeugmuster zu entwickeln. Entsprechende Gespräche mit Messerschmitt liefen schon seit Ende Mai. Die Leitung der Arbeiten hatte inzwischen der Österreicher Anselm Franz übernommen. Er entschied sich mit seinem 30 bis 40 Mann starkes Team dafür, eher konservative Leistungsziele anzupeilen, um das Entwicklungsrisiko zu minimieren. Dass die Mannschaft drei Jahre später auf über 500 Köpfe anwachsen und der Arbeitsbereich zur bedeutendsten Dessauer Entwicklungseinrichtung werden sollte, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Entwicklung mit Problemen

Die Meilensteine bei Junkers erfolgten Schlag auf Schlag. Eigene Abteilungen für Vorentwicklung, Entwicklung, Serienkonstruktion und Versuch brachten die Arbeiten rasch voran, ebenso eine eigene Werkstoffforschung und Versuchsanlagen. Am 11. Oktober 1940 konnte bereits das erste 004-Muster auf dem Prüfstand getestet werden. Erste Probleme ließen nicht lange auf sich warten – so neigten die Verdichterleitschaufeln zu Schwingungsbrüchen.

Der erste Testflug

Knapp zehn Monate später kam das Triebwerk im August 1941 erstmals auf den ursprünglichen Auslegungsschub, Heiligabend 1941 lief es bereits zehn Stunden am Stück. Auch eine kurzzeitige Überlast von 9,8 kN wurde kurz darauf, Anfang 1942, erreicht. Die schnellen Fortschritte überzeugten das RLM, zunächst 80 Triebwerke der A-Serie zu bestellen und so diese neue Technologie zu erproben. Die eigentlichen Tests im Flug begannen am 15. März mit einer umgebauten Me 110. Dann war der Tag gekommen: Die erste Me 262 mit zwei Antrieben der A-0-Serie startete in Leipheim zu einem zwölfminütigen Flug, im Cockpit saß der Messerschmitt-Cheftestpilot Fritz Wendel. Es war der 18. Juli 1942.

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200 km/h Vorsprung

Das erste in Serie gebaute Strahltriebwerk der Welt trieb somit das weltweit erste serienmäßige Strahlflugzeug an. Die Symbiose von Triebwerk und Flugzeug funktionierte. Mit etwa 850 km/h im Horizontalflug hatte die Me 262 einen Vorsprung von 200 km/h gegenüber den schnellsten Propellerflugzeugen. Die Fertigung der Me 262 erhielt auf Weisung von Hermann Göring, dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe, höchsten Vorrang, was gleichzeitig das Ende der Me 209 bedeutete. Bis Ende des Jahres 1942 sollten die ersten 100 Jumo-004-Triebwerke hergestellt sein. Die ersten Me 262 wurden im April 1944 an die Luftwaffe ausgeliefert und dienten zunächst hauptsächlich zur Umschulung der Piloten auf den neuen Antrieb.

Schnell verschlissen

Zuvor musste das Jumo-004 A jedoch umkonstruiert werden. Es war unter den Kriegsumständen für eine Serienfertigung nicht geeignet, was insbesondere auf die Legierungsbestandteile Nickel und Molybdän zurückzuführen war. Diese für warm-feste Werkstoffe benötigten Bestandteile waren nur in sehr geringen Mengen verfügbar. Der grundsätzliche Aufbau und die Abmessungen änderten sich aber nicht. Die Lebensdauer des Aggregats ging allerdings in den Keller und erreichte gerade einmal 25 bis 35 Stunden.

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Das Jumo-004 B

Im Juni 1943 lief das erste B-Muster auf dem Prüfstand und erreichte einen Schub von 8,9 kN. Werkstoff der Wahl war nun Tiefziehblech (Fliegwerkstoff 1010) mit einer Aluminiumschicht zum Schutz vor Oxidation. Die Turbinenschaufeln, die zunächst aus Tinidur gefertigt waren (Legierung aus 30 Prozent Nickel, 15 Prozent Chrom und 1,7 Prozent Titan) wurden nun aus Cromadur hergestellt, bestehend aus 13 Prozent Chrom, 18 Prozent Mangan und 0,7 Prozent Vanadium. Diese Legierung kam ohne Nickel aus und war gleichzeitig besser schweißbar.

Ohne Kühlluft läuft nichts

Die aus Blechteilen bestehende Schubdüse musste luftgekühlt werden, die Weiterentwicklung B 4 setzte hohle Turbinenschaufeln ein. Auch die Turbinenleitschaufeln brauchten eine Kühlung. Aus archivierten Unterlagen zur Baureihe B 1, verfasst im Januar 1945, gehen weitere Details hervor. Die eintretende Luft strömte durch acht hintereinander geschaltete Verdichterstufen in sechs Einzelbrennkammern, etwa 40 Prozent der Gesamtluft wurden dort zur Verbrennung verwendet. Die Kühlluft gelangte zunächst mit der Verbrennungsluft in den axialen Verdichter und wurde nach der vierten und achten Verdichterstufe zur Kühlung der heißen Bauteile weitergeleitet. Auch die Einzelbrennkammern des Triebwerks wurden so gekühlt. Ein weiterer Teil der bereits verdichteten Luft wurde nach der achten Druckstufe als Kabinenluft entnommen.

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Ein Kosmos an Hilfsgeräten

720 Kilogramm brachte das Jumo 004 auf die Waage. Dabei waren Hilfsgeräte bereits mit eingerechnet: Der sogenannte Riedel-Anlasser, ein kleiner Zweitakt-Boxer-Ottomotor mit 10 PS Leistung, diente als Fremdanlasser, um das Triebwerk zu starten. Die Zündung erfolgte bei 800 Umdrehungen/ Minute in drei Brennkammern, die Zündkerzen besaßen. Im Anschluss schlug die Flamme durch Zündrohre in die verbleibenden drei Kammern. Bei 2000 U/min konnte der Anlasser wieder abgeschaltet werden. Weiterhin zum Lieferumfang gehörten ein Drehzahlgeber, ein Thermo-Element zum Ablesen der Gastemperatur sowie Kraft- und Schmierstofffilter. Der Behälter für den Anlass-Kraftstoff des Triebwerks fasste 15 Liter für mindestens drei Anlassvorgänge, der Riedel-Anlasser hatte drei Liter Kraftstoff zur Verfügung und der Schmierstoffbehälter konnte circa zehn Liter aufnehmen. Der Zustand des Triebwerks konnte durch fünf Geräte überwacht werden: Die Drehzahlanzeige hatte einen umschaltbaren Messbereich zwischen 400–3000 U/min sowie 2000–15 000 U/min. Das Gerät zur Bestimmung des Kraftstoff-Einspritzdrucks gab Werte zwischen null und 60 atü an. Die Schmierstoffdruck-Anzeige hatte eine Skala von null bis drei atü, die Gasdruck-Anzeige null bis ein atü. Auch die Gastemperatur konnte überwacht werden.

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Komplexe Steuerung

Bedient wurde das Triebwerk durch einen Drehzahlregler, einen Strahlregler, das Bediengestänge und eine Druckölanlage für den Regler. Durch den Drehzahlregler wurde der Zustrom des Kraftstoffs reguliert. Um die Vorgänge in diesem Triebwerk darzustellen, sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Verdichter durch die Turbine angetrieben wird. Beide Bauteile sind durch eine Welle miteinander verbunden und drehen somit gleich schnell. Bei der Höchstdrehzahl von 8700 U/min betrug der Druck am Ende des Verdichters etwa zwei atü am Stand. Die so verdichtete Luft war bereits bis auf 120 Grad Celsius erwärmt. Der Luftdurchsatz in den Einzelbrennkammern richtete sich nach der Betriebsstufe des Triebwerks, abhängig von der Drehzahl der Verdichter-Welle und der Luftdichte.

Höchstdrehzahl für 15 Minuten

Die Regelung der hinter der Brennkammer sitzenden Turbine erfolgte durch die Menge des eingespritzten Kraftstoffs. Unabhängig von der Fluglage, -höhe oder -geschwindigkeit sollte eine einmal gewählte Drehzahl konstant gehalten werden können: innerhalb einer Grenze von etwa 0,3 Prozent, ohne merkbare Schwankungen. Um die Drehzahl zu steigern, durfte der Leistungshebel im ungeregelten Drehzahlbereich (zwischen 3000 U/min und 6/7000 U/min) nur sehr langsam vorgeschoben werden – von Leerlauf (Solldrehzahl 3000+100 U/min) bis 7000 U/min waren zehn bis 15 Sekunden einzuplanen. Originalunterlagen warnten explizit davor, dass ein Nichteinhalten zu Verbrennungen an der Turbine führen könnte. Die Höchstdrehzahl war für 15 Minuten zulässig, konnte in Sonderfällen wie Steigflug, Kampf oder Flug in großer Höhe jedoch laut Kurzbetriebsanleitung "ohne Weiteres" überschritten werden.

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25 Flugstunden

Das Jumo 004 war sehr wartungsintensiv. Die erste Überprüfung und Reinigung stand nach eineinhalb Betriebsstunden an, danach bei drei, sechs und zwölfeinhalb Stunden in Betrieb. Nach 25 Stunden war das Triebwerk in 16 Schritten zu wechseln. Eine Ausnahme war bei einer bisher einwandfreien Funktion erlaubt: die Verlängerung um zehn Betriebsstunden unter Auflagen. Dazu mussten der Turbinenläufer und -leitkranz in einer Sichtprüfung eine "einwandfreie Beschaffenheit" zeigen. Vor besonderen Mess- und Höhenflügen oder Einsätzen stand zusätzlich die Säuberung der Ölfangtöpfe auf dem Programm.

Kinderkrankheiten

Wie alle neuen Antriebe hatte das Junkers-Triebwerk mit Kinderkrankheiten zu kämpfen. Aus Berichten der Arado- und Messerschmitt-Piloten geht hervor, dass die Triebwerke im unteren Drehzahlbereich schlecht zu regeln waren. Brechende Turbinenschaufeln führten oftmals zu Bränden. Die zum Kolbenmotor doch sehr unterschiedliche Bedienung war anfangs nicht trivial – wie das Anlassen, die Leistungsüberwachung oder ein nicht kontinuierlicher Leistungsanstieg beim Bewegen des Gashebels. Positiv jedoch: längeres Warmlaufen entfiel. Im Flug zeigten die beiden Turbinen öfter ein unterschiedliches Leistungsverhalten. Beobachtungen wie diese konnten direkt an Junkers rückgemeldet werden und Verbesserungen so zielgerichtet erfolgen.

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Technologietransfer bei Kriegsende

Bis Kriegsende wurden 1433 Messerschmitt Me 262 mit Jumo-Triebwerken hergestellt. Etwas mehr als 200 Arado Ar 234 kamen seit ihrem Erstflug im Sommer 1943 bis zur Kapitulation noch mit Jumo-004-Antrieben zur Auslieferung. Sie waren die ersten strahlgetriebenen Langstreckenaufklärer und Blitzbomber. Am 24. Februar 1945 gelangten die Alliierten erstmals in den Besitz eines noch funktionstüchtigen Jumo 004, nachdem eine Ar 234 B2 bei einer Notlandung in Rhein- nähe nur wenig beschädigt wurde. Im Frühjahr desselben Jahres gerieten mehrere Me 262 in alliierte Hände. Die Triebwerke wurden in England gründlich untersucht, zerlegt oder kamen auf den Prüfstand. So erfolgte ein Technologietransfer zu Konkurrenzfirmen. England und die USA hatten jeweils eigene Strahltriebwerke entwickelt, waren zu Kriegsende jedoch weit vom Stand der deutschen Technik entfernt. Nach dem Krieg wurde das Jumo-Strahltriebwerk weiter genutzt beziehungsweise in Lizenz gebaut. Für viele folgende Neuentwicklungen sollte es als Vorbild dienen.