Hubschrauber können zwar hervorragend schweben und sie haben exzellente Langsamflugeigenschaften, aber ihre Vorwärtsgeschwindigkeit ist aerodynamisch limitiert. Je größer die Vorwärtsgeschwindigkeit des Hubschraubers wird, desto geringer wirkt die Anströmung am rücklaufenden Blatt. Sie kann unvermittelt abreißen. Überlisten lässt sich dieses Phänomen jedoch mit Hilfsmitteln wie Antriebe an Stummelflügeln oder zusätzliche Propellergondeln.
Auch die von Arthur Young geführte Entwicklungsabteilung von Bell Aircraft untersuchte ab Mitte der 40er Jahre verschiedene Konzepte, darunter auch ein Verwandlungsflugzeug, das die jeweils positiven Eigenschaften von Flächenflugzeugen und Helikoptern in sich vereinen sollte. Der Name: Bell 200, heute aber eigentlich nur unter der militärischen Bezeichnung XV-3 bekannt.
Anstelle eines konventionellen Hauptrotors verfügte die XV-3 über Tragflächen, an deren Enden sich je ein Pylon mit einem schwenkbaren Propeller befand. Im Hubschraubermodus wirkten die Propellerblätter wie zwei gegenläufige Rotorsysteme, hoben damit gleichzeitig auch das Drehmoment auf, was einen Heckrotor überflüssig machte. Wurden die Propeller um 90 Grad nach vorn geneigt, kam der Geschwindigkeitsvorteil eines klassischen Propellerflugzeugs zum Tragen. Die Rotoren sorgten wie konventionelle Propeller für den Vortrieb. Mit Hilfe eines Schaltgetriebes konnte der Pilot die Rotordrehzahl während des Reiseflugs reduzieren − ein zugleich simples wie geniales Prinzip, so schien es jedenfalls in der Theorie.
Larry Bell war so überzeugt von der Idee des Verwandlungsflugzeugs, dass er nach dem Weggang von Arthur Young 1947 ein Jahr später Robert (Bob) Lichten einstellte. Dieser galt als Experte und hatte bereits bei einem anderen Unternehmen ein System für einen Rotor und dessen Kraftübertragung entwickelt, das speziell für die bis dahin weitgehend unbekannte und unerforschte konvertible Nutzung gedacht war. Das Unternehmen war allerdings bankrott gegangen, noch bevor wirkliche Flugtests erfolgen konnten.
Allein die Vorstellung, dass man mit einem Helikopter die Probleme der Geschwindigkeit überwinden könnte, beflügelte Larry Bell. „Das konvertible Fluggerät wird Wege des Lufttransports öffnen, von denen nie jemand zu träumen gewagt hat“, wird er häufig im zusammenhang mit seinem Tiltrotor-Programm zitiert.
Bells Vision zahlte sich schon bald aus, denn Ende der 40er Jahre nahm das Militär die Vielseitigkeit der Helikopter zur Kenntnis. Da aber die relativ geringe Geschwindigkeit das Einsatzspektrum erheblich limitierte, kam die Frage auf, ob es möglich wäre, ein konvertibles Fluggerät zu entwickeln. Der Koreakonflikt hatte gerade begonnen, und das Interesse der US-Armee an der noch weitgehend unbekannten Tiltrotor-Technologie sorgte für die notwendige Finanzierungsgrundlage. 1950 startete die Armee eine Ausschreibung für die Entwicklung eines Verwandlungsflugzeugs. Bell, McDonnell und Sikorsky waren die drei Finalisten. 1951 erhielten dann Bell für die XV-3 und McDonnell für die XV-1 (ein Autogyro mit zuschaltbarem Blattspitzenantrieb) Aufträge zum Bau von Prototypen. Sikorskys Projekt XV-2 war bereits zuvor storniert worden.
Am 23. August 1955 fand der erfolgreiche Erstflug des zweisitzigen Testträgers XV-3 (4147) am neuen Firmensitz von Bell, im texanischen Fort Worth, statt. Am Steuer saß Cheftestpilot Floyd Carlson. Ein hinter dem Cockpit montierter Pratt & Whitney-Motor mit 335 kW (450 PS) trieb die beiden großen Dreiblattrotoren an. Der Schwebeflug, auf den man sich bei den ersten Flügen beschränkte, verlief nicht ganz wunschgemäß, und ein Stabilitätsproblem beendete den Erstflug mit einer eiligen Landung. Die Ingenieure um Lichten wussten zwar nicht, woher die Instabilität kam, aber sie waren sicher, dass bis zur erfolgreichen Transition, dem Übergang vom Schwebeflug- in den Reiseflugmodus, noch eine Vielzahl von Unwägbarkeiten auf sie zukommen würde. Knowhow und Materialien der 50er Jahre waren noch nicht reif für die komplizierte Schwenktechnik, zumal den Ingenieuren auch noch keine Computer zur Verfügung standen, mit denen sie realitätsnahe Simulationen und Berechnungen hätten durchführen können.
Dreiblattrotoren waren für die XV-3 ungeeignet

Die eklatanteste Schwäche der XV-3 offenbarte sich am 23. August 1956. Dick Stansbury saß als Testpilot am Steuer. Nach 17 Teststunden und zahlreichen kleineren Modifikationen zur Reduzierung von Vibrationen schwenkte Stansbury in 60 Metern Höhe die Rotoren um 20 Grad nach vorn und vernahm augenblicklich, wie er später zu Protokoll gab, so starke Schwingungen, dass er kurzzeitig ohnmächtig wurde und die Kontrolle über das Testflugzeug verlor. Bei der Bruchlandung der XV-3 – instinktiv war er gesunken, hatte die Leistung reduziert und in Bodennähe Fahrt abgebaut – erlitt Stansbury schwere Verletzungen, die für ihn das Aus als Testpilot bedeuteten. Der Pilot des Begleithubschraubers (eine Bell 47) sagte aus, dass er keinerlei Leistungsaufnahme der Rotoren wahrgenommen habe. Stansbury hatte zuvor bereits einige Male bemerkt, dass er manchmal nicht sicher gewesen sei, ob ihm die 450 PS immer vollständig zur Verfügung gestanden hätten, ihre Untermotorisierung wurde auch später häufig angeführt.
Noch während er in die Notaufnahme gebracht wurde, sprach Stansbury immer wieder von Aufzeichnungen der Schwingungen unmittelbar vor dem Crash und dass man sich unbedingt darum kümmern müsse. Ein Ingenieur sicherte das Aufzeichnungsgerät an Bord des völlig zerstörten Wracks. Aus den ermittelten Werten konnte schließlich die Erkenntnis gewonnen werden, dass sich Dreiblattrotoren für die XV-3 absolut nicht eigneten.
Zwei Jahre Zeit brauchte es, bis alle erforderlichen Änderungen fertig waren und im zweiten Prototyp (4148) zur Verfügung standen. Der Durchmesser der Rotoren war von 7,32 m auf 7,01 m verkleinert worden. Der ungeeignete Dreiblattrotor war einem Zweiblattrotor gewichen. Die Schwenkarme (Masten) waren stark verkürzt, und die Tragflächen mit den Propellerpylonen waren mit zusätzlichen Streben stabilisiert und versteift worden. Auch das Leitwerk hatte eine zusätzliche Finne erhalten.
Erst am 18. Dezember 1958 gelang Bill Quinlan, dem Nachfolger von Stansbury als Testpilot, an Bord des zweiten Prototyps zum ersten Mal die komplette Transition vom Helikopter- in den Flugzeugmodus − „weich und komfortabel“, wie er nach dem Flug berichtete. In einem späteren Flug erreichte die XV-3 in der Flugzeugkonfiguration 220 km/h.
Ab 1959 wurde die XV-3 auf der Edwards Air Force Base erprobt. Die militärischen Testpiloten attestierten dem Tiltrotorflugzeug zwar große Vielseitigkeit, allerdings berichteten sie auch immer wieder von Stabilitätsproblemen. Die Schwingungen konnten trotz der erheblichen Veränderungen und ständigen Modifikationen zwar reduziert werden, gänzlich eliminieren ließen sie sich jedoch nie.
So wurde die XV-3 nach Versuchen beim NASA-Testzentrum in Ames schließlich 1962 gegroundet. Bis dahin hatten zehn weitere Testpiloten – sie kamen von Bell, der US Army, der US Air Force und der NASA – bei 270 Flügen mehr als 125 Flugstunden absolviert, in deren Verläufen 110 komplette Schwenkvorgänge durchgeführt worden waren. Bell gab sich noch nicht geschlagen und testete die XV-3 in den folgenden sechs Jahren immer wieder im Windkanal der NASA. Bei einem dieser Tests, im Jahr 1968, versagte der linke Rotorpylon. Die XV-3 wurde so schwer beschädigt, dass sie nicht wieder aufgebaut werden konnte – das Ende der XV-3!
Es dauerte ein ganzes Jahrzehnt, bis Bell mit der XV-15 einen neuen Anlauf zur Umsetzung
der komplizierten Tiltrotor-Technologie wagte, und weitere drei Jahrzehnte, bis das Tiltrotor-Flugzeug V-22 Osprey endlich zur Serienreife gelangte.
Technische Daten





XV-3 (Bell 200) – Tiltrotor-(Kipprotor-)Flugzeug
Erstflug: 23. August 1955
Antrieb: Pratt & Whitney R-985
Leistung: 335 kW/450 PS
Besatzung: 1 (+1)
Gesamtlänge: 9,25 m*
Gesamthöhe: 4,04 m
Gesamtbreite (Spannweite): 9,51 m*
Rotorendurchmesser: 7,32 m/7,01 m*
Leermasse: 1907 kg*
max. Abflugmasse: 2218 kg*
max. Geschwindigkeit: 252 km/h
Dienstgipfelhöhe: 3660 m
Schwebeflug im Bodeneffekt: 2256 m
Reichweite: 410 km
*Angaben beziehen sich auf Prototyp Nr. 2. Die anvisierte Geschwindigkeit wurde nie erreicht.
Klassiker der Luftfahrt Ausgabe 04/2011