28 Zylinder! "Riesen-Maiskolben" Doppelsternmotor R-4360

Doppelsternmotor R-4360 Wasp Major
Der 28-Zylinder-Riesen-Maiskolben von Pratt & Whitney

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Veröffentlicht am 22.09.2024

Der renommierte amerikanische Flugmotorenhersteller Pratt & Whitney ist vor allen Dingen durch seine Sternmotoren bekannt und groß geworden. Dennoch befasste sich das Unternehmen natürlich auch mit alternativen Konstruktionsideen, und zwar konkret der Laufbuchsen-Schiebersteuerung nach britischem Vorbild (Bristol und Napier). Ende der 1930er-Jahre liefen wassergekühlte H-24-Zylinder in zwei unterschiedlichen Hubraumgrößen auf den Prüfständen. Allerdings war dies für die Amerikaner komplettes Neuland, und ein ganzer Berg von technischen Herausforderungen tat sich auf. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des drohenden Zweiten Weltkriegs wurde die Sache in Absprache mit den Militärs abgeblasen und man konzentrierte sich fortan ausschließlich auf die hauseigene Kernkompetenz "luftgekühlter Zweiventiler". So gesehen zeigt sich der Wasp Major technologisch eher konservativ, aber eben bis ins Detail hinein perfektioniert. Seine beeindruckende Performance holt er vor allem aus einer kräftigen Extraportion an Hubraum, exakt 4363 cubic inches oder umgerechnet 71 497 Kubikzentimeter.

Brian Silcox

Erster Prototyp 1941

Erste Vorüberlegungen zum Design des neuen Spitzenprodukts dürften etwa Mitte 1940 stattgefunden haben; im November jenen Jahres gab die Chefetage den offiziellen Startschuss zur Entwicklung. Bereits am 28. April 1941 lief der erste Prototyp auf dem Prüfstand. Bei diesem Debütanten waren nur das Kurbelgehäuse und die (noch gegossene) Kurbelwelle neu konstruiert, alle anderen Innereien und Anbauteile stammten praktischerweise von vorhandenen Triebwerken – so zum Beispiel Zylinder nebst Kolben und Zylinderköpfe vom bekannten 18-Zylinder R-2800 Double Wasp. Beim Thema Kühlung hatten die US-Ingenieure ähnliche Hürden zu meistern wie beispielsweise ihre deutschen Kollegen mit dem Argus As 410, und sie kamen zu einer durchaus vergleichbaren Lösung. Am effektivsten erwies sich in diesem Fall, die einzelnen Zylinder spiralförmig und zusätzlich um ihre Mittelachse etwas verdreht auf dem mehrteiligen Kurbelgehäuse anzuordnen. Der vorn eintretende kühlende Luftstrom wird mit Leitblechen gezielt um die Zylinder herum- und abgeführt. Spätere Versionen erhielten zusätzliche Leitbleche auf den Zylinderköpfen, was speziell auch die Kühlung der Zündkomponenten unterstützte. Die Vierfach-Stern-Anordnung des Wasp Major bedingte eine längliche, aus fünf einzelnen Kernsegmenten bestehende Gehäusekonstruktion, wobei die Trennfugen wie meist üblich bei Sternmotoren mittig längs durch den Aufnahmebund für die Zylinder verlaufen. Die einzelnen Baugruppen teilen sich auf wie folgt, von vorn nach hinten: Gehäuse des Propellergetriebes, ringförmiges Gussteil zur Aufnahme der Zündmagnete, die fünf geteilten Segmente der sogenannten "Power Section”, Aufnahmeplatte für den Laderantrieb, Ladergehäuse inklusive Laufrad und abschließend das Gehäuse für die Aggregate mit oben aufgesetztem "Down- draft”-Vergaser – sprich Luftdurchströmung von oben nach unten. Seit dem ersten Motor, dem R-1340 Wasp von 1926, wird bei Pratt & Whitney traditionell eine geschmiedete Aluminiumlegierung als Material für die Kernsegmente verwendet; beim R-4360 bestehen alle restlichen Kurbelgehäuseteile aus einer leichten Magnesiumlegierung.

Aircraft Engine Historical Society via Weber

Kurbelwellenkonstruktion

Die einteilige, vierfach gekröpfte Kurbelwelle ist aus Stahl geschmiedet und in fünf Gleitlagern fixiert. Die Lagerschalen sind mit der äußerst verschleißfesten, von Pratt & Whitney entwickelten Blei-Silber-Indium-Beschichtung versehen. Umfangreiche Untersuchen zum bestmöglichen Vibrationsverhalten zeigten, dass nur die beiden äußeren Enden der Welle mit Gegengewichten ausgebildet werden mussten. Die davon jeweils nach innen weisenden Kurbelwangen sind fest, die äußeren mit beweglich gelagerten Einsätzen zur Schwingungsdämpfung versehen. Zuguter Letzt werden aufwendig gearbeitete gummigelagerte Motoraufhängungen verwendet, damit Vibrationen nicht zu stark auf die Zelle einwirken. Um während der Montage die drei mittleren Power-Section-Segmente überhaupt über die ausladenden Kurbelwangen "stülpen” zu können, sind im Zentrum jeweils genügend große Öffnungen vorgesehen. Infolgedessen wurden im Durchmesser ungewöhnlich große Lagerschilde für den eigentlichen Sitz der Kurbelwelle erforderlich. Sie bestehen aus Magnesium und sind unter Zwischenschaltung eines Stahlrings ins Aluminiumgehäuse eingesetzt. Im Betrieb dehnen sich die Werkstoffe Aluminium und Magnesium stärker aus als der eingebettete Stahlring, was einen belastbaren dauerhaften Sitz des Lagerschilds gewährleistet. Sehr solide mutet auch die Gestaltung der hochbelasteten Hauptpleuel an. Das großdimensionierte, ebenfalls Blei-Silber-Indium-beschichtete untere Pleuelauge ist geteilt und wird mit insgesamt vier Spezialschrauben verbunden. Die jeweils sechs angelenkten Nebenpleuel präsentieren sich wie üblich in einteiliger Bauweise.Alle Pleuel sind mit einem I-förmigen Querschnittsprofil versehen.

Aircraft Engine Historical Society via Weber

Einlasskanal zentral auf Zylinderkopfoberseite

Schon bei der seinerzeit aktuellsten C-Serie des R-2800 wurden nahezu alle Motorbauteile geschmiedet; das hat man sinnigerweise beim Wasp Major weitergeführt – zumal Bohrung und Hub an beiden Motoren sowieso identisch sind. Dies gilt neben der Kurbelwelle auch für Pleuel und Laufbuchsen (jeweils aus Stahl), Fünfring-Kolben, Zylinder-Rippenkörper und Zylinderköpfe (jeweils aus Aluminium). Die Laufbuchsen sind wiederum in die dank des Schmiedeprozesses noch feiner und tiefer verrippten Zylinderköpfe eingeschraubt und eingeschrumpft. Eine Besonderheit gegenüber gängiger Sternmotorbauweise besteht darin, dass sich der Auslasskanal zwar wie gewohnt seitlich am Zylinderkopf befindet, der Einlasskanal dagegen relativ zentral auf der Zylinderkopfoberseite. Dadurch konnten die Kipphebelgehäuse weitgehend aus den Bereichen mit Verrippung "herausgehalten" werden, was einer maximal großen Rippenfläche und damit bestmöglicher Wärmeabfuhr zugutekommt. Zwecks einfacherer Fertigung sind alle Kühlrippen horizontal ausgearbeitet, die Zylinder identisch und somit tauschbar. Allerdings bedingte diese Auslegung mit Einlass-Stoßstangen vorn und Auslass-Stoßstangen hinten bei vier Sternen einen weiteren, fünften Nockenring im Kurbelgehäuse. Jeder der gegenläufig zur Kurbelwelle rotierenden Nockenringe hat zwei Laufbahnen, auf denen die korrespondierenden Gleitrollen der Stößel die vertikalen Bewegungen aufnehmen. Optisch auffällig sind die weit auseinanderliegenden Kipphebelgehäuse. Hier zeigte sich eine bis dato unbekannte Problemzone: Diese Gehäuse waren anfangs nicht steif genug und mussten verstärkt werden. Trotz der zwangsläufig exponiert ganz außen verlaufenden Ansaugrohre fiel der Durchmesser des Triebwerks mit 1,37 Metern nur geringfügig größer aus als beim R-2800. Vor allem bei den Motorvarianten mit Lüfterrad ließ sich eine ideal eng anliegende, vorteilhaft strömungsgünstige Triebwerksverkleidung gestalten. Die Ansaugrohre bestehen aus dünnwandigem Stahl, ursprünglich wenigen längeren, nur mit einfachen Gummimanschetten und Spannbändern verbundenen Teilstücken. Aber nachdem schwingungsbedingt Undichtigkeiten und Risse auftraten, brachte erst dieAufstückelung in mehrere kürzere, via spezieller Metallmanschetten gekoppelter Rohre Abhilfe.

Brian Silcox

Integrierter Drehmomentmesser

An der Luftschraubenwelle kommen Lagerarten in interessanter Gemischtbauweise zum Einsatz. Vorn im Gehäuse nehmen ein Rollenlager und ein direkt dahinter platziertes Kugellager die radialen und axialen Kräfte auf. An ihrem Ende ist die Welle in einem mächtigen Blei-Bronze-Gleitlager fixiert. Je nach Motorentyp finden sich verschiedene Radpaarungen am Planetengetriebe, zum Beispiel an der Version VSB11G ein Untersetzungsverhältnis von 1 zu 0,425 zur Luftschraubenwelle. Ins Getriebegehäuse integriert ist ein Torquemeter (Drehmomentmesser), verbunden mit einem Anzeigeinstrument im Cockpit. Primär bei mehrmotorigen Flugzeugen ist das ein wichtiges Hilfsmittel zur synchronen Einstellung und Überwachung der zahlreichen Triebwerksparameter. Auto-Feathering-Systeme fahren die Luftschraube automatisch in Segelstellung, wenn das Unterschreiten eines bestimmten Torquemeter-Wertes auf ein Motorproblem hindeutet.

Entwicklung des Zündsystem

Die frühen R-4360-Baureihen verfügten über ein Hochspannungszündsystem von der (ursprünglich in der Schweiz gegründeten) Firma Scintilla mit der stattlichen Anzahl von sieben kreisförmig außen auf dem Propeller-Getriebegehäuse angeordneten druckbelüfteten Zündmagneten. Jeder Magnet war für beide Zündkerzen von den vier hintereinanderliegenden Zylindern einer Bank zuständig; der etwaige Ausfall eines Magneten ließ den Motor also noch auf 24 Zylindern weiterlaufen. Zugunsten einer Bauteilereduzierung und vereinfachten Wartung entwickelte Scintilla jedoch alsbald ein optimiertes System mit vier Niederspannungs-Zwillingsmagneten und separaten, in Nähe der Zylinderköpfe positionierten Zündspulen; ein Zündkreis versorgt dabei jeweils sieben Zylinder eines Sterns. Eine Besonderheitgegenüber der am R-2800 schon bewährten ähnlichen Anlage ist, dass hier aus baulichen Gründen jede der insgesamt 56 Zündkerzen ihre eigene Zündspule hat. Nicht nur den Zündkerzen zuliebe musste der Pilot beziehungsweise Bordingenieur beim Anlassen das Prozederegenau einhalten, allein mit Demontage und Reinigung derselben war ein Mechaniker schon Stunden beschäftigt.

KL-Dokumentation

Verschiedene Konfigurationen

Von großer Bandbreite zeigt sich das Kapitel Aufladung. Grundsätzlich können zwei "Bestückungskonzepte” voneinander unterschieden werden. Turbolader (im Sinne einer zweiten Stufe) waren immer mit einem mechanischen Kompressor mit einem Getriebegang kombiniert: die favorisierte Auslegung für große Höhen, Stichwort Bomber und Aufklärer. Laderübersetzungen mit zwei Gängen oder alternativ hydraulisch variabler Drehzahlanpassung wurden dann verbaut, wenn kein zusätzlicher Turbolader vorgesehen ist: das typische Einstufen-Triebwerk für mittlere Höhen, etwa bei Transportern. Für beengte Platzverhältnisse, wo zwar Höhenleistung gefordert, aber ein Turboarrangement nicht praktikabel war – zum Beispiel in den schweren Jägern Republic XP-72 und Boeing XF8B-1 –, kreierte man den Spezialfall mit mechanisch angetriebener zweiter Laderstufe. Diese war anstatt des Schlussdeckels direkt an der Rückseite des Aggregategehäuses angeflanscht, als Besonderheit bei der (aus der P-47 weiterentwickelten) XP-72 aus Schwerpunktgründen hinter dem Piloten im Rumpf platziert und via Fernwelle angetrieben. Aber wie die genannten Flugzeuge verblieben auch jene Motoren im Prototypenstatus und gelangten nicht zur Serienreife. Je nach Motorvariante kamen unterschiedliche Modelle des Bendix-Stromberg PR100 Fallstrom-Druckvergasers zum Einsatz, der größten je gebauten Ausführung dieses bedeutenden US-Herstellers. Die schieren Ausmaße dieser Gasfabrik mit Beschleunigerpumpe und automatischer Gemischkontrolle sind beeindruckend – ungefähr vergleichbar einem 6er-Pack mit 1,5-Liter-Wasserflaschen. Ein einzelner dieser Monstervergaser wäre in der Lage, gleichzeitig zehn hubraumgroße V8-Automotoren zu versorgen. Die Einspritzung des Kraftstoffs erfolgt für eine optimale Zerstäubung durch viele von zwischen den Leitschaufeln des Laderlaufrads angebrachten Bohrungen. Obligatorischauch beim R-4360 das komplexe Trockensumpfschmiersystem mit Hoch- und Niederdruckkreisläufen. Zwei Zahnrad-Hauptölpumpen, vorn unten im Getriebe- gehäuse und im hinteren Bereich des Motors – jeweils doppelt ausgeführt für Druck- und Saugseite – steuern den Umlauf der enormen Schmierstoffmenge von 120 Litern. Vier weitere Ölpumpen im Kurbelgehäuse, also für jeden Stern eine, kümmern sich zusätzlich um die Rückförderung. Für den Hochdruckkreislauf sind je nach Leistungsstufe zwischen 5,5 bis 6,9 bar angegeben, der separate Kreislauf für Propellerblattverstellung/Drehzahlregler und Drehmomentmesser benötigt 27,6 bar Arbeitsdruck.

KL-Dokumentation

Insgesamt 15 600 Auslieferungen

Vielleicht noch mehr als bei anderen Hochleistungstriebwerken waren während der Entwicklung des Wasp Major wie teils schon ausgeführt zahlreiche Probleme zu meistern. Kinderkrankheiten, vor allem die frühen Baujahre betreffend, blieben natürlich nicht aus. Gegen Ende der von 1944 bis 1955 währenden Produktionszeit erreichte man dank vieler eingebrachter Verbesserungen zumindest im zivilen Einsatz ordentlich lange Überholungsintervalle von 600 Stunden. Charakteristisch für Pratt & Whitney ist die hohe Anzahl von gelisteten Versionen. Hier sind es zwar nicht ganz so uferlos viele wie beim Double Wasp, aber noch immer knapp 50; eingerechnet auch Prototypen, Kleinstserien, nicht realisierte Detailänderungen sowie diverse Projekte. Insgesamt wurden 15 600 Triebwerke ausgeliefert – dies in wohl einzigartiger Wandlungsfähigkeit mit den erläuterten unterschiedlichsten Getriebe- und Laderbestückungen, mit und ohne Wassereinspritzung, mit gegenläufigen Doppelpropellern oder für eine besonders hochoktanige Spritqualität –sogar wie unter anderem im Bomber Convair B-36 in "Pusher"-Konfiguration, also umgedreht eingebaut mit Druckpropeller. Gerade bei hubraumgroßen, luftgekühlten Motoren wie dem R-4360 zeigte sich die füllungsverbessernde Wasser-einspritzung als besonders effektiv; damit konnte je nach Typ eine (kurzfristige) Mehrleistung von rund 500 PS erzielt werden. In einer Welt ohne Düsenantrieb wäre das von den Technikern bereits anvisierte zukünftige Potenzial höchst beeindruckend gewesen. Sogenannte Turbo-Compound-Triebwerke – also solche, bei denen die "Leistung" der Abgasturbinen direkt via Kupplung und Zahnrädern auf die Kurbelwelle einwirkt – waren projektiert. Eine noch bessere Performance erwartete man sich von der VDT-Technologie (Variable Discharge Turbine); derlei Prototypmotoren sind in wenigen Flügen mit einer umgebauten Boeing B-50 noch getestet worden. Das VDT-System verzichtet auf den leistungszehrenden internen mechanischen Kompressor. Mit Direkteinspritzung und Turboladern mit regelbarer Auslassklappe wurden sagenhafte Leistungsausbeuten in der Region von 4800 PS erwartet.

Hughes

Technische Daten

Pratt & Whitney R-4360 Wasp Major VSB11-G(Stand: September 1944)
Bauart: Vierfachstern, 4 mal 7 Zylinder
Kühlung: luftgekühlt
Hubraum: 71,5 Liter (Bohrung x Hub 146 x 152,4 mm)
Verdichtung: 7 zu 1
Ventiltrieb: Nockentrommel und Stoßstangen, 2 Ventile pro Zylinder
Startleistung: 3040 PS (2235 kW) bei 2700/min und 1,89 bar Ladedruck
Lader: Einstufen-Schleudergebläse, variable Drehzahl
Zündung: sieben Zündmagnete Scintilla D4RN-2, kontaktgesteuert
Vergaser: Bendix-Stromberg PR100B3-Druckvergaser
Kraftstoff: 100 Oktan
Verbrauch: spezifisch ca. 270 g/kWh bei 2700/min
Schmierstoff: Einbereichsöl SAE 50
Verbrauch: spezifisch ca. 9 g/kWh bei 2550/min
Anlasser: Eclipse 36E07-2, elektrisch
Trockengewicht (mit Anlasser): 1582 kg