Auf den ersten Blick erkennt man sie nicht. Man sieht ein Jagdflugzeug mit aufgesetzter Kabinenhaube und einer voluminösen Cowling, unter der sich ein Sternmotor verbirgt. Stutzig macht das Leitwerk. Und der Flügel schließlich legt Kennern nahe, dass es sich hier um eine Variante der Messerschmitt Bf 109 handeln könnte. So ist es tatsächlich, auch wenn Fotos und technische Dokumente der beiden Sternmotorvarianten des Messerschmitt-Jägers zu den ganz großen Raritäten gezählt werden müssen.
Luftgekühlt, robust und unkompliziert
Am 18. Juni 1938 (manche Quellen sprechen vom 18. August) erhält das Messerschmitt-Stammwerk in Augsburg den Auftrag, eine Bf 109 auf einen luftgekühlten Sternmotor umzurüsten. Hintergrund zu dem Auftrag sind Überlegungen im technischen Amt des RLM gewesen, die sich mit der Entwicklung und dem Bau eines leistungsfähigen Triebwerks dieser Art speziell für Jagdflugzeuge auseinandersetzen. Offiziell geht es um günstigere Herstellungskosten gegenüber den im deutschen Jagdflugzeugbau in dieser Zeit üblichen Reihenmotoren. Außerdem gilt der Sternmotor als unkomplizierter, einfacher in der Wartung und vor allem unempfindlicher gegenüber Beschussschäden. All das sind durchaus nachvollziehbare Argumente.
Die tieferen Gründe für den Auftrag sind aber eher industriepolitischer Art. Die auf Reihenmotoren spezialisierten Hersteller Daimler-Benz und Jumo sind schon zu dieser Zeit weitgehend ausgelastet. Dagegen verfügen Bramo und BMW, beide produzieren Sternmotoren, noch über freie Fertigungs- und Entwicklungskapazitäten. Die gilt es schon im Hinblick auf die massive Aufrüstung möglichst umfangreich zu nutzen.
Deutscher Jäger mit US-Motor
Grünes Licht für den Entwurf eines neuen Jägers mit Sternmotor, der Focke-Wulf Fw 190, hatte es bereits im Juli 1937 gegeben. Nun will man erste grundlegende Erfahrungen bei der Verwendung eines Hochleistungs-Sternmotors in einem modernen Jagdflugzeug zu sammeln. Die Bf 109 ist da der richtige Versuchsträger – ein ebenso pragmatischer wie naheliegender Lösungsansatz, schließlich ist die ständig verbesserte Bf 109 ein bewährter Standardjäger der Luftwaffe. Daran ändert auch die laufende Entwicklung der Fw 190 nichts. Denn offiziell ist dieser Typ nur als Ergänzung gedacht. Für die Tests wählt die Versuchsabteilung in Augsburg den Erprobungsträger Bf 109 V21 (Werknummer 1770) aus, der ursprünglich zur Baureihe E-3 gehört. Da der eigentlich vorgesehene BMW-801-Doppelsternmotor jedoch noch nicht zur Verfügung steht, behelfen sich die Augsburger mit dem Einbau eines amerikanischen 14-Zylinder-Triebwerks Pratt & Whitney SC-G Twin Wasp. Angeblich handelt es sich bei diesem 1200 PS starken Antrieb um einen Reservemotor einer Junkers Ju 90, die ursprünglich für die South African Airways bestimmt war.
Die Anpassung des Sternmotors an den schlanken Rumpf der V21 verlangt umfangreiche Veränderungen der Zelle. Ein neuer Motorträger und eine neue Cowling müssen konstruiert werden. Weiter muss die gesamte vordere Rumpfsektion voluminöser gestaltet werden, um einen aerodynamisch sauberen Strömungsverlauf hinter dem Motor zu gewährleisten. Das zieht wiederum die Notwendigkeit nach sich, den Piloten höher und zugleich unter einer aufgesetzten Kabinenhaube zu positionieren, die, ähnlich wie bei der Fw 190, nach hinten aufgeschoben wird. Auch der Flügel-Rumpf-Übergang muss neu gestaltet werden, um ihn an die neuen Verhältnisse anzupassen. Der Leitwerksträger wird ebenfalls etwas modifiziert. Insgesamt sind die Rumpfmodifikationen im Rahmen des Umbaus so erheblich, dass nur wenig von der schlanken Silhouette der Bf 109 übrig bleibt.
Erste Flugtests
Am 18. August 1939, mehr als ein Jahr nach der Erteilung des Umbauauftrags, kann Werkspilot Dr. Wurster die Bf 109 V21 mit dem Pratt & Whitney einfliegen. In seinem Flugbericht Nr. 267 vom 25. des Monats gelangt er zu dem Ergebnis, dass die Sternmotor-Me hinsichtlich ihrer "... Stabilitätseigenschaften, Kunstflugeigenschaften und in den Steuerkräften ..." gegenüber der Bf 109 B keine Unterschiede aufweist. Das Abkippverhalten im Landefall sei sogar besser geworden. Lediglich der Ölkühler habe sich als nicht ausreichend wirksam entpuppt. Mehr detaillierte Unterlagen scheinen zum Thema aber leider nicht erhalten geblieben zu sein.
Schon unmittelbar nach dem Erstflug dünnt die Spur dieses Versuchsflugzeugs zunehmend aus. Den letzten Flug in Augsburg führte offenbar Werkspilot Fritz Wendel am 4. September 1939 durch. Schließlich gelangt die Bf 109 V21 zur Luftfahrt-Forschungsanstalt Hermann Göring e.V., die bei Kriegsbeginn nach Braunschweig-Völkenrode verlagert wurde. Hier erhält sie das Stammkennzeichen KB+II. An dem Flugplatz werden unter anderem auch angehende Flugbaumeister ausgebildet. Gleichzeitig nutzt ihn die DFS aus Darmstadt. Nachweisbar ist, dass mindestens zwei ihrer Piloten im Jahr 1940 die Bf 109 V21 noch geflogen haben, zuletzt am 24. September.
Über das weitere Schicksal des Versuchsflugzeugs ist bis heute nichts bekannt geworden. Wenigstens sind einige Werksaufnahmen erhalten geblieben, die einen guten Eindruck dieser ungewöhnlichen Maschine vermitteln.
Leider gilt das nicht für ihre Nachfolgerin Bf 109 X mit dem BMW 801. Zu diesem Flugzeug existiert zwar eine Reihe von Flugberichten, aber keinerlei aussagekräftigen Fotos. Warum dieser zweite Versuchsträger überhaupt in Angriff genommen wurde, gibt bis heute einige Rätsel auf. Obwohl er im C-Amts-Programm vom 1. Juli 1940 als Musterflugzeug mit BMW 801 geführt wird, war die Bf 109 X offenbar nicht als Konkurrenz zur Fw 190 vorgesehen. Spuren eines direkten theoretischen oder gar praktischen Vergleichs mit der Fw 190 sind nie aufgetaucht.
Sollte die Bf 109 X Lieferengpässen vorbeugen?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Messerschmitt, als der Auftrag für die Bf 109 X erteilt wird, nur ausloten sollte, ob sich bei Bedarf – etwa einem Ausfall des Focke-Wulf-Jägers oder wegen Lieferengpässen bei Reihenmotoren – diese "Marktlücke" von Augsburg aus schließen ließe. Wahrscheinlich wollte man Problemen vorbeugen. Es ist bekannt, dass bei der Fw 190 sehr lange nach dem optimalen Einbau und Anschluss des Motors gesucht werden musste. Außerdem gab es viele Probleme mit dessen Kühlung. Beides verzögerte erheblich ihre Großserienfertigung und Indienststellung.
Mangels belastbarer Beweise kann bis heute über die Beweggründe zum Bau der Bf 109 X nur spekuliert werden. Tatsache bleibt, dass die Messerschmitt AG Ende Juni 1940 einen BMW-801-A/0-Motor geliefert bekam und kurz darauf begann, die Zelle einer Bf 109 F-1 (Werknummer 5608) für dessen Aufnahme umzurüsten. Ähnlich wie bei der V21 waren auch hier entsprechende Umbaumaßnahmen und Neukonstruktionen nötig. Das Flugzeug erhielt unter anderem kürzere Tragflächen. Zusätzlich verbreiterten die Ingenieure die Spur des Hauptfahrwerks und verwendeten größere Laufräder.
Verschlechterung, Verbesserung
Am 2. September 1940 hebt Fritz Wendel mit der Bf 109 X zum Erstflug ab; ein weiterer Start mit Dr. Wurster im Cockpit folgt noch am selben Tag. Beide beurteilen die Flugeigenschaften als sehr ähnlich denen der Bf 109 E, lediglich die Stabilität um die Hochachse erscheint zu gering. Vielleicht haben Wendel und Wurster die Flugeigenschaften ein wenig durch die rosarote Messerschmitt-Brille gesehen. Ein späterer Flugbericht enthält jedenfalls Hinweise, dass Piloten der E-Stelle Rechlin das Flugverhalten des Flugzeugs nicht so optimistisch einschätzten, obwohl sich, analog zur V21, auch bei der Bf 109 X speziell das Abkippverhalten deutlich verbessert hatte.
Die Ursache dafür fand man später im Rahmen einer detaillierten Untersuchung heraus: "Durch den Stern-Motor wird das Feld um den Rumpf derart gestört, dass vor dem allgemeinen Abreißen (der Strömung, Anm. d. Red.) auf dem Innenflügel das Gebiet an der Flügelwurzel bis zu einem Abstand von ungefähr 50 cm vom Rumpf abreißt. Dadurch wird das Höhenruder derart gestört, dass bei normalem Durchziehen ein weiteres Überziehen nicht möglich ist", schrieb Dr. Wurster in arg holprigem Ausdruck. Der Flugbericht Nr. 452/14 vom 15. Februar 1941 schließt mit folgendem Resümee: "Es ist also durch eine aerodynamische Verschlechterung eine Besserung des Abkippverhaltens erreicht worden."
Ölverlust beim BMW
Ernsthafte Probleme bereitete wie bei der Fw 190 eigentlich nur der BMW-Motor, vor allem wegen des noch unvollkommenen Kommandogerätes. Während der ersten Flüge trat zusätzlich ein hoher Ölverlust auf, verstärkt durch die stark verbesserungsbedürftige Öltankentlüftung. Außerdem herrschten sehr hohe Kabinentemperaturen. Die Motorkühlung dagegen, das größte Problem der Focke-Wulf, blieb offenbar weitgehend unproblematisch.
Bis November 1940 hatte man Ölverlust und Entlüftung allem Anschein nach im Griff und konnte gleichzeitig mit 522 km/h die bis dahin höchste Geschwindigkeit erfliegen. Originalunterlagen zeigen, dass die Bf 109 X bis zum 30. Juni 1941 insgesamt 25 Flüge absolvierte und dabei sieben Stunden und 58 Minuten in der Luft war. Laut offiziellen RLM-Dokumenten wurden sämtliche Versuche ab 1. Oktober 1941 eingestellt. Bis zum Februar 1942 stand die Bf 109 X noch für mögliche Umbaumaßnahmen bereit. Ob es dazu kam, liegt ebenso im Dunkeln wie der weitere Verbleib dieses ungewöhnlichen und nach wie vor geheimnisvoll erscheinenden Flugzeugs.