Messerschmitt Me 262: So fliegt sich der erste einsatzfähige Strahljäger der Welt

Messerschmitt Me 262
So fliegt sich der erste Strahljäger der Welt

Inhalt von
Veröffentlicht am 24.12.2024

Die Zeit vergeht wie im Fluge – besonders für mich, wenn ich daran denke, dass bereits fast 20 Jahre vergangen sind, seit ich mit dem ersten der drei Me-262-Nachbauten zum Jungfernflug startete. Zu dem Zeitpunkt hatte ich dieses Projekt schon zehn Jahre als Testpilot begleitet – zuerst bei der Texas Airplane Factory des deutschstämmigen Herbert Tischler und ab 1999 bei Legend Flyers in Paine Field im Staat Washington. Über den Nachbau von ursprünglich fünf authentischen Maschinen und den vielen Hürden, die es zu meistern galt, habe ich ausführlich in meinem Buch "Projekt 262 – Tagebuch des Testpiloten" berichtet.

Uwe Glaser

Die heutigen Me 262 und ihre Besitzer

Zwischenzeitlich flogen drei Maschinen: die "Weiße 1", ein Doppelsitzer, der für die Collings Foundation in den USA in die Luft ging. Die nach ihrem Kennzeichen D-IMTT benannte "Tango Tango" gehört der Messerschmitt-Stiftung und ist ein sogenanntes Convertible, das innerhalb von ein paar Stunden von einem Einsitzer auf einen Zweisitzer umgerüstet werden kann. Schließlich flog die "Weiße 3", ebenfalls eine Version mit Umrüstmöglichkeit, die der Sammler Jerry Yagen für sein Military Aviation Museum in Virginia Beach in Auftrag gab. Ein viertes Flugzeug, die "Gelbe 5", wurde als statisches Exemplar gebaut. Sie steht heute im Evergreen Museum in Oregon. Nachdem sich für das fünfte kein Käufer fand, wurden Rumpf, Leitwerk und alle bis dato fertiggestellten Teile an die Messerschmitt-Stiftung zurückgegeben. Nach dem Tod von Steve Snyder, der das Projekt gestartet hatte, und dem Ausstieg von Lou Werner, erster Besitzer der "Weißen 1" als Partner in dem Unterfangen übernahm die Messerschmitt-Stiftung das gesamte Projekt und finanzierte den Bau der restlichen Messerschmitts.

Uwe Glaser

Die "Weiße 3"

Als Jerry Yagen seine Me 262 bauen ließ, war für ihn klar, dass seine "Schwalbe" die Maschine des Oberfähnrichs Guido Muttke "Weiße 3 III/JG7" repräsentieren sollte, denn er hatte Muttke während eines Besuchs in Deutschland kennengelernt, und die beiden Männer wurden Freunde. Die originale "Weiße 3", mit der Muttke am 25. April 1945 in Dübendorf in der Schweiz unter mysteriösen Umständen landete, steht heute im Deutschen Museum in München. Im Herbst 2011 überführte ich die "Weiße 3" von Paine Field, nördlich von Seattle, nach Suffolk, Virginia. Es war der wohl längste Überlandflug einer 262 seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Weil unsere von der FAA vorgeschriebenen Operating Limits nur VFR-Flüge bei Tage und bis 18 000 Fuß zulassen, sind wir mit dem Einsatz der Maschine eingeschränkt. Den 4700 Kilometer langen Flug von der West- an die Ostküste mit unserem Chefmechaniker Mike Anderson im hinteren Cockpit schafften wir in vier Tagen mit sechs Stopps ohne Schwierigkeiten. Seither bin ich in der glücklichen Situation, die "Weiße 3" regelmäßig auf Flugtagen in den USA und Kanada vorfliegen zu dürfen.

Uwe Glaser

Wie sich die Me 262 in der Luft hält

Wo immer ich mit der Schwalbe auftauche, kommt stets dieselbe Frage: "Wie fliegt der Vogel?" Während meiner Vorbereitungen für das Flugtestprogramm stellte ich genau diese Frage an alle ehemaligen Me-262- Piloten, die ich in dieser langen Zeit kennenlernte. In der Literatur und im äußerst dürftigen Flughandbuch war wenig Aufschlussreiches über Flugeigenschaften, Besonderheiten und Handlungsempfehlungen zu finden, und die Erinnerung der alten Kameraden ging auch nicht über Allgemeinheiten hinaus, geschweige denn ins technisch Eingemachte. Alle waren sich jedoch einig: "Es ist eine hervorragende Maschine, und sie fliegt so gut wie sie aussieht." Das Cockpit ist zwar eng und kurz – selbst mit ganz nach vorn gestellten Seitenruderpedalen muss ich meine Knie anziehen –, aber ergonomisch zufriedenstellend. Es ist logisch ausgelegt, mit einem traditionellen Layout des übersichtlichen Instrumentenbretts. Lediglich die beiden Anlasser auf der rechten Konsole sind etwas schwierig zu bedienen, aber mit verdrehtem Handgelenk und Ellbogen geht’s. Abweichend von den Originalen, änderten wir die Funk-tion des Hebels für die Höhenflossentrimmung. Dieser Hebel befindet sich auf der linken Konsole neben den beiden Schubhebeln. In Vollschubstellung wäre es leicht, aus Versehen die Trimmung zu betätigen und sich unmittelbar danach in einer kritischen Situation wiederzufinden. In den Nachbauten wird dieser Hebel dazu benutzt, eine weglaufende Trimmung auszuschalten.

Uwe Glaser

Ausgestattet mit modernen Triebwerken

Die Me-262-Nachbauten sind vollkommen authentisch. Sie wurden genauso gebaut wie die Originale, allerdings mit modernen Triebwerken vom Typ GE 610, wie sie im Learjet 23/24/25 verwendet werden. Die Aggregate liefern etwa 60 Prozent mehr Schub (3100 lbs) als das Jumo 004 (1900 lbs). Weil die Struktur und das Steuersystem nicht geändert wurden, war klar, dass die ursprünglich festgelegten Grenzwerte für Geschwindigkeit und g-Limits auch für die Nachbauten zutreffend sein würden. So wünschenswert es für einen Piloten auch ist, mehr Schub zur Verfügung zu haben, so problematisch wirkt sich der Ausfall eines Triebwerks beim Start oder in der Luft auf die Kontrollierbarkeit der Maschine aus. Die resultierende Schubasymmetrie, am Boden mit Seitenruder, in der Luft mit Seiten- und Querruder ausgleichbar, verlangt bei höherem Schub natürlich höhere Mindestgeschwindigkeiten. Intuitiv war mir klar, dass die Mindestgeschwindigkeit am Boden (VMCG) über der normalen Abhebegeschwindigkeit der Me 262 liegen würde und deshalb ein Start mit Vollschub nicht ratsam sein konnte.

Weil uns der Triebwerkshersteller keine Daten liefern wollte, aus denen wir einen Vergleich mit den Jumos hätten ziehen können, mussten wir empirisch vorgehen: mittels Rollversuchen mit verschiedenen Schubwerten, um die Abhebegeschwindigkeit nach einer Rollstrecke von etwa 1000 Metern zu erreichen. Das resultierte in einer äquivalenten Drehzahl von 94 Prozent, das heißt, vom Loslassen der Bremsen bis zum Erreichen der Mindestkontrollgeschwindigkeit in der Luft (VMCA) nach dem Abheben gehe ich mit dem Schub nicht über 94 Prozent hinaus. Danach kann ich Vollschub für Beschleunigung und Steigflug nutzen. Die Startprozedur im Einzelnen: Zündung "Ein", Generatorschalter "Ein", Startschalter "Ein" – bei zehn Prozent Drehzahl Schubhebel auf Leerlauf. Bei Leerlauf (49,5 Prozent) Zündung "Aus". Höchstdrehzahl 100 Prozent. Die Drehzahlinstrumente zeigen Prozentan. Die Höchsttemperatur beim Anlassen liegt bei 872 Grad Celsius für fünf Sekunden, die normale Betriebstemperatur – abhängig von der Drehzahl – zwischen 400 und 700 Grad.

Uwe Glaser

Kraftvoller Start

Da die Me keine Bugradsteuerung hat, geschieht das Rollen und Manövrieren am Boden sowohl mit asymmetrischem Bremsen als auch mit asymmetrischem Schub. Beim Anrollen zum Start muss man insbesondere bei Seitenwind eine der Bremsen kurz antippen, um die Richtung zu halten. Ab 45 Knoten genügen Korrekturen mit dem Seitenruder. Mit einer Triebwerksleistung von 94 Prozent wird man beim Lösen der Bremsen spürbar in den Sitz gedrückt. Die Beschleunigung ist selbst bei reduziertem Schub beeindruckend, und 90 Knoten liegen schnell an. Ein geringer Höhenruderausschlag bringt das Bugrad in die Luft, und bei etwa 110 Knoten hebt das Flugzeug im Bodeneffekt ab. Das Fahrwerk wird sofort eingefahren, die maximale Geschwindigkeit dafür ist 188 Knoten. Da das schwere Bugrad nach hinten einfährt, verlagert sich der Schwerpunkt, was ein geringes Aufbäumen zur Folge hat, das aber leicht mit Höhenruder und Trimmung ausgeglichen werden kann. Bei 160 Knoten werden die für den Start auf 20 Grad gestellten Landeklappen eingefahren. Schon beim Einfahren des Fahrwerks wird die Mindestkontroll-Geschwindigkeit (VMCA) für den Einmotorenflug von 143 Knoten erreicht, und die Triebwerke können auf volle Leistung gebracht werden. Mit einer Anfangsgeschwindigkeit von 250 Knoten liegt die Steigrate zwischen 6500 und 7000 ft/min. Beim Erstflug – noch mit ausgefahrenem Fahrwerk – war ich von der Stabilität der Maschine sofort beeindruckt. Voll ausgetrimmt liegt sie wie ein Brett in der Luft und lässt sich bei Geschwindigkeiten unter 280 Knoten leicht um alle drei Achsen bewegen. Allerdings steigen die Steuerdrücke mit zunehmender Fahrt erheblich an, und das rein mechanisch wirkende Steuersystem verlangt einiges an Muskelkraft – besonders für die Querruder. Ursprünglich hatte Messerschmitt Flettner-Hilfsruder für alle Steuerflächen vorgesehen, um die notwendige Kraft zu mindern. Aber diese Ruder führten zu Flattererscheinungen und wurden deshalb mit der Steuerfläche vernietet oder mit Spannschrauben festgestellt.

Uwe Glaser

Eigenarten und Fliegen im Grenzbereich

Eine besondere Eigenart der an der 262 verbauten sogenannten Frise-Querruder überraschte mich: Bis zum halben Ausschlag steigt der Steuerdruck an und fällt dann plötzlich völlig weg! Als es mir das erste Mal passierte, fühlte es sich zunächst so an, als ob mir der Knüppel aus der Hand gerissen würde. Die Rollrate erhöhte sich auf das Vierfache und mit ihr mein Adrenalinausstoß! In alten Flugtestberichten war nichts Genaues über dieses Phänomen zu finden, aber meine Erfahrung mit allen Maschinen zeigt, dass die Messerschmitt diese Charakteristik im gesamten Geschwindigkeitsbereich aufweist. Mit etwas Übung ist das jedoch leicht zu meistern. Beim Fliegen im Grenzbereich zeigt die Schwalbe in jeder Konfiguration, ob mit oder ohne Landeklappen, Fahrwerk ein- oder ausgefahren, ein gutmütiges Verhalten bis zum Strömungsabriss. Etwa fünf bis zehn Knoten vorher spürt man ein sehr mildes Schütteln, und etwa drei Knoten vor dem Stall reduziert sich der Höhenruder-Steuerdruck spürbar. Dann nickt die Maschine kurz und fliegt nach minimalem Höhenverlust sofort wieder. Die Querruder bleiben bis zum Strömungsabriss effektiv, was sich besonders gut beobachten ließ, als wir beide Tragflächen mit Wollfäden bestückten. Der Strömungsabriss läuft praktisch lehrbuchartig ab: von der Tragflächenhinterkante am Rumpf nach vorne und dann nach außen auf die Flügelspitze zu. Aufgrund von FAA-Beschränkungen, die uns vor dem Flugtestprogramm auferlegt wurden, konnten wir den Rahmen der Flugleistungen nicht auf die wirklichen Limits der Maschine ausdehnen. So mussten wir uns mit einer Höchstgeschwindigkeit von 400 Knoten(rund 740km/h) zufriedengeben. Aber das tat der Freude keinen Abbruch: Airshows werden normalerweise mit 250 bis 300 Knoten geflogen, und in diesem Geschwindigkeitsbereich ist der Strahljäger gut zu manövrieren.

Uwe Glaser

Vorbereitung auf die Landung

Der Landeanflug wird mit 250 Knoten und einem typischen 360- Grad-Overhead-Pattern eingeleitet. Man kommt in 1500 Fuß über dem Aufsetzpunkt an, nimmt die Triebwerke auf Leerlauf zurück und leitet eine 180-Grad-Kurve zum Gegenanflug mit 60 Grad Querlage ein. Nach dem Ausrichten sollte die Fahrt auf 180 Knoten reduziert sein, sodass das Fahrwerk ausgefahren werden kann. Beim Einkurven auf den Endanflug und bei 165 Knoten werden die Landeklappen auf 20 Grad und im Endanflug auf 50 Grad gefahren. Idealerweise hält man einen Gleitpfad von drei Grad mit konstanter Geschwindigkeit und Schubkorrekturen ein. Die Anfluggeschwindigkeit bei einem typischen Landegewicht von 10 000 lbs (4500 kg) beträgt 118 Knoten – plus Korrekturen für Seitenwind oder Böen, was einer Sinkrate auf einem Drei-Grad-Gleitpfad von 600 ft/min entspricht. Beim Abfangen im Bodeneffekt nimmt man die Triebwerke langsam auf Leerlauf zurück, und kompensiert das Nicken mit zunehmendem Höhenruderausschlag, um mit etwa 95 Knoten aufzusetzen. Für den sicheren Betrieb der Me 262 benötigt man eine Bahnlänge von mindestens 1500 Metern.

Uwe Glaser

Ein Flugzeug seiner Zeit voraus

Nach nunmehr gut 120 Stunden Flugzeit auf diesem legendären Strahljäger kann ich ohne Vorbehalt sagen, dass dieser Vogel allein aufgrund seiner Flugeigenschaften und -leistungen seiner Zeit um Jahre voraus war. Auch wenn ich der Vergangenheit dieses Flugzeugs eher nüchtern und unpathetisch gegenüberstehe, so lässt es mich dennoch nicht kalt. Dass ich als Deutscher das Privileg habe, diese zur Legende gewordene Maschine heute in Friedenszeiten in Amerika fliegen zu dürfen und dazu beitragen kann, ein Stück deutscher Luftfahrtgeschichte am Leben zu erhalten, erfüllt mich mit Stolz und Dankbarkeit.