
In den 1950er und 1960er Jahren schien die Zukunft den Senkrechtstartern zu gehören. In den Konstruktionsbüros weltweit ersannen die Ingenieure Konfigurationen aller Art. Auch die amerikanischen Streitkräfte waren sehr interessiert und gaben 1959 eine Ausschreibung heraus. Da die eingereichten Entwürfe nicht alle Anforderungen erfüllten, entschied man sich, im Rahmen eines Tri-Service-VTOL-Programms unterschiedliche Konstruktionen im Flug zu testen. US Air Force und US Army gaben sowohl ein Kippflügelmuster (XC-142 von Ling-Temco-Vought, Ryan und Hiller) als auch ein Modell mit vier Kipppropellern (X-19 von Curtiss-Wright) in Auftrag.
Die Verantwortung für eine Konstruktion mit Mantelpropellern oblag der US Navy. Das Bureau of Naval Weapons erhielt diesbezüglich Angebote von Bell Aerosystems und Douglas Aircraft. Nach deren Analyse durch ein Team unter George A. Spangenberg empfahl Admiral Paul D. Stroop den Douglas-Entwurf als geeignetere Wahl. Er habe eine bessere Kraftübertragung, Schleudersitze, eine einfachere Elektrik und sei generell ausgereifter als das Konkurrenzmuster. Zudem war das Angebot etwas günstiger. Der stellvertretende Verteidigungsminister Roswell L. Gilpatric änderte die Entscheidung allerdings überraschend zugunsten von Bell ab. Dies führte zu kritischen Anhörungen im Kongress. Gilpatric sagte dabei, dass er im Falle eines „hochriskanten“ Projekts den Anbieter mit mehr „Kompetenz und Erfahrung“ bevorzugt habe.
Bell konnte in der Tat seine Erfahrung mit Programmen wie der X-14 in die Waagschale werfen und hatte bereits seit 1953 das Potenzial von Mantelpropellern ausgelotet. 1957 hatte das Unternehmen einen Studienvertrag von der Navy hinsichtlich eines Kampfzonentransporters mit dieser Antriebsart erhalten und dabei unter anderem Windkanalversuche durchgeführt. Weitere Entwurfsarbeiten folgten, sodass man auf die Ausschreibung der Navy gut vorbereitet war.
Propellertests im Windkanal der NASA
Das von Bell vorgeschlagene Modell D-2127 wies vier ummantelte Propeller (Stahlholm und Glasfaserform) mit einem Durchmesser von je 2,13 Metern auf. Montiert waren die Antriebseinheiten vorn direkt seitlich am Rumpf und hinten an Stummelflügeln. Sie konnten mit bis zu 4,5 Grad pro Sekunde von der Senkrechten in die Waagrechte gedreht werden und produzierten so je nach Flugzustand Auftrieb und/oder Vortrieb. Im Schwebeflug erfolgte die Steuerung durch eine Anstellwinkeländerung der Propeller (Längs- und Querachse) sowie durch Ruder hinter den Props (Hochachse). Im Flugzeugmodus übernahmen die Elevons die Rolle von Höhen- und Querruder, während die Seitenruderfunktion durch Anstellwinkeländerungen der Props ausgeübt wurde.
Angetrieben wurden die Propeller der X-22A durch vier Wellenturbinen des Typs YT58-GE-5D von General Electric. Sie waren paarweise vor den Flügelwurzeln untergebracht, und ihre Abgaskanäle waren 65 Grad nach unten gebogen, um zusätzlichen Auftrieb zu liefern. Ihre Dauerleistung von je 782 Kilowatt wurde über nicht weniger als zehn Getriebe und fünf Wellen verteilt. Der Tank im kastenförmigen Rumpf fasste 1760 Liter.
Pilot und Copilot saßen in einem großzügig verglasten Cockpit auf Schleudersitzen des Typs Escapac 1-D-1. Sie hatten konventionelle Steuerorgane mit einem zusätzlichen Blattverstellhebel und einem Schalter für die Verstellung der Antriebseinheiten, die über einen weiten Geschwindigkeitsbereich möglich war.
Der Grundentwurf wurde nach der offiziellen Auftragserteilung im November 1962 im Windkanal optimiert. Unter der Leitung von Vincent B. Paxhia begann man im Jahr 1963 mit dem Bau der beiden bestellten Versuchsmuster wie auch mit der Errichtung spezieller Teststände. Das komplexe Steuersystem mit seinem künstlich erzeugten Feedback der Steuerdrücke und einer automatischen Stabilisierungsfunktion wurde im Labor geprüft. Auch ein Teststand für die Antriebe wurde errichtet.
Hydraulikleck führt zur Bruchlandung
Die erste X-22A (BuAer-Nummer 151520) rollte schließlich am 25. Mai 1965 aus der Halle in Wheatfield (Niagara Falls, Bundesstaat New York). Sie wurde zunächst für statische Belastungsversuche verwendet. Flugzeug Nr. 2 (BuAer-Nr. 151521), das Ende Oktober 1965 fertig wurde, nutzte Bell 100 Stunden lang für Antriebsversuche am Boden. Nach diesen Vorarbeiten führten Projekttestpilot Stanley Kakol und Paul Miller am 17. März 1966 den ersten Schwebeflug in Höhen bis zu acht Metern durch. Er dauerte etwa zehn Minuten und umfasste eine 180-Grad-Drehung.
Nach weiteren Schwebeflügen folgten im Juni Versuche zu den Kurzstarteigenschaften, wobei die Antriebseinheiten auf 30 Grad geschwenkt wurden. Damit waren bei Geschwindigkeiten um 220 km/h Steigraten von 15 m/s möglich. Der erste Flug mit den Antriebseinheiten in horizontaler Position erfolgte am 22. Juli. Die Lebensdauer der ersten X-22A war aber nur kurz. Am 8. August 1966 leuchtete während eines Testflugs nahe des Niagara Falls International Airport eine Hydraulikwarnleuchte auf. Obwohl Kakol und Miller noch versuchten, zum Platz zurückzukehren, mussten sie angesichts des rapiden Flüssigkeitsverlusts eine Notlandung auf einem Feld einleiten. Wegen der hohen Sinkrate brach der Rumpf auseinander. Als Ursache für den glimpflich ausgegangenen Unfall wurden Ermüdungsrisse in den Hydraulikleitungen aus Stahl festgestellt.
Damit stand für die weiteren Versuche nur noch die zweite Maschine zur Verfügung, die einige kleine Modifikationen wie Wirbelgeneratoren an den Ummantelungen der Propeller erfuhr. Sie führte am 26. Januar 1967 ihren ersten Schwebeflug durch. Der erste Senkrechtstart mit einem Übergang in den Horizontalflug gelang am 3. März. In den folgenden zwei Jahren kamen bei 220 Flügen etwa 110 Flugstunden zusammen. 386 Senkrechtstarts und 185 Transitionen wurden gezählt. Im Januar 1968 stand dann die erste militärische Überprüfung auf dem Plan. Dazu kamen 13 Piloten und Ingenieure aus den drei Teilstreitkräften zu Bell. Sie führten innerhalb von drei Wochen 14 Flüge mit 31 Transitionen und fünf Kurzstarts durch.
Die Kommentare der Piloten zur X-22A waren dabei durchweg positiv. Eine „sehr gute positive statische und dynamische Stabilität im Schwebeflug außerhalb des Bodeneffekts“ wurde dem Muster ebenso bescheinigt wie „ausgezeichnete Steuerfolgsamkeit um alle Achsen“. „Alle Schwebeflugmanöver sind viel einfacher als bei den meisten Hubschraubern“, so die Einschätzung. Kurzstarts und Kurzlandungen seien „mit Leichtigkeit“ durchzuführen, und bei einem Anstellwinkel von fünf Grad sei die Sicht ausgezeichnet gewesen. „Das Flugzeug im Übergangsbereich (von konventionellem zum Hubschrauberflug) zu fliegen, ist sehr komfortabel … Es gibt keine speziellen Verfahren zu beachten.“ Auch für das Stabilisierungssystem gab es Lob, da es „den Piloten im Schwebeflug und im Übergang immens unterstützt“.
Im Laufe des Jahres 1968 erhielt die X-22A auch ihr sogenanntes Variable Stability System mit zusätzlichen elektrohydraulischen Stellern. Mit diesem war es möglich, das Steuer-Feeling des Piloten durch diverse Filter zu beeinflussen und so das Verhalten unterschiedlicher Flugzeuge zu simulieren. Eine zweite Military Preliminary Evaluation wurde im April 1969 vorgenommen. Dabei gelang mit einer Stunde und 20 Minuten auch der längste Flug. Am 19. Mai übergab Bell dann die X-22A formell an die US Navy.
Weitere Forschungsprogramme bei Calspan
Zu diesem Zeitpunkt war die Senkrechtstarter-Euphorie längst verflogen. Mehrere Vorschläge von Bell für eine Weiterentwicklung des Konzepts hin zu einem in Serie gebauten Muster zum Beispiel für Transportaufgaben oder die Bekämpfung von U-Booten hatten keine Chance auf Realisierung.
Als Versuchsflugzeug war die X-22A aber durchaus weiter gefragt. Ihren Betrieb überließen die Militärs allerdings der Calspan Corporation in Buffalo. Dort wurden ab Mitte August 1969 erst einmal einige Piloten der Streitkräfte und der NASA auf dem Muster ausgebildet. Es folgten Projektaufträge zu speziellen Aufgabenstellungen. Von August 1971 bis Februar 1972 wurden zum Beispiel die Flugeigenschaften bei Kurzlandungen untersucht. Von Juni 1972 bis Februar 1973 ging es um die Flugeigenschaften beim Landeanflug, insbesondere um die Rollsteuerung. Das Verhalten beim Übergang vom Senkrechtstart in den Instrumentenflug wurde von Oktober 1973 bis April 1975 untersucht. Weitere Navy-Programme folgten von Februar 1977 bis März 1978 und von November 1978 bis Mai 1980. Danach hatten Absolventen der Testpilotenschule der US Navy bis Oktober 1984 mehrfach Gelegenheit, die X-22A zu fliegen. Insgesamt kamen 501 Flüge und 405 Flugstunden zusammen, bei denen nicht weniger als 1307 Transitionen durchgeführt wurden. Ende 1987 ging die Maschine schließlich an das Niagara Aerospace Museum am Niagara Falls International Airport. Dort befindet sich die „151521“, das letzte von Bell im ursprünglichen Werk gebaute Flugzeug, noch heute.
Technische Daten

Bell X-22A
Hersteller: Bell Aerosystems, Niagara Fall, N.Y., USA
Typ: Versuchsflugzeug
Besatzung: 2
Antrieb: 4 General Electric YT58-GE-8D
Startleistung: 4 x 930 kW (1250 shp)
Dauerleistung: 4 x 780 kW (1050 shp)
Länge: 12,06 m
Höhe: 6,30 m
Spannweite hinten: 11,96 m
Breite über Antriebsgondeln vorn: 7,00 m
Flügelfläche gesamt: 39,5 m2
Leermasse: 5270 kg
Zuladung im Rumpf: 545 kg
Kraftstoff: 1760 l
maximale Startmasse: 6935 – ca. 8275 kg
Höchstgeschwindigkeit: ca. 410 km/h
Dienstgipfelhöhe: 8475 m
Steigrate: 23,1 – 32,5 m/s
Reichweite: 720 km
Klassiker der Luftfahrt Ausgabe 03/2016