Um die Geschichte der Avro Lancaster zu beschreiben, muss man etwas weiter zurückgehen. 1936 legte das Air Ministry die Ausschreibung P13/26 verschiedenen britischen Flugzeugherstellern vor. Darunter waren Avro, Boulton Paul, Bristol, Handley Page, Shorts und Vickers. Die Regierung forderte einen schweren Bomber, der bis zu 4000 Kilogramm Bomben bei einer Geschwindigkeit von mindestens 443 km/h über mehr als 3000 Kilometer transportieren sollte. Weitere Inhalte des Pflichtenhefts waren, dass zwei Torpedos im Rumpf Platz finden und bis zu 16 voll ausgerüstete Soldaten befördert werden können sollten. Am Ende der Abgabefrist legten nur Avro und Handley Page Entwürfe vor.
In Woodford entwickelte das Team rund um Roy Chadwick daraufhin die Avro 679 Manchester, einen zweitmotorigen Bomber, dessen auffälligstes Merkmal die drei Seitenruder waren. Im Juli 1939 erfolgte der Erstflug, und bereits Ende 1940 erhielten die ersten RAF-Staffeln das neue Flugzeug.
Vier Motoren sind besser als zwei
Kurz nach der Einführung bei der 207 Staffel des Bomber Command im November 1940 zeigte sich, dass die Leistung der Motoren nicht ausreichte. Hinzu kam, dass die zwei Rolls-Royce (RR) Vulture extrem anfällig waren. Avro und der Motorenhersteller unternahmen Versuche, die Antriebe doch noch zuverlässiger zu machen, jedoch ohne Erfolg. Sogar die Nutzung von Bristol-Centaurus- oder Napier-Sabre-Motoren wurde überdacht, jedoch schnell wieder verworfen. RR-Chef E. H. Hives sah keine andere Möglichkeit, als selbst beim Air Ministry einen Plan für eine viermotorige Version der Manchester vorzuschlagen. Die neuen Merlin-X-Motoren waren dafür die erste Wahl. Für Avro war der Vorstoß von RR entscheidend, denn Chadwick hatte sich bereits vor der Fertigung der Manchester mit der Idee eines viermotorigen Bombers beschäftigt, und so war es Avro möglich, Ende 1940 innerhalb von drei Wochen die Manchester III zu entwerfen. An den verlängerten Flügeln kamen die neuen RR-Kolbenmotoren zum Einsatz. Ein konstruktiver Vorteil war, dass sie als gesamte Einheit inklusive Motorträger an die Tragflächen montiert werden konnten.
Bestnoten für die "Lanc"
Chadwick gab nach erfolgreichen Testläufen am 5. Januar 1941 die Freigabe zur Flugerprobung. Auf dem Dokument ist zu diesem Zeitpunkt erstmals der Name Lancaster zu finden. Der Prototyp BT308 hob vier Tage später auf dem Flugplatz Ringway (heute Manchester Airport) mit Testpilot H. A. "Sam" Brown und Copilot Sydney Albert "Bill" Thorn im Cockpit ab.
Nach dem 40-minütigen Erstflug zeigten sich die Testpiloten begeistert von den Flugeigenschaften des überarbeiteten Musters. Lediglich die Längsstabilität während des Flugs wurde etwas bemängelt. Dieses Problem vermuteten die Konstrukteure bereits schon im Vorfeld und fanden erneut eine schnelle Lösung. Die drei Seitenleitwerke wurden verworfen, und bereits der zweite Lancaster-Prototyp, mit der Kennung DG595, verfügte über das markante neue doppelte Leitwerk. Am 13. Mai 1941 erfolgte der Erstflug des überarbeiteten Prototyps. Neben der Eliminierung des dritten Leitwerks wurde das Seitenruder vergrößert und die obere Kanzel verbessert; das Flugwerk (Rumpf, Flügel, Leitwerk und Fahrwerk) bestand aus bereits serienmäßig gefertigten Einzelteilen.
Die Testflüge der DG595 verliefen außerordentlich gut und ohne weitere Zwischenfälle. Die Leistung der Bomber lag weit über Chadwicks Vorhersagen. Er selbst war darüber erstaunt. 18 Tage nach dem Erstflug des zweiten Prototyps erhielt das Aeroplane and Armament Experimental Establishment in Boscombe Down den Versuchsträger zur Erprobung. Dort vergab man die beste je vergebene Beurteilung für den neuen schweren Bomber. Die "Lanc" eignete sich hervorragend für den Einsatz, und die Führung der RAF bestellte das neue Muster umgehend. Damit war das Rückgrat des britischen Bomber Command geboren.
Lizenzbau in Kanada
Nun standen das Air Ministry und Avro vor einer neuen Herausforderung: Wie sollten sie das neue, heiß begehrte Muster schnell genug und in ausreichender Stückzahl produzieren? Um die Kapazitäten zu erhöhen, traf man die Entscheidung, die Lancaster zusätzlich in Kanada herzustellen. Am 18. September 1941 wurde der Vertrag für die Lizenzfertigung unterschrieben, und die Lancaster X (kanadische Bezeichnung) wurde auf Basis der britischen Mk-1-Version gefertigt. Die eigens gegründete Firma bekam den passenden Namen Victory Aircraft Limited. Um schnellstmöglich über genügend neue Bomber zu verfügen, wurde parallel in Großbritannien die Lancaster Production Group gegründet. Die aus verschiedenen Produktionsstätten und Subunternehmen bestehende Gruppe beschäftigte insgesamt 131 000 Mitarbeiter. Bereits Ende 1942 verließen pro Monat 91 Bomber die Werkshallen bei fünf Herstellern (Avro, Metropolitan-Vickers, Vickers-Armstrong, Austin Motors und Armstrong Whitworth). Die Fertigungszahlen steigerten sich aufgrund der Zusammenschlüsse enorm, und so wurden allein im August 1944 insgesamt 293 neue Flugzeuge geliefert. Die Produktionszahlen der Lancaster wurden während des Kriegs nur noch von denen der Supermarine Spitfire und Hawker Hurricane übertroffen. In der Stückzahl lag sie am Ende doch noch hinter der Vickers Wellington. Diese wurde bereits seit 1936 produziert.
Bomben auf Essen
Der erste Einsatz in der RAF erfolgte am 3. März 1942, als die 44. Staffel Minen in der Bucht von Helgoland legte. Ihre Feuertaufe als Bomber bestand die Lancaster sieben Tage später, als zwei Flugzeuge je 2291 Kilogramm Brandbomben auf Essen abwarfen. Bei einigen Spezialeinsätzen festigte die Lancaster ihren legendären Ruf. Im Rahmen der Operation Chastise zerstörten sie 1943 sechs Staudämme in Deutschland. Bis zum Ende des Kriegs warfen die Lancaster rund 618 350 Tonnen Bomben ab. Heute sind weltweit noch knapp 20 Lancaster in Museen zu sehen. Davon fliegen zurzeit lediglich noch zwei Exemplare.
Technische Daten
Lancaster Mk I
Hersteller: A. V. Roe & Co. Ltd. (Avro)
Typ: schwerer Bomber
Antrieb: vier Rolls-Royce Merlin XX (1460 PS) oder Merlin 24 (1649 PS)
Länge: 21,11 m
Höhe: 6,00 m
Spannweite: 31,09 m
Flügelfläche: 120,80 m²
Leermasse: 16 700 kg
max. Startmasse: 31 750 kg
Höchstgeschwindigkeit: 460 km/h in 3500 m Höhe
Einsatzreichweite: 2660 km
Bewaffnung: zehn 303-Browning-MGs (7,7 mm)
FLUG REVUE Ausgabe 03/2016