Der Testpilot im Cockpit des Starfighters drückt den ZELL-Hauptschalter. Mit einer kaum registrierbaren Verzögerung zündet das Raketentriebwerk unter dem Heck der F-104G. Der Start sieht absolut spektakulär aus. "Die Beschleunigung lag bei 2 g und ließ sich locker ertragen. Das Flugzeug reagierte sofort auf den Seitenwind mit einer Rollbewegung nach Lee. Gleichzeitig drehte die Nase in den Wind. Während ich mich vorher darauf konzentriert habe, dass ich schnell genug zum Schleudersitzgriff komme, falls nach dem Drücken des ZELL-Knopfes irgendwas schiefläuft, versuchte ich jetzt, gegenzusteuern. Aber das war wie erwartet zunächst bis etwa 100 bis 120 Knoten wirkungslos . Dann reagierte die Maschine und tat genau das, was man ihr befahl. Ich wartete die Brennzeit ab und beobachtete, wie die Geschwindigkeit stieg und sich nach dem Abschalten des Nachbrenners stabilisierte. Dann folgten ein kurzer Check des Flugverhaltens mit dem Booster als Außenlast unter dem Rumpf, der Anflug des Abwurfplatzes aus einer großen Platzrunde und der Abwurf des leer gebrannten Boosters", erinnert sich Horst Philipp heute im Gespräch mit der FLUG REVUE. Damit führte am 5. Juli 1966 der erste deutsche Testpilot in Lechfeld den Raketenstart eines Starfighters durch.
ZELL-Alarmrotte mit Nuklearwaffen

Was selbst heute noch wie Science Fiction klingt, galt schon früh als beschlossene Sache. Die deutsche F-104G war als Nuklearwaffenträger ein wichtiger Teil der NATO-Strategie der "massiven Vergeltung"; jedem Angriff auf das Bündnis sollten umfangreiche Gegenschläge folgen. Die für den Starfighter nötigen Flugplätze mit ihren langen Betonpisten waren daher als Primärziele des Gegners besonders verwundbar. Daher vereinbarten die deutschen Auftraggeber bereits im Entwicklungs- und Produktionsvertrag mit Lockheed im Jahr 1959 Möglichkeiten, die Abhängigkeit von den Fliegerhorsten zu verringern. Der Start aus dem Stand mit zusätzlichen Raketen oder mit Hilfe von Katapulten wurde untersucht. Raketenstarts hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon bei dem unbemannten Flugkörper Martin Matador bewährt und waren bei den Flugzeugmustern F-84G und F-100 erprobt worden.
Im Jahr 1963 schloss Deutschland schließlich einen Vertrag mit Lockheed zur Entwicklung des ZELL-Systems (Zero Length Launch) für den Starfighter. Im selben Jahr erfolgten bereits erste Abschussversuche auf der Edwards Air Base in Kalifornien. Das Flugzeug sollte mit Hilfe der Rakete Rocketdyne RS-B 202 aus einem Startgestell heraus auf Fluggeschwindigkeit gebracht werden. Als Treibstoff der 4,06 Meter langen Feststoffrakete dienten 1223 Kilogramm Ammoniumnitrat. Das Gesamtgewicht betrug 1905 Kilogramm. Zunächst simulierten mit Beton gefüllte Stahlgestelle die Masse, die Abmessungen und die Schwerpunktlage des Kampfflugzeugs. Diese Probeschüsse verliefen so weit zufriedenstellend, dass Lockheed-Testpilot Edward Brown vier Starts mit einer F-104G absolvieren konnte. Dabei kamen ein von der US-Firma entwickeltes Startgestell und der Starfighter mit der Kennung DA+102 (Werknummer 2002, die zweite von Lockheed gebaute F-104G) zum Einsatz. Die Änderungen des Flugzeugs betrafen den ZELL-Hauptschalter im Cockpit, Vorrichtungen für die Raketenaufhängung, Verstärkungen der Zelle und ein modifiziertes Kraftstoffsystem, das verhinderte, dass Kerosin während der Startphase zurück in die Tanks lief.
Seitenwindtests in Lechfeld

Auch hier gab es keine Zwischenfälle, so dass vier weitere Starts mit einem von VFW entwickelten, geländetauglichen Startgestell erfolgten. Diese zweite Phase endete am 22. Juli 1964. Allerdings gab es Bedenken bezüglich der Anfälligkeit bei Seitenwind, da das Flugzeug unmittelbar nach dem Start noch nicht aerodynamisch steuerbar, sondern rein ballistisch stabilisiert war. Diese Problematik sollte in einem dritten Testabschnitt gelöst werden, er fand allerdings nicht in den USA, sondern im deutschen Lechfeld statt. Aufgrund seiner Größe und der angrenzenden bundeseigenen Gebiete eignete sich der Fliegerhorst des Jagdbombergeschwaders 32 dazu am besten.
Hier sollte mit Philipp auch ein Pilot der E-Stelle ZELL-Starts absolvieren. "Die Vorteile, die ich gegenüber dem Lockheed-Piloten hatte, waren, dass ich vorher schon sehen konnte, was abläuft. Zudem hatte ich einen Martin-Baker-GQ-7-Sitz in der Maschine, während der Lockheed-Pilot noch mit dem C-2-Sitz flog, dessen Leistung – er hatte keine Null-Null-Fähigkeit – nicht ausreichte. Der Lockheed-Pilot besaß zusätzlich in seinem Rückenfallschirm eine Auszugsrakete – eine abenteuerliche Geschichte. Die hätte helfen sollen, dass er hoch genug gezogen wird, damit sich der Fallschirm noch öffnet. Der Erprobungsstelle war aber das Risiko viel zu groß, der Pilot hatte nicht die geringste Chance mit dem Sitz." Die E-Stelle führte daher im Sommer 1965 in Manching Tests mit dem neuen Rettungsmittel aus Großbritannien durch, das anschließend in die gesamte deutsche Starfighter-Flotte eingerüstet wurde.
Am 20. Februar 1966 kam der mittlerweile in Manching modifizierte Starfighter mit der Nummer 2002 (und dem neuen taktischen Kennzeichen DB+127) in Lechfeld an. Das Startgestell wurde am Ende des Fliegerhorstes im Nordosten platziert. Die Startrichtung verlief parallel zur Startbahn in Richtung Süden. Die hintere Betonfläche des Gestells sorgte dafür, dass die Abgase nicht nach vorne geleitet und vom J79-Triebwerk der F-104 angesaugt werden konnten. In der Mitte befanden sich Stützpunkte für das Hauptfahrwerk und ein Rahmen in Form eines Hufeisens mit einem Rückhaltestab, der die F-104 mit dem Gestell verband. Er brach bei einer Zuglast von rund 11000 Kilogramm und gab das Flugzeug frei.
Die Rakete brennt acht Sekunden

Der Ablauf der Starts war immer gleich. Zunächst machte das Team den Booster separat fertig. "Er war temperaturempfindlich und musste auf 27 Grad gehalten werden", sagt Philipp. Dann schob die Bodenmannschaft den Jet über Rampen auf die Stützpunkte. Die Maschine stand jedoch nicht auf den Rädern, sondern ruhte auf den Aufbockpunkten des Hauptfahrwerks. Nach den Vorflugchecks und dem Betanken des Flugzeugs hängte die Crew den Booster an. "Er wurde mit Theodoliten eingestellt, damit er den richtigen Schubvektor hatte. Dabei war er in eine Heizmatte eingewickelt, um die Temperatur zu halten. Ansonsten hätten wir andere Schubwerte gehabt. Dann wurde die Startstellung in einem Winkel von 20 Grad eingenommen. Alles war bereit für den Start, der Pilot stieg ein und machte sein Pre-Flight im Cockpit."
Auf diese Weise absolvierte Brown zwischen 4. Mai und 7. Juni 1966 fünf erfolgreiche Starts. Nach der Zündung brannte die Rakete für eine Dauer von 8,25 Sekunden. Bei der höchsten getesteten Startmasse von 15 Tonnen erreichte der Starfighter bis Brennschluss eine Höhe von 170 Metern und eine Geschwindigkeit von 496 km/h. Bis dahin hatte er über Grund eine Strecke von knapp 490 Metern zurückgelegt. Dann war Philipp an der Reihe. "Bei mir ging es darum, herauszufinden, wie sich das Ganze bei Seitenwind verhält. Um den Start in der ersten Phase möglichst stabil zu machen, erfolgte meine rster Start in der Schwerlastkonfiguration mit vollen Tip-Tanks, Pylon-Tanks und einer Last von 906 Kilogramm am zentralen Außenlastträger", erinnert er sich. "Denn je mehr Masse da war, umso weniger konnten Seitenwindkräfte oder auch eine etwas vertrimmte Einstellung des Boosters Schaden anrichten. Das Flugzeug sollte in der ballistischen Phase einigermaßen die Lage behalten, bis man genug Staudruck hatte, um die Steuerung wieder selbst zu beeinflussen." Bei seinem Einsatz herrschte ein Seitenwind von rund zehn Knoten.
Ein Start kostet 60000 Mark
Auch bei Horst Philipps zweitem Start am 12. Juli 1966 kam es zu keinen Schwierigkeiten, so dass dem Aufbau einer Lehr- und Versuchsstaffel des JaboG 32 zum Truppenversuch mit dem ZELL-System und einem Katapultsystem mit 14 Starfightern eigentlich nichts im Wege stand. Dazu kam es jedoch nicht mehr, da die Arbeiten im Oktober 1966 auf Weisung der Luftwaffenführung eingestellt wurden. Mit der Änderung der NATO-Strategie zur flexiblen Vergeltung ging man nun davon aus, dass der Gegner die Fliegerhorste eher mit konventionellen Waffen angreifen würde und sich die Schäden wieder instand setzen ließen.
Außerdem erschien der Aufwand zu hoch; die Kosten für einen ZELL-Start wurden auf 60000 Mark beziffert. Ihr Übriges tat auch die Starfighter-Krise. "Wir hatten ja wahnsinnig viele F-104-Unfälle, und da passte es nicht ins Bild, dass wir ein Unternehmen starteten, das noch risikoreicher schien. Dabei hätte ZELL funktioniert: Das Risiko war überschaubar, und die F-104 war gut geeignet. Es gab kein Problem." Ein Gutes hatte die Erprobung auf jeden Fall: Sie sorgte für die Verwendung des Schleudersitzes von Martin-Baker, der vielen Piloten das Leben retten sollte.