Im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Blauen heraus erschien im April 1996 ein Fluggerät im Luftfahrtmuseum der US Air Force in Dayton, das eher wie eine Attrappe aus einem schlechten Science-Fiction-Film anmutete. In Wahrheit handelte es sich um ein ehemals streng geheimes Stealth-Projekt, dessen Erprobung unter dem Tarnnamen "Tacit Blue" – am ehesten als "schweigsames Blau" zu übersetzen – schon im Februar 1982 begonnen hatte.

Die Tacit Blue ist seit 1996 im Museum in Dayton zu sehen.
Unsichtbarer Partner für J-STARS
Das Projekt hatte im Jahr 1978 als Teil des Pave-Mover-Programms zur Entwicklung eines Überwachungs- und Zielzuweisungssystem begonnen. Dieses mündete schließlich in der Northrop Grumman E-8 Joint STARS (Surveillance Target Attack Radar System). Tacit Blue sollte sich allerdings wesentlich näher an der Frontlinie bewegen. Trotz entsprechender Sensoren, Antennen und Datenverbindungen sowie einem Seitensichtradar von Hughes an Bord musste dazu die Entdeckbarkeit so gering wie möglich sein.

Die Ingenieure wollten die Radarstrahlen mit runden Formen ablenken.
Kurven statt Kanten
Der Entwicklungsauftrag ging schließlich an Northrop. Im Gegensatz zur kantigen Lockheed F-117A setzten die Designer erstmals auf runde und geschwungene Formen, um gegnerische Radarstrahlen abzulenken und so unsichtbar zu bleiben. Weitere Stealth-Merkmale umfassten Radar-absorbierende Materialien und eine Reduzierung der Infrarot-Signatur. Dies erreichten die Ingenieure, indem sie beispielsweise die Triebwerke tief in den Rumpf verlegten und die besonders gefährdeten Elemente wie Lufteinlauf und Abgasdüse entsprechend abschirmten.

Die Flugerprobung verlief überraschend problemlos.
Form entsteht in Disneyland
Glaubt man einem Bericht im Air-Force-Magazine von August 1996, dann entstand die ungewöhnliche Rumpfform auf einer Parkbank in Disneyland. Während seine Kinder in der Schlange für ein Fahrgeschäft standen, bearbeitete der Ingenieur Fred O‘Sheara ein Stück Knetgummi, bis er eine vielversprechende Form in der Hand hatte. Am nächsten Tag nahm die Konstruktionsabteilung die Knete als Vorbild für den Bug der Tacit Blue, und später wohl sogar für die Cockpitverkleidung der B-2.

Angeblich entstand die Vorlage der Bugform aus einem Stück Knetgummi.
Fliegender Walfisch
Die Maschine besaß eine kleine, ungepfeilte Tragfläche. In der Mitte des V-Leitwerk lag eine schlitzartige Öffnung für Abgase der beiden ATF3-Turbofans von Garrett. Die Luftzufuhr erfolgte über einen Lufteinlauf auf der Rumpfoberseite. Das Fahrwerk borgten sich die Designer kurzerhand von einer F-5E.

Die digitale Flugsteuerung war vierfach-redundant ausgelegt.
Ohne Fly-by-Wire keine Chance
Aufgrund der extrem instabilen aerodynamischen Auslegung ließ sich die Maschine nur mit Hilfe der digitalen Flugsteuerung (Fly-by-Wire) in der Luft halten. Sie war aus Sicherheitsgründen vierfach redundant ausgelegt. Bei den Programmbeteiligten galt die Tacit Blue als instabilstes Flugzeug der Welt. Der Bau des Demonstrators erfolgte unter strengster Geheimhaltung bei Northrop in Hawthorne, Kalifornien. Eine zweite Zelle entstand als Back-up, für den Fall eines Unglücks mit der ersten Maschine. Sie wurde aber nicht benötigt und daher später demontiert.

Die Nervosität vor dem Erstflug war groß - allerdings sollten die Sorgen unbegründet sein.
Bier und Basketball vor Erstflug
Unbemerkt von der Öffentlichkeit reiste das demontierte erste Flugzeug an Bord mehrerer Lastwagen in die Wüste, um dort die Erprobung zu beginnen. Das Ziel: der Top-Secret-Stützpunkt Groom Lake in Nevada – besser bekannt als Area 51. Am 4. Februar 1982 hob das ungewöhnliche Gefährt schließlich erstmals ab. Am Vorabend war Testpilot Dick Thomas angeblich so aufgeregt, dass er nach zwei Bieren in einer Bar mit einem Ingenieur bis zum Umfallen Basketball im eins-gegen-eins spielte. Die Nervosität sollte unbegründet sein, den nicht nur der Jungfernflug verlief recht problemlos. Insgesamt absolvierten fünf Piloten rund 250 Stunden bei 135 Flügen. Die letzte Mission erfolgte am 14. Februar 1985. Die Erprobung fand ausschließlich bei Tag an "verschiedenen Orten" statt. Wo genau bis heute nicht offiziell bestätigt.

Die Tacit Blue ist mit 17 Metern so lang wie eine F/A-18C/D Hornet.
Keine Serienvariante
Im Endeffekt entschloss sich die Air Force gegen eine Serienversion, da ihr die Leistungen der E-8 mit ihrem deutlich größeren Radar ausreichten. Außerdem hätte das Stealth-Flugzeug im Gegensatz zu den anderen Tarnkappenmustern meist bei Tag fliegen müssen, mit dem hohen Risiko einer visuellen Entdeckung. Die Tacit Blue wurde daher zusammen mit allen Unterlagen in einem Hangar weggeschlossen. Erst Mitte der 90er Jahre fiel die Entscheidung, den Vorhang zu lüften, da die Technologien mittlerweile öffentlich waren. Der Prozess der Deklassifizierung dauerte ganze acht Monate.
Vorreiter für die B-2
Insgesamt gilt die Tacit Blue als eines der erfolgreichsten Demonstrator-Programme, da es alle gesteckten Ziele erreichte oder sogar übertraf. Die Kosten für das Programm beliefen sich auf rund 165 Millionen US-Dollar. "Von der relativ kleinen Investition kam viel zurück", sagte der Beschaffungschef der USAF, Arthur Money, anlässlich der Vorstellung in Dayton. Er sprach von "außergewöhnlichen Fortschritten in der Stealth-Technologie", die "dem B-2-Bomber sehr geholfen haben". Laut Lieutenant General George Muellner aus der USAF-Beschaffungsabteilung entsprach die Radarrückstrahlfläche des Gefährts ungefähr der einer Fledermaus. Er sollte es wissen, denn er war in den 80er Jahren auch Kommandeur der 6513th Test Squadron und der Basis in Groom Lake. Die gewonnenen Ergebnisse flossen in die Entwicklung der B-2 Spirit ein.

Ein Geschwindigkeitswunder war die Tacit Blue wahrlich nicht.
Antrieb: zwei Garrett ATF3-6 mit je 24,2 kN Schub
Länge: 17,02 m
Spannweite: 14,68 m
Höhe: 3,23 m
Abflugmasse: 13608 kg
Höchstgeschwindigkeit: 460 km/h