Es ist Samstag, der 30. April 1966, als die Testpiloten Al White und Joe Cotton für einen weiteren Testflug ins Cockpit der North American XB-70 Valkyrie klettern. Zum 37. Mal erhebt sich der Prototyp AV 2 (Air Vehicle 2) wenig später von der Runway der Edwards Air Force Base über den Himmel Kaliforniens. Routinemäßig fährt die Testcrew das Fahrwerk ein, Sekunden später meldet das Hauptfahrwerk Vollzug. Doch der 37. Flug der Valkyrie AV2 beginnt mit einer bösen Überraschung: Eine Blockade im System hindert das Bugfahrwerk am Einziehen. Ganz ausgefahren ist es allerdings auch nicht mehr: Unkontrolliert herabhängend, drückt der Fahrtwind die beiden Räder in die halboffene Fahrwerksklappe. Die messerscharfen Kanten der Klappe schlitzen den linken Reifen auf.

Das Fahrwerk fährt weder aus noch ein
White und Cotton ist sofort klar: Dieser Flug wird kein gewöhnliches Ende nehmen. Wiederholt versuchen sie, das Hydrauliksystem wieder in Gang zu bringen und das malträtierte Bugfahrwerk auszufahren, um einigermaßen glatt wieder landen zu können. Doch die Hydraulik verweigert jeden Befehl, das Fahrwerk bleibt unkontrollierbar. Copilot Cotton versucht es mit dem elektrischen Backup-System, doch als er es in Gang setzen will, signalisiert auch dieses mit einem unemotionalen Knacken, dass mit ihm heute nicht zu rechnen ist.
Touch-and-go bleibt ohne Erfolg
So schnell geben sich die erfahrenen Testpiloten aber nicht geschlagen. Al White, Chefpilot des Valkyrie-Programms, versucht es mit einer Idee der handfesten Art: Er steuert die XB-70 zurück nach Edwards und absolviert einen Touch-and-go, in der Hoffnung, ein harter Aufprall des Hauptfahrwerks könnte die Blockade des Bugfahrwerks lösen und es in ausgefahrener Position einrasten lassen. Doch nichts geschieht: Nach zwei erfolglosen Versuchen geben White und Cotton das Unterfangen auf.
Nun ist guter Rat teuer: Eine Landung ohne Bugfahrwerk würde mit hoher Wahrscheinlichkeit katastrophal enden. Was also tun? Das Flugzeug aufgeben und sich mit der Rettungskapsel hinausschießen? Eigentlich bleibt keine andere Option mehr offen. Doch das Flugzeug, um das es geht, ist eines von nur zwei existierenden Exemplaren dieses Typs, und jedes Einzelne davon kostet 750 Millionen Dollar. Außerdem hat die Valkyrie noch jede Menge Sprit an Bord. Das verschafft Zeit – also nichts überstürzen!

Auftrag: kurzschließen!
Gut zwei Stunden lang ziehen White und Cotton mit der Valkyrie ihre Kreise über der kalifornischen Wüste. An Bord wie am Boden grübeln alle Beteiligten fieberhaft nach einer Lösung für das Problem – und zwar nach einer, die nicht den Verlust des gesamten Flugzeugs nach sich zieht. Die Ingenieure der Bodencrew finden schließlich den Fehler, der für die Befehlsverweigerung des Backup-Systems verantwortlich ist: Ein Leistungsschalter ist hinüber, der Schaltkreis dadurch unterbrochen. Die Anweisung der Techniker, die kurz darauf über Funk ins Cockpit dringt, ist simpel: kurzschließen!
Eine Büroklammer als Lebensretter
Schön und gut, denken sich White und Cotton – nur womit? Da sticht Joe Cotton seine Aktentasche ins Auge. Er öffnet sie und findet, neben Stapeln von Papier und Dokumenten, eine kleine Binder-Büroklammer. Damit muss es gehen! Er streift sich einen Lederhandschuh über, sucht den Verteilerkasten, findet ihn, überbrückt das System – und tatsächlich: Das Bugfahrwerk rastet ein. Geschafft.

Brandheiße Landung
Mit einer Landegeschwindigkeit von mehr als 320 km/h schwebt die Valkyrie wenig später in den Endanflug auf die Runway der Edwards Air Force Base ein. Schon im Normalbetrieb bedeutet die Landung des Flugzeugs mit dieser Geschwindigkeit eine Herausforderung. Allerdings offenbart sich White und Cotton noch ein weiteres Problem: Durch den Hydraulikfehler stehen drei der vier Bremsen am Hauptfahrwerk voll auf Anschlag und lassen sich nicht wieder lösen. Die Reifen werden beim Landen ziemlich sicher in Rauch aufgehen. Egal, denkt sich die Testcrew – besser ein paar verbrannte Reifen als ein zerstörtes Flugzeug. Die Feuerwehr wird's schon richten...
White und Cotton retten das Flugzeug
Um das Bugrad möglichst wenig zu belasten, hält White bei der Landung die Nase der Valkyrie so lange es geht in der Luft. Mit blockierten Bremsen und feuerspeienden Rädern rutscht der Mach 3 schnelle Bomber über die Landebahn, die Flughafenfeuerwehr im Schlepptau. Die drei großen Bremsschirme helfen, die XB-70 rechtzeitig vor dem Bahnende einzufangen. Auf heißen Sohlen, aber ohne gravierende Schäden an der Zelle kommt die Valkyrie AV2 schließlich sicher zum Stehen. Al White und Joe Cotton können das Cockpit – durchgeschwitzt, aber unverletzt – auf normalem Wege verlassen: Ein 39 Cent teurer Büroartikel hat das 750-Millionen-Dollar-Flugzeug gerettet. Bereits zwei Wochen später steigt die AV2 wieder in die Luft. Joe Cotton, der Mann mit der Büroklammer, erreicht mit ihr am 19. Mai 1966 Mach 3 – 33 Minuten lang.

Absturz sechs Wochen später
Ein langes Leben ist dem Flugzeug nach dem Vorfall dennoch nicht gegönnt: Am 8. Juni 1966 stürzt die AV2 nach einer Kollision mit einer F-104 im Anschluss an einen Fotoflug ab. Al White, der an diesem Tag abermals am Steuer der Valkyrie sitzt, kann sich mit der Rettungskapsel herausschießen. Sein Copilot Carl Cross, erst kurz zuvor zum XB-70-Testprogramm gestoßen, schafft es nicht.