Vickers Vanguard: Turboprop mit falschem Timing

Vickers Vanguard
Briten-Turboprop mit falschem Timing

Veröffentlicht am 30.03.2024
Briten-Turboprop mit falschem Timing
Foto: Vickers

Vickers hatte mit der Viscount 1948 den ersten Airliner mit Wellenturbinen-Antrieb auf den Markt gebracht und damit ein neues Kapitel im Luftverkehr aufgeschlagen. Mit knapp 450 gebauten Exemplaren war die von vier Rolls-Royce Dart angetriebene Maschine ein großer Erfolg. 50 Betreiber weltweit hatten das Muster im Betrieb. Kurz nach der Indienststellung im April 1953 begann British European Airways (BEA) jedoch schon Diskussionen mit dem Hersteller über ein größeres und schnelleres Nachfolgemuster.

Jurgenson

Grundsätzliche Designentscheidungen

Eine Grundsatzentscheidung für das neue Modell war die Wahl des Rolls-Royce RB109 (Tyne), das gegenüber Strahltriebwerken wesentlich bessere Betriebskosten versprach. Vickers untersuchte um die 60 Konzepte, wobei letztlich Tragflächen mit Pfeilung oder die Anordnung der Flügel als Schulterdecker verworfen wurden. Statt eines runden oder elliptischen Rumpfquerschnitts entschied man sich im Besonderen für ein "double-bubble" mit unterschiedlichen Querschnitten für die Kabine und den darunter liegenden Frachtraum. BEA wollte eine Reichweite von etwa 1800 Kilometern, während der andere Hauptinteressent TCA (Trans-Canada Air Lines) längere Strecken bedienen wollte.

Vickers

Am Ende hatte der Vickers-Typ 950 eine Abflugmasse von 61235 kg oder 63955 kg für TCA (Typ 952). Bis zu 139 Passagiere hatten bei einer dichten Bestuhlung mit sechs Sitzen pro Reihe Platz. Sowohl BEA (Juli 1956) als auch TCA (Januar 1957) bestellten 20 Flugzeuge – wertmäßig bis dahin der größte Exportauftrag der britischen Luftfahrtindustrie.

Tyne im Test

Während Rolls-Royce das Tyne mit zwei Airspeed Ambassador einer 1600 Stunden umfassenden Flugerprobung unterzog, entstand im Werk Weybridge die erste Vanguard (G-AOWY). Das Muster war konventionell und nutzte ein NACA-63-Profil. Die Steuerflächen wurden mechanisch bedient. Strukturell wurde der Rumpf wie üblich mit Spanten und Längsträgern aufgebaut. Wie bei der Viscount wurden große ovale Fenster installiert. Beim Flügel wurde die Beplankung gefräst und hatte integrierte Verstärkungen in Spannweitenrichtung. Integraltanks reichten über die gesamte Spannweite. Das 28-Volt-DC-Elektriksystem war stärker als bisher.

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Erfolgreicher Erstflug

Die Triebwerkstests begannen am 4. Dezember 1958, mussten nach einem Lagerschaden in einem der Tays jedoch unterbrochen werden. Es dauerte somit bis zum 20. Januar 1959 bis Vickers-Chefpilot G. R. Bryce und sein Stellvertreter Brian Trubshaw an einem regnerischen Tag um 15:54 Uhr von der sehr kurzen Bahn abheben konnten. Geplant war ein direkter Überführungsflug nach Wisley. Doch Bryce und Trubshaw waren so beeindruckt vom Handling und den Leistungen, dass der Flug kurzentschlossen auf knapp 20 Minuten ausgedehnt wurde. Bei ausgefahrenem Fahrwerk wurden 450 Meter Höhe und 280 km/h nicht überschritten. Auf dem Vorfeld in Wisley wurde die Vanguard von einer großen Gruppe Vickers-Mitarbeitern und geladenen Gästen in Empfang genommen.

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Lautere Motoren und erste Langstrecken

Das erste Exemplar war bis zum 28. Januar schon über zehn Stunden in der Luft. Während des Programms wurden mit dem ersten Flugzeug über 2000 Überziehversuche durchgeführt, bis die richtige Abstimmung gefunden wurde. Besonders auffällig war die Geräusch- und Vibrationsentwicklung im Passagierraum. Die kraftvollen Tyne-Turbinen machten sich doch stärker bemerkbar als die Dart-Triebwerke in der kleineren Viscount. Die Probleme bei der anfänglichen Erprobung bekam man schnell in den Griff, somit konnten Flüge zu entfernteren Zielen und auf potenziellen Strecken im Linienflugbetrieb in Angriff genommen werden. Dabei wurden auch Ziele in Kanada (Rückflug Gander – Wisley in 5:30 Stunden) und auf den Bermudas angeflogen. Einzig bei einem Aufenthalt auf den Bermudas kam es zu Verzögerungen. Dort legte verschmutzter Kraftstoff den Airliner lahm. Zum Glück bemerkte die Besatzung das Malheur vor dem Start. Die Reinigung aller Leitungen dauerte dann zwei Tage.

BEA

Letzte Änderungen vor Dienstbeginn 1961

Im Februar 1960 erfolgte die Linienerprobung wie London – Brüssel, aber auch auf dem Mittelmeer-Streckennetz von BEA. Auf dem Abschlussflug von Athen nach London legte die G-APEA (die erste Vanguard in den Farben der BEA) große Teile der Strecke mit nur noch drei Triebwerken zurück, weil ein Tyne den Dienst versagt hatte. Es wurde klar, dass das Triebwerk Nachbesserungen benötigte und die Vanguard damit für die Sommersaison nicht zur Verfügung stand. Rolls-Royce änderte letztlich das Material im Verdichter.

Vickers

Im Dezember 1960 standen die Vanguards schließlich für das Besatzungstraining zur Verfügung und wurden über die Feiertage auch schon für Sonderdienste benutzt. Am 1. März 1961 begann schließlich der reguläre Liniendienst, während TCA in Kanada ihre Type 952 bereits ab dem 1. Februar im Einsatz hatte.

Europäische Linien

Benannt nach berühmten Schlachtschiffen der Royal Navy, nahmen bis zum 30. März 1962 alle 20 BEA-Maschinen der Versionen V951 und V953 ihren Dienst auf dem europäischen und innerbritischen Streckennetz auf. Dort steigerten sie die täglichen Flüge nach Belfast innerhalb kurzer Zeit von fünf auf sieben. Besonders erfolgreich entwickelten sich die Nachtflüge zu Zielen wie Palma de Mallorca oder Barcelona. Das entfernteste von der Vanguard bediente Ziel im Netz der BEA war die Mittelmeerinsel Malta mit sechs Flügen wöchentlich, die in London zumeist nach 21 Uhr starteten. Auf Strecken bis 500 Kilometer Entfernung, also Linien wie London – Paris oder London – Amsterdam, konnten sich die Vanguards mit ihren niedrigen Betriebskosten anfangs noch gegen die Konkurrenz mit Strahlantrieb behaupten.

Vickers

Frachtversion

TCA in Kanada betrieb die Vanguards auf Routen wie Toronto – Montreal und nach New York oder auf die Bahamas. Während des ersten Betriebsjahres wurde die Vanguard-Flotte von Trans-Canada Air Lines zwei Mal nach Landeunfällen gegroundet. Beide Zwischenfälle gingen ohne Personenschaden aus. TCA (seit 1965 umbenannt in Air Canada) rüstete 1966 eine ihrer Vanguards zum "Cargoliner" für den reinen Frachtbetrieb mit 19 000 kg Zuladung um. Auch BEA ließ einige ihrer Flugzeuge bei Aviation Traders zu "Merchant- man"-Frachtern mit einem seitlichen Ladetor vorn und verstärktem Boden mit Rollen umbauen. Bis Ende der 1970er Jahre flogen neun Merchantman bei der British Airways, in die BEA aufgegangen war.

Philip Jarrett

Am Ende der Dienstzeit bei BA und TCA wurden die Flugzeuge an kleine Gesellschaften abgegeben. Der letzte offizielle Flug einer Maschine der 950er Serie war schließlich am 17. Oktober 1996 mit einer Merchantman von Hunting Cargo Airlines. Diese Maschine ist die einzige, die heute noch existiert. Sie steht im Brooklands Museum.