Strategische Tupolew-Bomber in Engels
Der Weg durch ein Wohngebiet endet auf einem Parkplatz. Die Gegend mutet wie der Hinterhof in einem kleinen Industriegebiet an. Nur das weit entfernte Grollen von Turboprop-Motoren mit gegenläufigen Luftschrauben, wie man es nur in Russland hören kann, deutet auf die wahre Bestimmung dieses Ortes hin. Ein unauffälliges Tor ohne Beschriftung versperrt zunächst die Weiterfahrt. Nach einer strengen Kontrolle geht es auf einer langen Straße weiter in Russlands Allerheiligstes. In der Ferne ist schon die dreieinhalb Kilometer lange Startbahn zu erkennen, und bald darauf taucht auf der ebenso langen Vorstartlinie der Stolz der russischen Fernfliegerkräfte (Dalnjaja Aviazija, abgekürzt DA) auf. Hier sind nämlich die strategischen Bomber des Landes einschließlich ihrer nuklearen Waffen stationiert. In einer langen Reihe glänzen die Tupolew Tu-95 „Bear“ unter der Sonne, und daneben warten mehrere Tu-160 „Blackjack“ auf den nächsten Einsatz. Schließlich ist Engels die Heimat der 6950. Luftbasis, hervorgegangen aus der Vereinigung des 121. Schweren Bomberregiments (Tjasholi Bombardirowochni Aviapolt, TBAP), das dieTu-160 flog, mit dem 184. TBAP und ihren Tu-95MS.
Mittlerweile sind das einmalige Triebwerksgeräusch der viermotorigen „Bear“ und die gelben Abgaswolken der Tu-160 wieder fast zum Alltag geworden in der Gegend um die Großstadt Saratow an der Wolga, rund 900 Kilometer südöstlich von Moskau. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mussten die Bomber lange Zeit am Boden bleiben. Erst vor einigen Jahren begannen wieder regelmäßige Übungsflüge, darunter ein fast 24 Stunden dauernder Einsatz zweier Tu-160, die dabei insgesamt 18000 Kilometer zurücklegten. Außerdem be-suchten zwei „Blackjacks“ im September 2008 Venezuela, und selbst der russische Präsident Wladimir Putin ließ es sich nicht nehmen, bei einer Mission im Cockpit zu sitzen.
Tupolew Tu-160 „Der weiße Schwan“

Die Tu-160, in Russland auch „weißer Schwan“ genannt, hatte ihren Erstflug am 18. Dezember 1981 absolviert. Bis heute ist sie das schwerste Kampfflugzeug der Welt. Die maximale Startmasse von 275 Tonnen entspricht der eines Airbus A330-300. So viel Gewicht braucht Kraft: Daher verfügt der Bomber über vier NK-321 Turbofans, mit einer Nachbrennerleistung von 245 Kilonewton neben dem NK-25 die stärksten Militärtriebwerke überhaupt. Mit ihrer Hilfe schafft die „Blackjack“ sogar Mach 2.
Die Lieferung des Schwergewichts hatte im April 1987 begonnen. Als erste Einheit übernahm das 184. Regiment (heute mit Tu-95 in Engels) im ukrainischen Priluki die Tu-160, da in Engels im Rahmen der Umrüstung der Mjassischtschew 3M „Bison“ Bauarbeiten im Gang waren. Dies sollte sich als fatal erweisen, denn nach dem Ende der Sowjetunion behielt die Ukraine die mittlerweile 19 Maschinen. Russland wollte die Bomber zurückkaufen, doch die Verhandlungen gestalteten sich schwierig. Erst Ende 1999 begann als Kompensation für Gaslieferungen die Überführung von insgesamt acht „Blackjacks“, die teilweise seit Jahren am Boden geblieben waren. Zehn weitere Exemplare endeten auf dem Schrottplatz, obwohl manche gerade einmal 100 Flugstunden auf dem Buckel hatten. Die letzte ukrainische Maschine landete im Museum in Poltawa. Alle zwischenzeitlich gebauten Exemplare kamen direkt nach Engels. Von den ursprünglich geplanten 100 Maschinen wurden jedoch aus Geldmangel wohl nur 34 gebaut. Zwei damals noch in der Produktion befindliche Jets sind inzwischen fertiggestellt worden. Damit befinden sich 15 aktive Flugzeuge in Engels. Wie viele davon wirklich einsatzbereit sind, lässt sich indes nicht erschließen.





Legendärer Turboprop-Bomber

Beim Besuch der FLUG REVUE standen jedenfalls neun Tu-160 auf der Vorstartlinie; wie die meisten Tu-95 machen sie größtenteils einen sehr guten Eindruck. Die Jets sollen modernisiert werden und eine Verlängerung der Lebensdauer erhalten. Zusätzlich bekam die Kazan Aviation Production Association (KAPO) den Auftrag, weitere Flugzeuge zu bauen, um die Flotte bis zum Jahr 2020 auf 30 Stück zu steigern.
Bis dahin soll auch der schnellste Turboprop der Welt im Einsatz bleiben, denn die Tu-95MS stellt neben der Tu-22M „Backfire“ nach wie vor das Rückgrat der Fernfliegerkräfte dar. Die aktuellste Version der „Bear“-Familie war im September 1979 zu ihrem Jungfernflug gestartet. Auch sie kann, wie die „Blackjack“, mehrere Abstandsflugkörper mit nuklearen Sprengkörpern mitführen. Die Tu-95MS ist neben Engels und der Ausbildungseinheit in Rjasan noch auf dem Fliegerhorst Ukrainka im Fernen Osten Russlands stationiert. Die Ablösung lässt allerdings auf sich warten. Die Entwicklung eines neuen Bombers (PAK-DA) hat zwar bereits begonnen, aber der Erstflug ist nicht vor 2022 zu erwarten. Nähere Details existieren noch nicht, aber der neue Typ wird bestimmt ähnlich beeindruckend sein wie die heutigen Tupolews in Engels.
FLUG REVUE Ausgabe 01/2013




