Der Vorfall fand bereits vor einiger Zeit statt: Am 29. September 2022 begegneten sich ein britischer RC-135W-Aufklärer und zwei russische Suchoi Su-27-"Flanker" in internationalem Luftraum über dem Schwarzen Meer. Es ist ein beinahe alltägliches Machtspielchen, das sich regelmäßig vor der Küste der seit 2014 von Russland annektierten Krim abspielt: Flugzeuge der NATO fliegen Patrouillen, die russischen Kontrahenten versuchen die Mission nach besten Möglichkeiten zu stören. Wie auch dieses Mal: Die beiden Russen-Jets setzen sich neben die Boeing, einer nähert sich, so berichtet das britische Verteidigungsministerium später, bis auf wenige Meter dem Aufklärer. So gar nicht alltäglich war jedoch, was daraufhin geschah: Außerhalb der Sichtweite habe einer der russischen Jets eine Rakete "freigegeben", schilderte Großbritanniens Verteidigungsminister Ben Wallace.
Die Enthüllungen, die aus dem Durchsickern von geheimem Material des US-Verteidigungsministeriums hervorgehen, zeichnen jedoch ein anderes Bild des Vorfalls.
Britischer Aufklärer fängt Funksprüche ab
Nach Angaben der US-Medien hörte die britische RC-135 abgefangene Kommunikation zwischen einem russischen Radarlotsen am Boden und dem Piloten einer der russischen Su-27 ab, die zum Abfangen des Aufklärers vor der Küste der von Russland besetzten Krim geschickt wurden. Genau dafür ist die RC-135 gebaut: Die Rivet Joint ist eine umfangreich modifizierte Boeing C-135. Die Modifikationen der Aufklärers beziehen sich in erster Linie auf die bordeigene Sensorik und ihren zahllosen am Flugzeug angebrachten Antennen. Die im Flugzeug eingebauten elektrooptischen Sensoren verfolgen geografisch geortete Signale innerhalb des elektromagnetischen Spektrums und können die erfassten Daten über eine gesicherte Satellitenkommunikations-Datenverbindung zum Boden übertragen.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogenen Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzbestimmungen.
"Einer der Su-27-Piloten interpretierte die Anweisung eines Radarbedieners am Boden falsch und dachte, er habe die Erlaubnis, auf die RC-135 zu schießen. Der russische Pilot erfasste das britische Flugzeug und feuerte dann eine Luft-Luft-Rakete ab. Die Rakete wurde jedoch nicht ordnungsgemäß abgeschossen", zitieren US-Medien das Dokument. Die stufen den Vorfall als schwerwiegend ein, ja sogar als mögliche Kriegshandlung. Eine solche kann drastische Folgen haben, denn ein Angriff gegen ein nach den NATO-Statuten ist ein Angriff gegen ein Mitglied gleichzusetzen mit dem gegen das gesamte Verteidigungsbündnis. Auch US-Verteidigungsbeamte hätten den Vorfall als "wirklich, wirklich besorgniserregend" bezeichnen.
Entging die britische RC-135 tatsächlich nur knapp einem Abschuss? Mit offiziellen Stellungnahmen halten sich alle beteiligten Parteien bislang zurück. Doch die Schilderung in den durchgesickerten Dokumenten werfen viele Fragen auf, die die Vermutung nahelegen, dass die Situation doch nicht so dramatisch war, wie darin geschildert:
Warum schoss der Flügelmann nicht?
Wenn der Abschuss nur durch eine technische Fehlfunktion verhindert wurde, warum hat der Pilot der russischen Su-27 nicht eine weitere Rakete abgefeuert, nachdem die erste versagt hatte? Wäre ein Fehler im gesamten Waffensystem des Fighters die Ursache gewesen, dann hätte genauso gut sein Flügelmann den Befehl ausführen können.
Eine mögliche Erklärung ist, dass kurz nach dem fehlgeschlagenen Raketenstart der Operator am Boden den Piloten auf das Missverständnis aufmerksam machte. Oder sagte vielleicht der Flügelmann, dass es keinen Feuerbefehl gegeben habe?
Die RC-135 wäre bei einem Angriff allerdings keineswegs schutzlos gewesen: Der Aufklärer trägt selbst zwar keine Bewaffnung, verfügt aber über Schutzeinrichtungen gegen infrarotgesteuerte Lenkwaffen, wie es die meisten der russischen Luft-Luft-Raketen sind, mit denen die Su-27 bewaffnet ist. Doch es gibt keine Berichte, nachdem die Rivet Joint ihre Abwehrsysteme genutzt hätte. Die RC-135 kehrte nach dem Vorfall unversehrt zur Basis zurück.
Offiziell keine Rede von "Beinahe-Abschuss"
Angesichts der begrenzten verfügbaren Informationen ist es derzeit nicht möglich, sich ein klares Bild davon zu machen, was wirklich geschehen ist. Von einem "Beinahe-Abschuss" war jedoch seitens Großbritanniens nie die Rede. Das Verteidigungsministerium stuft das Ereignis als "potenziell gefährlichen Vorfall" ein. Auch möglich, dass sich die Rakete tatsächlich aufgrund eines technischen Defekts nur von der Su-27 abgefallen ist.
Zunächst wurden nach dem Vorfall britische Überwachungsflüge über dem Schwarzen Meer ausgesetzt. Sie wurden erst wieder aufgenommen, nachdem der Verteidigungsminister mit seinem russischen Amtskollegen gesprochen hatte. Seitdem führen britische Rivet Joints ihre Patrouillen über dem Schwarzen Meer mit mindestens einem Typhoon-Kampfflugzeug an ihrer Seite durch. US-Militärflugzeuge operieren offenbar jetzt 46 Meilen vor der Küste der Krim statt der international erlaubten 12 Meilen – ob dies in einem Zusammenhang mit dem Vorfall des britischen Aufklärers steht, ist nicht bestätigt.