Es gibt sie in allen Formen, Farben und Materialien: Flugzeugsitze sind wesentlich dafür, ob Passagiere einen Flug als angenehm empfinden. Für Airlines sind sie ein wichtiges Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb. Und ein verhältnismäßig günstiges noch dazu. „Bezogen auf den Kaufpreis eines Flugzeugs machen die Sitze weniger als fünf Prozent der Kosten aus“, sagt Dr. Mark Hiller, geschäftsführender Gesellschafter bei Recaro Aircraft Seating. Der Hersteller aus Schwäbisch Hall hat bei Sitzen für die Kurz- und Mittelstrecke einen Marktanteil von mehr als 30 Prozent, seit wenigen Jahren verstärkt Recaro den Fokus auf die lukrative Business Class. Und mit der Premium Economy, einer Zwischenklasse mit mehr Beinfreiheit und Komfort als in der Economy, hat sich in den vergangenen Jahren ein weiteres Feld ergeben. Das Familienunternehmen mit weltweit 2200 Mitarbeitern gehört neben der französischen Konkurrenz Zo-diac Aerospace und der US-Firma B/E Aerospace zu den drei größten Sitzanbietern weltweit. Rund 100 Fluggesellschaften zählt Recaro zu seinen Kunden, darunter Lufthansa, airberlin, Singapore Airlines und TAP Portugal.
Über eine Million Sitze hat Recaro in seiner mehr als 40-jährigen Firmengeschichte schon produziert und verkauft. Für jede Airline wird allerdings – auf der Basis von aktuell zwölf verschiedenen Plattformen – ein ganz individuelles Produkt entwickelt und gefertigt.
Doch worauf kommt es nun bei einem Flugzeugsitz an? Letztlich ist es immer ein Kompromiss: Der Passagier will bequem sitzen, die Airline legt zudem Wert auf die Kosten, und die Wartung wünscht sich einen Sitz mit möglichst wenigen Teilen, die defekt sein können. Hiller fasst das Spannungsfeld zusammen: „Es geht darum, besten Komfort bei höchster Raumeffizienz und geringstem Gewicht zu bieten.“
Bis zu zwei Jahre dauert es, bis ein komplett neuer Sitz entwickelt ist. Beteiligt sind neben Ingenieuren, Ergonomen und Designern unter anderem auch Modellbauer sowie Experten aus der Produktion. Am aktuellen Recaro-Bestseller CL3710, einem Economy-Class-Sitz für die Langstrecke, hat beispielsweise ein mehr als 50-köpfiges Team gearbeitet. Auch wenn die Entwicklung nicht auf einen konkreten Auftrag zurückgeht, werden Airlines schon in einer frühen Phase eingebunden. So wird sichergestellt, dass am Ende ein Sitz herauskommt, der Chancen auf dem Markt hat.
Dabei ist der Entwurf für einen Business-Class-Sitz aufwendiger als für einen Economy-Class-Stuhl. „Das fängt schon mit der Anzahl der behördlichen Regularien an, die zu erfüllen sind. Bei unserem Business-Class-Sitz CL6710 für die Langstrecke sind wir bei fast 100 000 Einzelanforderungen“, erklärt René Dankwerth, Ressortleiter Forschung und Entwicklung. Dabei geht es in erster Linie um Sicherheit: Beispielsweise dürfen Materialien im Brandfall keine giftigen Dämpfe entwickeln oder in Flammen aufgehen. Die Hersteller müssen auch durch Tests nachweisen, dass die Sitzstruktur Kräfte von 16 g nach vorne und 14 g nach unten aushält. „Diese Anforderungen decken mehr als das ab, was im seltenen Fall einer harten Landung auftritt“, so Dankwerth. Zudem sind Business-Class-Sitze, gerade für die Langstrecke, komplexe mechatronische Produkte mit eigener Stromversorgung sowie einer Vielzahl von Aktuatoren und Mechanik zur Steuerung. „Und wenn Sie sich die Umhausung anschauen, ist das schon fast Möbelbau“, sagt Joachim Ley, Ressortleiter Supply Chain.
Vielflieger als Testpersonen
Doch auch in die Economy Class fließen immer wieder Innovationen ein. Für den Langstreckensitz CL3710 wurden 18 Erfindungen zum Patent angemeldet, beispielsweise die Kopfstütze. Sie ist sechsfach höhenverstellbar, an den Seiten nach vorne klappbar und kann auch horizontal gekippt werden, um den Nacken zu unterstützen. In der Economy Class reagiert Recaro auch auf die zunehmende Digitalisierung: mit Tablet-Halterungen und Lademöglichkeiten.
Während der Entwicklung stehen Sitzhersteller nicht nur im Austausch mit Airlines, Flugzeugbauern und Zulassungsbehörden. Auch diejenigen, die später darauf Platz nehmen, werden einbezogen: Prototypen werden Fluggesellschaften und deren Passagieren zur Verfügung gestellt. Mit Vielfliegern führt Recaro selbst Tests durch, zum Beispiel Schlafstudien. Nicht zuletzt sind auch die eigenen Führungskräfte Versuchs-kaninchen. „Im neuen Business-Class-Sitz [CL6710; d. Red.] haben wir im Prototypenstatus alle schon erfolgreich gut geschlafen“, so Dankwerth.
Neben dem Komfort spielt das Gewicht eine Rolle, denn jedes Kilogramm macht sich im Treibstoffverbrauch bemerkbar. Der Economy-Kurzstreckensitz BL3710, den Recaro im vergangenen Jahr auf der Aircraft Interiors Expo in Hamburg vorgestellt hat, wiegt nur etwa 9,5 Kilogramm und zählt zu den Leichtgewichten dieser Klasse. Die Sitzstruktur ist aus einer Aluminiumlegierung, die Rückenlehne aus Faserverbundwerkstoffen, die Sitzschale aus Styropor. Anstelle eines Kissens soll die Kombination aus einer dünnen Schaumstoffauflage mit Netzbespannung für ein angenehmes Sitzgefühl sorgen. Schon vor dem ersten Prototypenbau arbeiten die Ingenieure mit Computersimulationen, um Lastverläufe zu identifizieren und dadurch das jeweils am besten geeignete Material auszuwählen.
Endmontiert werden die Recaro-Sitze im Zweischichtbetrieb an den Standorten Schwäbisch Hall, Swiebodzin (Polen), Fort Worth (USA) und Qingdao (China), wobei die meisten Einzelteile von Zulieferern stammen. Weil je nach Airline andere Bezüge, Bordunterhaltungssysteme oder unterschiedlich hohe Armstützen verwendet werden, ist wenig Automatisierung möglich, dafür viel Handarbeit gefragt. Bis eine Fluggesellschaft ihre Sitze fix und fertig zum Einbau in der Kabine erhält, können nach der Bestellung zwischen vier und 18 Monate vergehen, je nachdem, wie stark die zugrundeliegende Plattform verändert wird.
Die nächste Entwicklungsstufe sieht man bei Recaro übrigens im intelligenten Sitz, bei dem Sensoren den aktuellen Zustand erfassen. So kann die Kabinencrew beispielsweise sehen, welcher Sitz vor Start oder Landung nicht in der richtigen Position ist. In der Business Class sind weitere Funktionen wie die Steuerung der Klimatisierung oder der Sitz-position über das Smartphone denkbar. Die Wartung könnte über Probleme informiert werden, noch bevor ein Defekt droht. Aber auch für Recaro selbst könnte die Datenauswertung – wie oft wird welche Funktion genutzt? – Input für Neuentwicklungen geben.
FLUG REVUE Ausgabe 04/2017