Tunnelblick
Windkanäle

Trotz hoher Kosten setzen Flugzeughersteller nach wie vor auf Windkanaltests in der Flugzeugentwicklung. Doch ihre Bedeutung hat sich verändert.

Windkanäle

Weiße Schutzanzüge und Überzieher für die Schuhe, dann geht es durch die „Queens Door“ (Königinnentür) in das Herzstück des Europäischen Transschall-Windkanals (ETW) in Köln – die zwei Meter hohe, 2,4 Meter breite und neun Meter lange Messstrecke. Wo heute die führenden Flugzeugbauer ihre Modelle testen, wurde 1992 der rote Teppich für Queen Elizabeth II. ausgerollt. Großbritannien finanzierte neben Deutschland, den Niederlanden und Frankreich den Bau des modernsten Windkanals der Welt, 330 Millionen Euro hat er gekostet, seit 1995 ist er in Betrieb. Nicht ganz ernst gemeinten Gerüchten zufolge ist die Tür zur Messstrecke genau so hoch, dass die britische Monarchin mit einem ihrer obligatorischen Hüte durchpasste.

Anders als die Queen kommen Hersteller wie Airbus, Boeing, Bombardier und Dassault regelmäßig nach Köln, um ihre in der Entwicklung befindlichen Flugzeuge aerodynamisch zu untersuchen. Auch wenn einige Experten vor Jahren schon prophezeiten, dass Windkanaltests aufgrund der immer besseren numerischen Strömungssimulationen am Computer (computational fluid dynamics, CFD) bald obsolet würden, gehören sie weiterhin zum Standard in der Flugzeugentwicklung. Doch ihre Rolle hat sich im Lauf der Zeit verändert. „Früher kamen die Hersteller mit ein bis zwei Ingenieuren zum Check-out vor den Flugtests. Heute werden Modelle in früheren Entwicklungsstadien im ETW untersucht. Mit dabei sind heute häufig auch Numeriker, die ihre Simulationen vor Ort mit den Testergebnissen abgleichen und gemeinsam mit den Testingenieuren den Fortgang des Tests beschließen“, sagt Guido Dietz, der geschäftsführende Direktor des ETW. Der Grund: Je später Designänderungen vorgenommen werden, desto teurer wird es.

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Flugzeugbauer testen in mehreren Windkanälen

Im ETW können Tests bis zu 1,35-facher Schallgeschwindigkeit durchgeführt werden, aber auch Hochauftriebsuntersuchungen für Start und Landung, und das mit einer Genauigkeit von 99 Prozent im Vergleich zum realen Flug. Temperaturen von bis zu -163 Grad Celsius und Drücke bis zu 4,5 bar sorgen für möglichst realistische Bedingungen. Was zunächst paradox klingt, lässt sich über die Reynoldszahl erklären. Sie beschreibt das Verhältnis von Trägheits- zu Reibungskräften einer Strömung. Die Reynoldszahl von Modell und Original muss gleich sein, um die Erkenntnisse aus dem Windkanal auf den echten Flug übertragen zu können. Bei Raumtemperatur läge die Reynoldszahl der Modelle aber weit unter dem tatsächlichen Wert. Deshalb wird die Viskosität des Strömungsmediums gesteigert – durch höheren Druck und niedrigere Temperatur.

Weil sich die Bestandteile normaler Luft bei der eisigen Kälte unterschiedlich verhalten, werden im ETW bis zu 250 Kilogramm flüssiger Stickstoff pro Sekunde eingespritzt, verdampft und über einen Kompressor mit einer Leistung von 50 Megawatt auf Geschwindigkeit gehalten. So sind im ETW Reynoldszahlen von 50 Millionen für Vollmodelle und 85 Millionen für Halbmodelle möglich. „Konventionelle Windkanäle erreichen nur Reynoldszahlen bis etwa zehn Millionen“, sagt Dietz. Druck, Temperatur und Geschwindigkeit können im ETW separat geregelt werden, was eine getrennte Steuerung von Mach-Zahl, Reynoldszahl und Staudruck ermöglicht. Eine ähnlich leistungsfähige Anlage gibt es nur in den USA: die National Transonic Facility der US-Raumfahrtbehörde NASA in Langley.

Doch das hat seinen Preis: Pro Messtag im ETW fallen Kosten zwischen 90 000 und 125 000 Euro an. An einem Tag fließen bis zu 1500 Tonnen Stickstoff durch den Kanal. Der Stromverbrauch liegt je nach Test bei einem Viertel bis einem Drittel des Verbrauchs der  Stadt Köln. „Wer seinen Nutzen nicht kennt, könnte den ETW als gewaltige Energievernichtungsmaschine missverstehen“, so Dietz. „Aber der Mehrwert, den der ETW bietet, um effiziente und sichere Flugzeuge mit überschaubaren Risiken zu entwickeln, wiegt Kosten und Aufwand mehr als auf.“ Aktuell investieren die Gesellschafter des ETW 20 Millionen Euro, um die Anlage zu modernisieren. 

Auch die Modelle im Maßstab von etwa 1:30 (Spannweite bis 1,6 Meter) sind nicht eben günstig, 300 000 bis drei Millionen Euro kosten sie, je nach Oberflächengüte und Detailgenauigkeit. Ein solches Modell aus den Anfangszeiten des ETW steht im Eingangsbereich, ein Airbus A310. Es ist aus Martensit-ausgehärtetem Edelstahl, der den tiefen Temperaturen im Windkanal widersteht. Innen ist das Modell hohl, damit verschiedene Messgeräte untergebracht werden können. „In einem typischen Flugzeugentwicklungsprogramm gibt es mindestens drei Windkanaltest-Modelle, potenziell eher mehr. Gewöhnlich wird jedes der Modelle in mehreren Anlagen getestet“, sagt Mathew L. Rueger, Windkanal-Experte bei Boeing. Das sind beim amerikanischen Flugzeugbauer unter anderem verschiedene eigene Windkanäle in Seattle, Philadelphia und St. Louis, Anlagen der NASA, der QinetiQ-5-Meter-Windkanal im britischen Farnborough und eben der ETW. Zur Ermittlung von Kräften und Drücken kommen verschiedene Messtechniken zum Einsatz. Dazu gehören im ETW unter anderem Dehnmessstreifen, die bei Verformungen ihren elektrischen Widerstand ändern, oder optische Verfahren wie temperatursensitive Farbe (TSP, Temperature Sensitive Paint), die die beim Strömungsumschlag entstehenden Temperaturveränderungen mithilfe von UV-Licht sichtbar macht.

In unmittelbarer Nähe des ETW steht auf dem Gelände des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) sozusagen sein kleiner Bruder, der Kryo-Kanal Köln (KKK), der bereits seit 1962 in Betrieb ist. Dort werden mithilfe des Kanalgases Stickstoff sogar noch tiefere Temperaturen als im ETW erzeugt – bis -190 Grad. Der KKK ist ein Unterschallwindkanal mit simulierten Geschwindigkeiten bis Mach 0.38 (rund 420 km/h). Er erreicht bei Halbmodellen Reynoldszahlen bis 15,5 Millionen, bei Vollmodellen bis 7,3 Millionen. Der Elektromotor, der den Kompressor antreibt, hat eine Leistung von 1,4 Megawatt. Für 40 000 bis 50 000 Euro pro Tag werden auch hier Auftragsmessungen durchgeführt. Beispielsweise wurde der Airbus A380 sowohl im ETW als auch im KKK getestet.

Schon diese beiden Windkanäle in Köln zeigen, dass es nicht eine Anlage gibt, die alles kann. Jede Einrichtung bildet nur einen kleinen Bereich der Wirklichkeit ab. Allein die von DLR und der niederländischen Partnerorganisation NLR eingerichtete Stiftung Deutsch-Niederländische Windkanäle (DNW) betreibt mehr als 20 Windkanäle. Hinzu kommen weitere Anlagen in Europa wie der Hochgeschwindigkeitskanal im französischen Modane-Avrieux. Der größte Windkanal der Welt steht übrigens in Mountain View in Kalifornien und wird heute von der US Air Force betrieben. In ihn passen ganze Flugzeuge mit Spannweiten bis zu 30 Metern.

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Weitere Windkanäle

Neben dem Kryo-Kanal betreibt das DLR auf dem Gelände in Köln fünf weitere Windkanäle für unterschiedliche Zwecke.

Lichtbogenbeheizter Windkanal:
In den beiden Messstrecken L2K (1 Megawatt) und L3K (6 Megawatt) werden Temperaturen bis zu 7000 Grad Celsius und Geschwindigkeiten bis Mach 10 simuliert – Bedingungen, wie sie beispielsweise beim Wiedereintritt eines Raumfahrzeugs in die Erdatmosphäre herrschen. 

Über-/Hyperschall-Windkanäle:
Drei weitere Anlagen stehen für Tests bei Machzahlen bis 11.2 zur Verfügung. In der vertikalen Messstrecke werden unter anderem Schuberzeugung und Steuerung von Flugkörpern durch Feststofftreibsätze bei Mach 0.5 bis 3.2 untersucht. In der trisonischen Messstrecke, deren Simulationsbereich von Unterschall (Mach 0.5) bis zu hohem Überschall (Mach 5.7) geht, wird die Aerodynamik von Raumfahrzeugen, aber auch Triebwerkseinläufen getestet. Der Hyperschallwindkanal dient beispielsweise der Messung aerodynamischer und aerothermodynamischer Belastungen bei Geschwindigkeiten von Mach 4.8 bis 11.2.

FLUG REVUE Ausgabe 08/2016

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