Kraftakt in Indien: die Modernisierung von Air India

Kraftakt in Indien
Air Indias Erneuerung

ArtikeldatumVeröffentlicht am 22.04.2024
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Die größte Transformation in der Geschichte von Fluggesellschaften

Campbell Wilson versuchte zuletzt, fast überall gleichzeitig zu sein. Seit Mitte 2022 ist der Neuseeländer, vorher bei Singapore Airlines und dort Gründer und CEO des Billigablegers Scoot, Chef von Air India in Neu Delhi. Dort gibt es so viele Baustellen, dass Wilson und sein Team kaum wissen, wo sie anfangen sollen. Überall ihre Geschichte der vermutlich größten Transformation zu erzählen, die es je in der Geschichte von Fluggesellschaften gab, gehört auch dazu. Auf der IATA-Generalversammlung in Istanbul lauscht die Branche andächtig, als er auf der Bühne erklärte: "Ich habe den interessantesten und aufregendsten Luftfahrtjob, den es auf der Welt gibt. Es gibt keinen besseren Ort als den, wo ich bin, auch wenn das nicht der einfachste Platz ist." Dann eilte der CEO direkt nach Hamburg auf die Kabinenmesse Aircraft Interiors, wo er sich mit seinem Team um Bestellungen von Sitzen für die neuen Flugzeuge kümmerte, welche die Kunden erst ab übernächstem Jahr erleben können. Vorzeitig musste er nach Mumbai zurück, eilige Termine. Unterdessen machte Air India schon wieder unrühmliche Schlagzeilen – eine Boeing 777 auf dem Weg von Delhi nach San Francisco war nach Triebwerksproblemen vorsorglich in Magadan gelandet, und nun saßen Passa-giere und Besatzung plötzlich im abgelegenen Fernen Osten Russlands fest. Die Airline löste das Problem erstaunlich zügig und geräuschlos – auch das ein Zeichen, dass bei Air India schon eine neue Firmenkultur greift. Gut eine Woche später ist Campbell Wilson schon wieder in Europa, diesmal auf der Luftfahrtschau in Paris, wo er die im Februar 2023 angekündigten Rekordorders über insgesamt 470 Flugzeuge von Airbus und Boeing final unterschreibt.

Air India

Einst von TATA gegründet

Die Schlagzeilen macht diesmal der große Konkurrent aus Indien, denn IndiGo ordert in Paris mit 500 Airbus-Jets sogar noch mehr Flugzeuge auf einen Schlag. "Wir sind hier alle jedenfalls wirklich immer sehr, sehr beschäftigt", lacht Wilson, als er endlich zum lange verabredeten und mehrfach verschobenen Interview mit der FLUG REVUE Zeit hat. "Durch diese Transformation liegt schon sehr viel auf unserem Teller."

Air India, 1932 gegründet vom Patriarchen J.R.D. Tata als Tata Airways, war lange eine Airline-Legende und galt in den 1960ern und 1970ern als eine der besten Fluggesellschaften der Welt. Schon seit 1946, seitdem sie unter ihrem heu-tigen Namen fliegt, nutzte Air India als Maskottchen und Werbefigur einen Maharadscha; zusammen mit den an einen indischen Palast erinnernden eckigen Fensterumrahmungen auf Air-India-Flugzeugen brachte ihr das den Beinamen "fliegender Maharadscha" ein. Schon 1953 übernahm die indische Regierung die Mehrheit an der Gesellschaft von Tata. Viele Jahrzehnte im Regierungsbesitz ohne Investitionen, mit aufgeblähter Bürokratie und ineffizientem Flugbetrieb machten aus Air India einen Sanierungsfall. Im Oktober 2021 übernahm im Rahmen der Privatisierung wiederum die Tata-Gruppe, ein multi-nationales Industriekonglomerat mit Sitz in Mumbai. Damit wiederholte sich quasi die Geschichte. "Wir wollen wieder anerkannt werden als eine der besten Airlines der Welt. Das waren wir schon mal, aber dass das auch heute möglich ist, zeigen indische Marken wie die TajHotels, die auch zur Tata-Gruppe gehörenund als weltweit führend in ihrer Servicequalität gelten", sagt Campbell Wilson. "Das wird bei Air India dauern, aber die Tata-Gruppe stellt alle Ressourcen bereit, damit das passiert."

AirTeamImages: Aproop Joshi

Personal-Nachholbedarf

Allein die Flugzeugbestellungen haben einen Listenwert von über 70 Milliarden Dollar. "Auch die Erneuerung der Kabinen ist ein großes Vorhaben, wir geben 400 Millionen Dollar aus für neue Produkte auf Langstrecken. Dann die Einführung neuer Technologie, über 200 Millionen US-Dollar kostet allein die neue IT als Rückgrat der Airline", zählt der CEO auf. "Dann sind viele Neueinstellungen nötig. Air India hatte zuletzt über 15 Jahre lang keine neuen Mitarbeiter eingestellt, außer Flugbesatzungen. Wir müssen dazu unsere Trainingseinrichtungen aufbauen, um genügend Leute auszubilden, die all diese neuen Flugzeuge fliegen, und dafür auch unser ganzes Ingenieurwesen und die Wartung umbauen", so Wilson. "Und das passiert alles unabhängig von den beiden andauernden Fusionen." Airline-Fusionen allein sind für das verantwortliche Management schon eine extreme Belastung. Bei der neuen Air India werden unter Campbell Wilsons Leitung mal eben aus vier Gesellschaften zwei unter einem Dach geformt. Am weitesten gediehen ist das im Billigflugbereich. "Wir haben im September 2022 AirAsia India erworben und zu einer Tochtergesellschaft gemacht, nachdem wir dafür die Genehmigung der Kartellbehörde hatten, und lassen sie im Verbund mit Air India Express jetzt von einem gemeinsamen CEO führen. Im März haben wir die Reservierung und andere Berührungspunkte für die Kunden zusammengelegt, jetzt wird der Rest der Fusion in den kommenden zehn bis zwölf Monaten vollzogen, und unser Billigflugbereich heißt dann AIX Connect", erklärt Campbell Wilson.

Andreas Spaeth

Geplante Fusion – wenn die Behörden zustimmen

Schwieriger ist die Lage bei der geplanten Fusion von Air India und Vistara, einer erst 2015 gestarteten Vollservice-Airline, einem Joint Venture der Tata Group und Singapore Airlines, das jetzt in der neuen Air India aufgehen soll. Allerdings haben die indischen Kartellbehörden Bedenken geäußert, die es noch auszuräumen gilt. "Wenn wir die schon beantragte behördliche Genehmigung für den Zusammenschluss bekommen, haben wir beschlossen, den Namen Air India für die Vollservice-Gesellschaften der Gruppe zu nutzen."

AirTeamImages: Anshul Kadam

Nadelöhr ist die Flotte

"Zunächst werden beide unter ihrem jeweils eigenen Namen getrennte Flug- betriebe behalten, bis der Name Air India den gleichen oder einen höheren Stellenwert als Vistara erreicht hat, um dann der gemeinsame Name zu sein. Sobald die kartellrechtliche Geneh- migung da ist, wird die Fusion unter ein gemeinsames Luftverkehrsbetreiberzeugnis (AOC) etwa ein Jahr dauern", erläutert Campbell Wilson. Um das Streckennetz, wie geplant, zügig ausweiten zu können, vor allem international, braucht Air India so schnell wie möglich mehr funktionsfähige Flugzeuge mit renovierter oder neuer Kabineneinrichtung. Ende Juni setzte die Gesellschaft insgesamt 104 Jets ein, verfügte aber über 120 Maschinen. Einige von ihnen waren aus Geldmangel teilweise jahrelang nicht flugbereit und abgestellt und wurden jetzt wieder flugtauglich gemacht. Zwei Boeing 787 und eine 777 bräuchten noch einige Monate, so Wilson, bis sie wieder einsatzbereit seien.

AirTeamImages: Dipankar Bhakta

Zulauf auch aus alten Aeroflot Bestellungen

Insgesamt liegt der Zulauf zur Air-India-Flotte 2023 bei etwa 55 Flugzeugen. Neben den hergerichteten eigenen Jets least die Gesellschaft kurzfristig 25 Maschinen der A320-Familie plus 11 Boeing 777-200ER und -300ER, die zuvor bei Delta und Etihad flogen. "Fünf davon sind schon da, sechs kommen bis zum Jahresende." Bis dahin werden auch mindestens die ersten beiden fabrik- neuen Flugzeuge seit Langem eintreffen: "Zwischen Oktober/November 2023 und März 2024 erwarten wir die ersten von sechs neuen Airbus A350, die ursprünglich für Aeroflot gebaut und ausgestattet wurden," so der CEO, "auch die ersten Boeing 737 MAX 8 aus der jüngsten Order erwarten wir bis dahin."

Air India

Fehlender Marktanteil bei internationalen Flügen

Die wichtigsten Flugzeuge zur Erneuerung der Langstreckenflotte werden aber 34 Airbus A350-1000 sein, die ab 2025 geliefert werden, und später dann auch 10 Boeing 777-9. Klar ist, dass die verfügbare Flotte der limitierende Faktor ist: "Insgesamt haben wir viel mehr Möglichkeiten als Flugzeuge. Die Frage ist nicht: Liegt an diesem oder jenem Zielort eine Gelegenheit? Sondern die Frage ist: Welche der vielen Möglichkeiten hat die höchste Priorität?", sagt Campbell Wilson. Dabei spielt auch Air India Express eine Rolle, die bisher zumeist unabhängig von Air India operiert. "In Zukunft wollen wir zwischen Vollservice- und Billiganbieter mehr Synergien schaffen", hat er sich vorgenommen. Trotzdem ist seit Herbst 2022 schon einiges geschehen bei der Expansion des internationalen Angebots, und das ist aus indischer Sicht dringend nötig. Denn die einheimischen Gesellschaften müssen sich mit gerade mal zwölf Prozent Marktanteil beim Passagiertransport von und nach Indien bescheiden.

AirTeamImages: Olivier Corneloup

Routennetz wird dichter

Bisher war die in Indien beheimatete Langstreckenflotte aufgrund bürokratischer Hürden extrem limitiert: Air India verfügt aktuell über 47 Großraumflugzeuge (inklusive inaktiver Jets), die jetzt dazukommende Vistara über gerade 4 Boeing 787 und IndiGo hat derzeit 2 Boeing 777 aus der Türkei geleast. Das mutet bei der mit 1,42 Milliarden Menschen größten Nation der Welt beinahe absurd wenig an. Air India macht, was sie kann. "In Europa haben wir dieses Jahr schon fünf neue Flughäfen ins Streckennetz aufgenommen: Mailand-Malpensa, Kopenhagen, Wien, London-Gatwick und Amsterdam, alle mit der Boeing 787. Bald starten wir Flüge von Mumbai nach Paris-CDG und nach Frankfurt", kündigt Wilson an. "Wir bauen auch die Kapazität ab London-Heathrow nach Delhi und Mumbai aus. Dafür verlegen wir einige Flüge zu Regionalzielen wie Amritsar, Ahmedabad, Goa und Kochi nach Gatwick. Alle unsere wertvollen Slots in Heathrow werden jetzt für die Schlüsselmärkte Mumbai und Delhi genutzt. In Nordamerika haben wir das Angebot aus Delhi und Mumbai nach Vancouver und New York verstärkt und die Strecke Bangalore-San Francisco eingeführt", zählt der CEO auf. Und das ist noch nicht alles: "Wir planen mehr Frequenzen in Australien nach Sydney und Melbourne und weiteren Destinationen dort, auch Ostasien wird stärker in den Fokus rücken. Und das alles noch bevor wir überhaupt die ersten der bestellten 470 neuen Flugzeuge bekommen, die Ausweitung des Streckennetzes ist eine Hauptpriorität."

Ambitionierter Fünfjahresplan

Schon deshalb, weil Air India bisher im Inland gegen die übermächtige IndiGo eher wenig zu melden hatte. Gegen deren Marktanteil von aktuell über 60 Prozent kann sie auch zusammen mit AirAsia India, Air India Express und Vistara nicht einmal annähernd etwas entgegensetzen, gemeinsam erreichen sie gerade ein Drittel soviel.

Das muss Campbell Wilson ändern: "Unser Fünfjahresplan zur Transformation wird der ersten Phase der neuen Air India einen Kickstart geben. Wir hoffen, in Indien auf 30 Prozent Marktanteil, sowohl für Inlands- als auch internationale Abflüge." Vor dem Fünfjahresprogramm lag seine Gesellschaft bei Inlandsflügen unter 9 Prozent, im Mai 2023 waren es 9,4 Prozent. "Mit AirAsia India als Tochter und hoffentlich der Genehmigung für die Fusion mit Vistara kämen wir heute schon auf insgesamt 26 Prozent Marktanteil für Abflüge aus und innerhalb des Landes. Wenn wir dann noch die bestellten neuen Flugzeuge bekommen, führt das hoffentlich dazu, dass wir die 30 Prozent erreichen", erklärt der CEO. Alles, was bei der ehemals nationalen Fluggesellschaft passiert, steht im Fokus der kritischen indischen Medien und der Öffentlichkeit.

AirTeamImages: Yochai

Landesweite Bedeutung

Auch nach Amtsantritt musste der Neuseeländer immer wieder mäßigend eingreifen, sich aber auch entschuldigen, wenn zu sehr die alte Firmenkultur durchkam. Etwa bei den mehreren als "Peegate" bekannten Zwischenfällen mit urinierenden Passagieren an Bord oder Piloten, die junge Frauen ins Cockpit einluden während des Fluges. "Als Airline im Regierungsbesitz herrschte hier eine andere Firmenkultur und man ist mit solchen Fällen anders umgegangen. Das ist ein Erziehungsprozess, den wir durchlaufen, um die Kultur einer solchen Organisation zu verändern und auf einen internationalen Standard zu bringen", erklärt Wilson. "Wir spüren die Erwartungshaltung der indischen Bevölkerung, ihr großes Bedürfnis danach, dass Air India mit ihrer langen Geschichte das Land international würdig repräsentiert. Alle sind ungeduldig, und wir können uns glücklich schätzen, dass wir von über 1,4 Milliarden Menschen unterstützt werden, auch wenn die wollen, dass wir unsere Ziele schneller erreichen."