Am Ende musste Staatspräsident Luiz Inácio ("Lula") da Silva mit einem amtlichen Erlass in den seit Langem schwelenden Konflikt eingreifen. Um das Missverhältnis der Kapazitätsauslastung beider Flughäfen von Rio de Janeiro zu beseitigen, sollen Inlandsflüge über 400 Kilometer Streckenlänge ab 2024 vom brachliegenden internationalen Airport "Tom Jobim" im Norden der Stadt abgewickelt werden, entschied Lula auf Wunsch von Bürgermeister Eduardo Paes und Cláudio Castro, dem Gouverneur des zuständigen Bundeslandes. Nur die Wirtschaftsmetropole São Paulo und wenige andere Großstädte würden dann noch von Rios zentrumsnahem Inlandsflughafen "Santos Dumont" aus bedient. Bei der Neuregelung gilt jedoch eine Übergangsfrist von Oktober 2023 bis Januar 2024, damit bereits gekaufte Tickets noch genutzt werden können.

Santos Dumont Airport: nur vier Kilometer östlich der Innenstadt liegt Rios beengter Inselflughafen.
Zusammenbruch und Wachstum
In den Vorjahren verwaiste der internationale Airport "Tom Jobim", im Volksmund auch als "Galeão" bekannt, in der Tat stark. Die Zahl der Fluggäste sank dort seit 2014 von 17 auf 6 Millionen – weit unter die jährliche Kapazität von 34 Millionen. Am Regionalflughafen "Santos Dumont" kletterte der Wert dagegen, trotz Coronakrise und Wirtschaftsflaute, mit einigem Auf und Ab von 9,2 Millionen im Jahr 2013 auf 10,2 Millionen im Jahr 2022 und damit schon leicht über seine Kapazitätsgrenze.

Antonio Carlos Jobim International Airport: Galeao (Galeone) lautete der Spitzname des internationalen Flughafens wegen der Terminals in Bootsform.
Bei Umfragen begründeten viele Fluggäste ihre Abneigung gegen "Galeão" mit dessen schlechter Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel und dem Risiko von Überfällen bei Fahrten mit Pkw oder Taxi. Denn die Stadtautobahn zum "Viermaster" führt an einer der größten und für Gewalttaten anfälligen Elendssiedlungen der Stadt vorbei. Am überfüllten "Santos Dumont" drohten den Passagieren dagegen zuletzt Wartezeiten von bis zu einer Stunde bei der Suche nach einem Parkplatz oder beim Check-in. Das macht seine an sich günstigere Lage teilweise wieder zunichte.

Seine staugefährdete Straßenanbindung hat Galeao Popularität gekostet.
Expansion praktisch unmöglich
Jedoch wäre hier eine räumliche Erweiterung, abgesehen von den hohen Kosten, auch technisch schwierig. Denn der Inlandsflughafen von Rio liegt auf einem schmalen Randstreifen der Hafenbucht – eingeklemmt zwischen den Kabeln der Drahtseilbahn auf den Zuckerhut und einer 14 Kilometer langen Autobahnbrücke zur Nachbarstadt Niterói. Immerhin sollen am "Santos Dumont" für etwa 45 Millionen Euro zwei Jahre lang Bauarbeiten stattfinden, um die Abfertigung zu beschleunigen und die Flugsicherheit zu verbessern. Ferner werden dort Slots und Passagierzahl künftig gedeckelt.

Die Insellage sorgt in Santos Dumont für kurze Pisten und beengte Verhältnisse.
Drehkreuz-Comeback
Hauptzweck der Aufkommensverlagerung ist jedoch der Versuch, den "Galeão" wieder zu einem echten Drehkreuz für In- und Auslandsflüge aufzumöbeln. Denn im Vorjahr kam der "Viermaster" mit seinen beiden Terminals nur auf 12 Inlands- und 19 Auslandszielorte. Noch 2019 waren es 21 bzw. 26 Destinationen. Infolgedessen sackte er im selben Zeitraum bei den Passagierzahlen mit einem Anteil von etwas mehr als drei Prozent von Platz 4 auf Platz 10 der landesweiten Rangliste Brasiliens ab – nach Zahl der Starts und Landungen sogar auf Platz 16 (siehe Tabelle). Dagegen verbesserte der "Santos Dumont" seinen Marktanteil bei den Fluggästen von etwa 4,2 auf 5,5 Prozent und stieg somit in der Rangliste von Platz 7 auf Platz 5. Beide Flughäfen liegen dabei aber weit abgeschlagen hinter denen von São Paulo, wo der internationale Airport "Guarulhos" letzthin mit fast 19 Prozent Marktanteil nach Zahl der Fluggäste die Spitzenposition hielt und der dortige Inlandsflughafen "Congonhas" es mit knapp zehn Prozent auf den zweiten Platz der Rangliste schaffte.

Am internationalen Flughafen Galeao brach die Passagierzahl auf unter sechs Millionen Fluggäste pro Jahr ein.
Gol zieht langsam mit
Auch nach der geplanten Verlagerung würde "Galeão" erst auf 60 Prozent Auslastung kommen und müsste dazu die Zahl der Fluggäste von jährlich 6 auf 21 Millionen hochtreiben. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, bleibt abzuwarten. Immerhin gibt es positive Anzeichen für den Erfolg des Vorhabens. Von den drei brasilianischen Airlines reagierte Gol als Erste und verdoppelte seit November die Zahl ihrer Starts und Landungen am "Galeão". Am "Santos Dumont" verringerte sie ihr Angebot dagegen um etwa 30 Prozent. Dadurch kletterte ihr Platzangebot am internationalen Airport von Rio auf 232 872 Sitze, mehr als am Inlandsflughafen.

Brasiliens Branchenriese Gol verlagert einen Teil seiner Inlandsflüge aus Santos Dumont zum Galeao.
Umland wird wichtiger
Zu den zwölf schon existierenden Zielorten von Gol am "Viermaster" kamen fünf neue. Sprecher der Airline erklärten dazu, die Veränderung habe nichts mit den verkehrspolitischen Beschlüssen der brasilianischen Regierung zu tun, sondern sei dazu bestimmt, Passagieren aus dem Umland von Rio die Anfahrt zum Flughafen zu erleichtern. Tatsächlich stammen heute nämlich zwei Drittel der Fluggäste des Regionalflughafens im Zentrum gar nicht mehr aus typischen Wohn- und Geschäftsvierteln der Stadt, sondern aus teils recht entlegenen Gebieten im Norden und Westen von Rio, für die "Galeão" ebenso gut erreichbar ist.

Mit den vermehrten Zubringerverbindungen sollen auch neue Langstreckenkunden angelockt werden.
Skeptische Airlines
Die beiden anderen Branchengrößen Latam und Azul lassen bei ihrem Umzug noch gewisse Vorsicht walten. Zwar senken auch sie die Zahl der Starts und Landungen am "Santos Dumont" um 26 beziehungsweise 22 Prozent. Aber Jerome Cadier, CEO von Latam, erklärte gleichzeitig, man warte noch auf amtliche Entscheide zum künftigen Steuersatz auf Kerosin. Die Steuer war am "Santos Dumont" bisher um mehr als die Hälfte niedriger als am "Galeão", und auf billigeres Kerosin würden die Unternehmen nach einem Wegzug natürlich nur ungern verzichten. Patrick Fehring, geschäftsführender Direktor der Betreibergesellschaft RIOgaleão, hofft bereits, dass ITA Airways nach der Neuordnung eine tägliche Flugverbindung zwischen Rio und Rom wieder aufnehmen wird. British Airways und American Airlines würden laut Fehring die Zahl ihrer Flüge vom "Galeão" nach London und Miami erhöhen. Lufthansa sei sicher auch daran interessiert, mehr Flüge nach Deutschland als bisher durchzuführen, falls durch das Verlagerungsprojekt vom "Viermaster" aus mehr Regionalverbindungen nach Südbrasilien mit seiner teils deutschstämmigen Bevölkerung entstünden.

A320neo von Azul im Endanflug auf Santos Dumont.
Unrealistische Erwartung?
In der Tat kündigte die Lufthansa inzwischen an, ab dem Frühjahr 2024 die Zahl ihrer Flüge nach Frankfurt von drei auf sechs zu verdoppeln. Die Verbindung nach München wurde dafür ab November 2023 eingestellt. Fehring ist sich aber der Tatsache bewusst, dass ein Flughafen für die Airlines als Drehkreuz erst dann attraktiv wird, wenn 30 Prozent der Passagiere einer internationalen Verbindung dort auf Inlandsflüge umsteigen können. Beim "Viermaster" sind es derzeit aber gerade mal vier Prozent. Denn während zum Vergleich etwa von São Paulo aus 57 andere Städte Brasiliens mit dem Flugzeug erreichbar sind, kommt Rio vorerst nur auf 27. Durch die Verlagerung von Flügen vom "Santos Dumont" zum "Galeão" soll auch dieser Abstand ab 2024 allmählich verringert werden.

Lufthansa stellt ihre Rio-Route aus Frankfurt im Jahr 2024 von der A330 auf die Boeing 787 um.
Problematik strukturell bedingt?
Claudio Frischtak von der Unternehmensberatung Inter.B meint, der Wirrwarr um die zwei Flughäfen von Rio sei nicht durch die rechnerische Überkapazität beim "Galeão" entstanden, sondern durch ein "von Anfang an falsch entworfenes Konzessionsmodell". Ideal, so der Berater, wäre die Verwaltung von "Galeão" und "Santos Dumont" durch eine gemeinsame Betreiberfirma, die mit eigenverantwortlicher Flugplanung für deren rentable Auslastung sorge. Das ist freilich leichter verlangt als verwirklicht. Denn seit der Versteigerung des "Viermasters" hält die Changi-Gruppe aus Singapur an der RIOgaleão zwar eine knappe Mehrheit von 51 Prozent, die anderen 49 Prozent gehören dagegen nach wie vor der staatlichen Flughafenagentur Infraero, obwohl in der Vergangenheit immer wieder deren Auflösung angekündigt wurde. Den Flughafen "Santos Dumont" wiederum kontrolliert die Infraero vollständig und wehrte sich darum jetzt vehement gegen die Auslagerung von Flügen, bezieht sie von Rios Inlandsflughafen doch 90 Prozent ihrer verbliebenen Einkünfte.

Der überfüllte Stadtflughafen Santos Dumont soll ab 2024 Teile seiner Inlandsflüge an den Galeao abgeben. Darüber sind nicht alle erfreut.
Rückforderung in neunstelliger Höhe
Die Changi-Gruppe stört beim "Galeão" eine überdurchschnittlich hohe Konzessionsgebühr von etwa 250 Millionen Euro jährlich, die noch bis 2039 gilt. Wegen des Einbruchs der Passagierzahlen beantragten die Asiaten darum Anfang 2022 die Rückgabe der Konzession sowie eine Entschädigung für ihre Investitionen von rund 400 Millionen Euro. Der Antrag von Changi versetzte Brasiliens Regierung nicht nur wegen der auf dem Spiel stehenden Summen in Panik. Sie befürchtete vielmehr auch, dass bei seiner Bewilligung eine Flut ähnlicher Gesuche von anderen enttäuschten Konzessionsnehmern über sie hereinbrechen werde. Da die Summe der vereinbarten Jahresgebühren im Übrigen nachträglich nicht mehr geändert werden kann, gibt es einzig die Möglichkeit, sie zeitlich zu strecken, um Changi zum Verbleib bei Rios internationalem Flughafen zu bewegen.

Wegen des Zuckerhutes müssen die Jets in Santos Dumont visuell zur Landung einkurven.
Über Preis gekauft?
Den Finger auf die Wunde aber legte kürzlich Rui Costa, Leiter der brasilianischen Präsidialkanzlei, als er vor neuen übersteigerten Erwartungen beim "Viermaster" warnte. Schon vor einem Jahrzehnt sei dort für den Einstieg beinahe das Dreifache des Mindestgebots hingeblättert worden, wohl in der Hoffnung aus ihm den "am meisten angeflogenen Airport unseres Planeten" zu machen. Damit versuchte der Beamte, die Verantwortung für das Dilemma von Rio auf die Betreiber des "Galeão" abzuwälzen. Dass aber der brasilianische Fiskus bei der damaligen Auktion umgerechnet fast sechs Milliarden Euro zufrieden einstrich, war ihm wohl auch bewusst.