Ohne sie geht nichts: „Dichtungen sind enorm wichtig in Flugtriebwerken. Man hat immer rotierende und statische Bauteile, die zueinander abgedichtet werden müssen. Das funktioniert nur mit einer guten Dichtung – gerade in Flugtriebwerken, wo die Anforderungen extrem sind“, erklärt Dr.-Ing. Stephan Pröstler, Projektmanager Bürstendichtungen bei MTU Aero Engines. So müssen die Dichtsysteme Temperaturen bis 550 Grad Celsius und Umfangsgeschwindigkeiten von bis zu 25 000 Umdrehungen pro Minute aushalten. Dichtungen sind nicht nur für den Betrieb und die Sicherheit unerlässlich, sie sind auch ein maßgeblicher wirtschaftlicher Faktor: „Je besser eine Dichtung funktioniert, desto effizienter kann das Triebwerk arbeiten.“ Weit verbreitet sind sogenannte Labyrinthdichtungen, bei denen es sich um Dichtspitzen handelt, die auf den Rotor aufgebracht werden: „Wenn die Luft über eine solche Spitze streicht, kommt es zu Verwirbelungen hinter der Spitze. So entsteht praktisch ein Labyrinth für die Luft, das sie an der Durchströmung hindert.“
Premiere im Getriebefan
Erhebliche Verbesserungen verspricht ein Konzept, an dem die MTU schon seit 30 Jahren arbeitet: die Bürstendichtung. Wie ihr Name sagt, kann man sie sich als kleine Drahtbürste vorstellen. Die Luft muss sich ihren Weg durch ein von einem Klemmrohr gehaltenes Paket bahnen, das aus tausenden winziger Drähte besteht. Diese sind aus dem Material Haynes 25 auf Cobaltbasis hergestellt und besitzen einen Durchmesser von 0,07 bis 0,15 Millimetern. Damit der Rotor bei einem möglichen Eintauchen keinen Schaden nimmt, müssen sie relativ flexibel sein. Idealerweise haben die Drahtpakete immer Kontakt zum Rotor, um den Spalt so gering wie möglich zu halten. So hindern sie den Luftfluss, und das, laut Dr.-Ing. Pröstler, sehr effizient. „Bürstendichtungen können die Leckage deutlich senken, mindestens um 50 Prozent, im Idealfall bis 80 Prozent; das hängt vom Einsatzort der Dichtung und den Randbedingungen ab. Ein weiterer Vorteil ist der Bauraum; Bürstendichtungen sind kleiner. Dadurch kann das Triebwerk kleiner und leichter gebaut werden.“
Diese Vorteile nutzt auch das Pratt & Whitney PW1100G-JM. Im A320neo-Antrieb finden sich je zwei Bürstendichtungen im Verdichter und in der Turbine. Aber warum kommen die Bürstendichtungen erst jetzt zum Einsatz? Aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen in der Luftfahrt scheuten die Ingenieure lange den hohen Aufwand der Zulassung. „In den letzten zehn Jahren erfolgte ein Umdenken, um die Effizienz der Triebwerke weiter zu steigern.“
Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten





In der militärischen Welt fliegen sie seit gut 20 Jahren, nachdem eine Labyrinthdichtung im Tornado-Antrieb RB199 aus Sicherheitsgründen ersetzt werden musste. „Dennoch stehen Bürstendichtungen in der Luftfahrt erst am Anfang ihrer Karriere. Mit dem Sprung in die GTF-Programme haben wir einen Meilenstein geschafft“, meint Dr. Pröstler. Doch damit nicht genug: Die Anwendungsbereiche sollen erweitert werden. Problem hier ist unter anderem die Temperaturbeständigkeit der Drähte. Für die Verwendung in der Hochdruckturbine etwa muss das Material rund 900 Grad Celsius aushalten. Dazu entsteht ein eigener Prüfstand in München. Innerhalb der MTU ist die Bürstendichtungsabteilung quasi eine kleine Firma in der Firma, die alle Bereiche komplett eigenständig betreut. Der Luftfahrtbereich macht dabei nur rund ein Drittel des Geschäfts aus, wie Benjamin Großkurth, Leiter Bürstendichtung bei der MTU, erläutert: „Zwei Drittel konzentrieren sich auf das Drittgeschäft mit mannigfaltigen Anwendungen: ganz klassisch Gas- und Dampfturbinen oder auch der Werkzeugbau. Beide Bereiche werden in Zukunft in etwa gleich stark steigen. Wir sehen im Hightech-Bereich unbegrenzte Möglichkeiten. Die Kunden müssen allerdings das Vertrauen in das Dichtkonzept bekommen. Wie wir in der Luftfahrt gesehen haben, benötigt dieser Prozess viel Zeit. Zehn Jahre vom Erstkontakt über die ersten Tests bis zur Serienreife sind keine Seltenheit. Wir sehen aber ein großes Potenzial und haben ein Programm zum Ausbau des Geschäfts begonnen.“
FLUG REVUE Ausgabe 10/2014