Gib Gummi! Flugzeugreifen an der Belastungsgrenze

Flugzeugreifen
Gib Gummi! Was Flugzeugreifen aushalten müssen

Veröffentlicht am 28.11.2023

Die meiste Zeit eines Fluges sind sie nur unnützes Gewicht, aber bei Start und Landung hängt (fast) alles von ihnen ab: Flugzeugreifen müssen bei Geschwindigkeiten wie im Motorsport arbeiten, tonnenschweres Gewicht tragen sowie Temperaturen bis zu 250 Grad Celsius aushalten. Tatsächlich ist Hitze einer der größten Feinde von Reifen. Beim Bremsen nutzen sich sowohl die Lauffläche als auch die darunter liegenden Schichten am stärksten ab. Die volle Belastung beim Rollen und beim Start tut ihr Übriges. Hersteller haben daher in den vergangenen Jahrzehnten viel Hirnschmalz investiert, wie sie die Reifen bei geringem Gewicht mit möglichst großer Widerstandsfähigkeit ausstatten können.

Safran

Ähnlich zum Autoreifen – mit entscheidenden Unterschieden

Reifen bestehen aus drei Hauptmaterialien: natürlicher und synthetischer Kautschuk, Stahl und Textilgewebe (auch Cord genannt). Hinzukommen weitere Komponenten wie Ruß (verantwortlich für die schwarze Farbe) und Kieselerde als Füllmaterialien, Öle und Harze als Weichmacher, Antioxidantien sowie Schwefel für die Vulkanisation. Die Kautschukmischung sowie die Art des eingesetzten Gewebes unterscheiden sich je nach Reifenhersteller und Flugzeug. Anders als bei Autoreifen muss der Gummi leitfähig sein, damit sich durch die starke Reibung bei Start und Landung keine Elektrizität aufbaut.

LH Technik: Jan Brandes

Radial- oder Diagnonalreifen?

Neben den Materialien spielt der Reifenaufbau eine wichtige Rolle. In der kommerziellen Luftfahrt kommen immer häufiger Radialreifen zum Einsatz. Sie sind nach Angaben von Michelin, Erfinder dieser Reifenarchitektur, im Vergleich zu Diagonalreifen bei gleicher Größe um 20 bis 30 Prozent leichter und erhitzen sich weniger stark. Dadurch sind sie langlebiger. Bei einem schlauchlosen Radialreifen befinden sich zwischen der äußeren und der inneren Gummischicht mehrere Lagen aus mit Gummi ummanteltem Nylon (oder anderen Kunstfasern wie Aramid, Rayon). So werden die Kräfte beim Rollen gleichmäßig verteilt. Diese Mantelschichten, auch Karkassen genannt, sind rechtwinklig zur Laufrichtung angeordnet. Im Bereich der Lauffläche sorgen Gürtelschichten aus dem gleichen Material für zusätzliche Stabilität und Begrenzung des äußeren Reifendurchmessers.

Dunlop

Wickeln und Kochen

Hinzu kommt je nach Reifenhersteller und Reifentyp noch eine Schutzschicht aus Stahl oder Textilgewebe direkt unter der Lauffläche. Dadurch ist sie steif und widerstandsfähig, und der Druck bei der Landung wird gleichmäßig verteilt. Da die Richtung der Kunstfasern der Radialkraft des Berstdrucks entspricht, kommen Radialreifen an der Seitenwand mit weniger Verstärkungsschichten aus als Diagonalreifen. Allerdings sind sie an den Seiten anfälliger für Beschädigungen. Bei Diagonalreifen sind die Mantelschichten um rund 45 Grad zur Laufrichtung geneigt und überlappen sich im 90-Grad-Winkel. Das ergibt ähnliche mechanische Eigenschaften auf der Lauffläche und an den Seiten. Reifenbestandteile aus Gummi, also die Lauffläche, die Seitenwand und die luftdichte Innenschicht, werden mit einem Extruder geformt. Die Textilcordeinlage und der Stahldraht werden in einem Kalander mit einer Gummischicht überzogen. Der eigentliche Reifen wird auf einer zylindrischen Trommel gewickelt: Nach und nach werden die Karkassen, Gürtel und Laufstreifen präzise aufgelegt und festgerollt. Anschließend folgt die Vulkanisation. Dabei wird der Rohling in einer Form unter hohem Druck bei Temperaturen um 160 Grad Celsius "gekocht". So erhält er seine finale Form und sein Profil.

Dunlop

Einige Wochen bis Monate im Einsatz

Je nach Flugzeugtyp, Einsatzgebiet und -art (Kurz- oder Langstrecke) halten Flugzeugreifen nach Angaben von Dunlop zwischen 200 und 400 Starts und Landungen aus. Bridgestone gibt an, dass Radialreifen im Schnitt 350, Diagonalreifen etwa 200 Starts und Landungen verkraften. Danach werden sie ausgetauscht und runderneuert. Gemäß den Vorschriften der US-Luftfahrtbehörde FAA ist das bis zu zwölf Mal möglich. Hersteller arbeiten an ständigen Verbesserungen, damit ihre Reifen viele Landungen bewältigen können und gleichzeitig möglichst leicht sind. Denn jedes Kilogramm zu viel im Flug kostet Treibstoff. Ein Radialreifen für den Airbus A350 wiegt beispielsweise knapp 127 Kilogramm. Das macht allein beim Hauptfahrwerk der A350-900 rund eine Tonne aus. Reifen für Single-Aisle-Flugzeuge wie die Boeing 737 wiegen nach Angaben von Goodyear zwischen 75 und 100 Kilogramm.

Goodyear

Stickstoff statt Luft

Bei der Reifenherstellung kommen deshalb neue, hochbeständige Hybridmaterialien zum Einsatz. Im "Flight Radial"-Reifen von Goodyear, den Airbus für die A321XLR ausgewählt hat, ist es beispielsweise mit Nylon umwickeltes Kevlar. Das sorgt für Festigkeit und Widerstandsfähigkeit bei gleichzeitig geringem Gewicht. Auch das Wulstdesign bietet Optimierungspotenzial. Die Wulst wird für mehr Stabilität mit einem Drahtkern versehen, um eine luftdichte Verbindung zwischen Reifen und Felge zu garantieren. In der Luftfahrt wird dafür zum Beispiel leichtes Aluminium genutzt.

Airbus - Master Films - Herve Gousse

Druckmessung aus der Ferne – Zeitersparnis

Relativ neu ist der Ansatz, einen elektronischen Luftdrucksensor in den Reifen zu integrieren. Michelin und Safran Landing Systems bieten das im gemeinsam entwickelten "PresSence"- Reifen an. So kann der Reifendruck bereits 45 Minuten nach der Landung aus der Ferne gemessen werden. Zu diesem Zeitpunkt wäre der Reifen noch zu heiß, um den täglichen Pflichtcheck manuell durchzuführen. Der Reifendruck beeinflusst wesentlich den Verschleiß. Durch zu niedrigen Druck wird zusätzliche Hitze aufgebaut. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sich die Verbindungen zwischen den verschiedenen Gummikomponenten lösen. Die meisten Flugzeugreifen haben einen sechsmal höheren Druck als Autoreifen, so Goodyear. Gefüllt sind sie in der Regel mit Stickstoff. Das verringert die Brandgefahr bei überhitzten Bremsen. Zudem dient Stickstoff dem Korrosionsschutz von Felgen und Ventilen.

U.S. Air Force photo by Senior Airman Alexander Cook

Langwierige Entwicklung

Reifen werden an die spezifischen Belastungs- und Geschwindigkeitsanforderungen eines Flugzeugs angepasst und mit den Standards der Flugzeughersteller abgestimmt. Die Entwicklung inklusive Tests und Zertifizierung kann nach Angaben von Goodyear zwischen neun Monaten und vier Jahren dauern.