Regungslos hängt der Open Rotor an diesem sonnigen Novembertag am neuen Freiluftprüfstand auf dem Militärflugplatz im südfranzösischen Istres. Sein Anblick irritiert: Das Triebwerk hat keine bullige Gondel, stattdessen verbergen sich Verdichter, Brennkammer, Turbine und Getriebe unter einer schmalen, zigarrenförmigen Verkleidung. Aus dem hinteren Teil kommen, in zwei Reihen angeordnet, riesige Luftschrauben heraus. Sie sehen aus, als seien sie verbogen. Über einige davon wurden rote Stoffüberzieher gestülpt, mit Schnüren sind sie am Boden fixiert. Das futuristische Triebwerk soll sich, wenn der Testbetrieb ruht, nicht wie ein Windrad im kalten Mistral drehen.
Der Open Rotor ist die Basis für einen möglichen Antrieb für künftige Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge, er bietet einen Schub im Bereich von rund 100 Kilonewton. Im Vergleich zum 2016 in Dienst gestellten LEAP-Triebwerk von CFM International (Gemeinschaftsunternehmen von Safran und GE Aviation) soll er noch einmal 15 Prozent weniger Treibstoff verbrauchen. „Das ist aus heutiger Sicht die einzige Architektur, die das ermöglicht”, sagt Jérôme Bonini, Leiter der Forschung und Entwicklung bei Safran Aircraft Engines (früher Snecma). Der französische Triebwerkshersteller hat den Demonstrator im Rahmen des europäischen Forschungsprogramms Clean Sky und dessen Nachfolger Clean Sky 2 federführend entwickelt und von Ende Mai bis Ende Dezember 2017 in Istres getestet. 2030 könnte der Open Rotor einsatzbereit sein.
Das Beste aus Zwei Welten
Die Idee des Open Rotor, einer Mischung aus Turbofan und Turboprop, ist nicht neu, aber in dieser in Europa weiterentwickelten Variante einzigartig. Die nicht ummantelten, gegenläufigen Propeller mit einem Durchmesser von rund vier Metern sollen die Vortriebseffizienz im Vergleich zu einem Turbofan steigern, ohne dass das Gewicht durch ein größeres Gehäuse zunimmt. Ein Anhaltspunkt für den Vortriebswirkungsgrad ist das Nebenstromverhältnis – die Luftmasse, die vom Bläser außen am Gasgenerator vorbeigeführt wird, im Verhältnis zur Luftmasse, die das Kerntriebwerk passiert. Beim Open Rotor beträgt es laut Safran mehr als 30:1. Moderne Turbofans wie das LEAP-1A oder das PW1100G-JM des Airbus A320neo erreichen heute 11:1 oder 12:1 bei einem Bläserdurchmesser von gut zwei Metern.
Damit ähnelt der Open Rotor eher einem Turboprop. Propellerturbinentriebwerke weisen nicht selten ein Nebenstromverhältnis von mehr als 40:1 auf und sind daher treibstoffeffizienter als Turbofans. Allerdings fällt der Propellerwirkungsgrad bei höheren Fluggeschwindigkeiten stark ab, weil die Blattspitzen dann mit Überschallgeschwindigkeit drehen und starke Reibung entsteht. Turboprop-Flugzeuge fliegen deshalb nur bis höchstens Mach 0.7 wirtschaftlich. Die im Vergleich zu einem Turboprop mit gleicher Leistung kürzeren, sich schneller und gegenläufig drehenden Propeller des Open Rotor sollen diesen Nachteil wettmachen. Mit Fluggeschwindigkeiten bis Mach 0.75 wären Flugzeuge mit Open-Rotor-Antrieb laut Safran nur unwesentlich langsamer als heutige Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge mit Mach 0.82.
Langwierige Entwicklung
2008 haben Safran, der GKN Aerospace (früher Volvo Aero), der italienische Technologiekonzern Leonardo, die italienische GE-Tochter Avio Aero und der europäische Flugzeughersteller Airbus die Arbeiten am Open Rotor unter dem Namen SAGE 2 (Sustainable and Green Engines / nachhaltige und ökologische Antriebe) aufgenommen. 65 Millionen Euro hat die Europäische Kommission beigesteuert, mindestens noch einmal so viel haben die Industriepartner selbst investiert. Während des Forschungs- und Entwicklungsprozesses gab es immer wieder Verzögerungen. „Es handelt sich um eine Technologie, die sich ziemlich von dem unterscheidet, was wir heute kennen. Deshalb erschien es uns wichtig, jedes Konzept unabhängig zu validieren“, erklärt Bonini. Zu den Neuheiten gehört neben den gegenläufigen Rotoren mit variablem, vollautomatisch gesteuertem Einstellwinkel auch ein Untersetzungsgetriebe. Es sorgt dafür, dass die Arbeitsturbine und die Rotoren im jeweils optimalen Drehzahlbereich laufen können. Ein solches Getriebe wird sehr wahrscheinlich auch in den Turbofan-Triebwerken der nächsten Generation von CFM International zum Einsatz kommen.
Komplexes Schaufeldesign

Die wohl kniffligste Aufgabe war, den Lärm der offenen Rotoren in den Griff zu bekommen: Rund sechs Entwürfe der Propellerblätter sowie diverse Tests im Onera-Windkanal in Modane in den französischen Alpen waren nötig, um ein passendes aerodynamisches und aeroakustisches Design zu finden. Das Ergebnis sind sehr dünne Propellerblätter aus 3D-gewebten Verbundwerkstoffen (wie die Bläserschaufeln des LEAP). In der vorderen Reihe sind es zwölf Stück mit einem Durchmesser von vier Metern, in der hinteren zehn mit einem Durchmesser von 3,8 Metern. Die vorderen und hinteren Propellerblätter sind unterschiedlich geformt. Sie sollen dafür sorgen, dass die durchgeschaufelte Luftmasse und der damit verbundene Lärm in Richtung der Triebwerksachse kanalisiert werden und sich nicht lateral verteilen. „Das Lärmniveau des Open Rotor entspricht nun dem des LEAP”, sagt Bonini. „Und er ist deutlich leiser als ein klassischer Turboprop-Antrieb.“ Man erfülle die jüngsten Lärmstandards des Kapitels 14 des Chicagoer Abkommens. Es gilt für Flugzeuge, die ab Ende 2017 zugelassen werden. „Aber wir haben noch einige Schritte vor uns, um die Akustik weiter zu verbessern.”
Für den Open-Rotor-Demonstrator nutzte Safran das Kerntriebwerk, also Verdichter, Brennkammer und Turbine, des M88 der Dassault Rafale. Die Wahl fiel auf diesen militärischen Antrieb, weil er zum einen kompakt ist und zum anderen komplett von Safran Aircraft Engines stammt. Dadurch konnten sowohl Nieder- als auch Hochdruckkomponenten ohne Veränderungen genutzt werden. Nur der Nachbrenner wurde entfernt. Sollte sich ein Flugzeughersteller für den Open Rotor entscheiden, würde das Kerntriebwerk entsprechend angepasst, versichert Bonini.
Rund 100 Stunden umfasste die Bodenerprobung des Open Rotor. Dafür baute Safran eigens für 15 Millionen Euro einen zweiten Freiluft-Prüfstand in Istres. Dort sollen künftig auch LEAP-Triebwerke und Antriebe mit größerem Bläserdurchmesser getestet werden. Für die Bodenläufe wurde der Open Rotor an einer Profilstruktur ähnlich einem Flügel montiert, die gegenüber der Senkrechten um 31 Grad geneigt ist. Das entspricht den Spezifikationen von Airbus für eine künftige Triebwerksaufhängung. Denn für den Open Rotor wäre ein komplett neues Flugzeugdesign nötig: Wegen der riesigen Propeller fände ein solches Triebwerk nicht mehr wie bisher Platz unter den Tragflächen, sondern müsste am Heck montiert werden.
Keine Flugtests geplant
„Das primäre Ziel der Tests war, die Funktionsfähigkeit dieser Maschine zu untersuchen“, sagt Bonini. 1200 Messpunkte wurden dafür installiert. Zudem machten Hochgeschwindigkeitskameras Aufnahmen von den drehenden Propellern, um die Blattwinkelverstellung zu beobachten. Die Safran-Ingenieure simulierten verschiedene Betriebsphasen: das Rollen eines Flugzeugs am Boden, Reiseflug, maximales Steigen und Start. Bis zu neun Megawatt (rund 12 200 PS) leistete der Open Rotor im Verlauf der Tests. Dabei wurde die multivariable, automatische Regelung des Zusammenspiels von Kerntriebwerk und Propellern validiert. Am Ende der Kampagne wurde der Open Rotor auch gezielt ins Ungleichgewicht gebracht, um sein Verhalten in anormalen Situationen zu untersuchen. Nach den Tests wird das Triebwerk nun demontiert und inspiziert.
„Wir haben genügend Daten und Erfahrungen gesammelt, um bei Bedarf in die Entwicklung eines Serientriebwerks einzusteigen“, sagt Bonini. Der Bedarf ist allerdings momentan die große Unbekannte. Ursprünglich waren im Rahmen von Clean Sky 2, das noch bis 2024 läuft, Flugtests mit einer A340 geplant. Doch Airbus hatte im Juli angekündigt, darauf zu verzichten, um einen stärkeren Fokus auf neue Triebwerke mit hohem Nebenstromverhältnis, aber konventioneller Architektur zu legen. Nicht nur die Anforderungen an die Integration und die damit verbundene Flugzeugneuentwicklung sind eine Hürde. Bleibt der Ölpreis mittelfristig niedrig, besteht für Flugzeughersteller und Airlines wenig Anreiz, sich auf einen solch radikalen Technologiewechsel einzulassen.
Es kann also durchaus passieren, dass der spritsparende Open Rotor niemals eine Anwendung finden wird. Bonini bleibt trotzdem zuversichtlich: „Wir entwickeln die nötigen Technologien, um für die Nachfrage des Marktes gerüstet zu sein.”
GE36: Der Vorfahre des Open Rotor

Im Rahmen der Ölpreiskrise 1973 litten amerikanische Fluggesellschaften unter einem drastischen Anstieg der Kerosinkosten. Der US-Senat beauftragte deshalb Mitte der 1970er Jahre die NASA mit der Suche nach treibstoffsparenden Konzepten für die Luftfahrt. Das war die Geburtsstunde des ersten Open Rotor. Der zunächst als Advanced Turboprop (ATP) bezeichnete Antrieb versprach einen um mindestens 30 Prozent geringeren Verbrauch gegenüber damaligen Turbofan-Triebwerken. Wegen des hohen Lärmniveaus und der Herausforderungen der Integration ins Flugzeug war es aber zugleich auch die technisch anspruchsvollste Lösung. Zudem waren sich die Ingenieure bewusst, dass die öffentliche Akzeptanz für Propellertriebwerke nicht besonders hoch war und ein solcher Motor als Rückschritt empfunden werden könnte. Dennoch begann die NASA die Arbeiten an verschiedenen Entwürfen des auch Propfan genannten Antriebs.

Von 1976 bis 1978 wurden Windkanaltests mit einem Propfan mit nur einem Propellerkranz durchgeführt. 1983 schlug General Electric ein ähnliches Konzept für ein getriebeloses Triebwerk mit gegenläufigen Druckpropellern vor, den GE36 Unducted Fan (UDF, nicht-ummantelter Bläser). Die NASA willigte ein, GE beim UDF zu unterstützen. Für den Demonstrator nutzte der amerikanische Hersteller als Kerntriebwerk das F404 (unter anderem für die McDonnell Douglas F/A-18 Hornet). Das Projekt gipfelte 1986 und 87 in drei Flugtestserien an einer Boeing 727 und einer McDonnell Douglas MD-80. Dabei wurden zwei Konfigurationen mit einer unterschiedlichen Anzahl an Blättern in den beiden hintereinander angeordneten Propellerreihen untersucht (8-8 und 10-8). Die Daten zeigten, dass mehr Blätter in der vorderen Reihe den Lärm reduzierten. Auch Pratt & Whitney und Allison arbeiteten in den 1980ern an einem Propfan-Demonstrator, der 1987 an einer modifizierten Gulfstream II erstmals flog. Als Ende der 1980er Jahre der Ölpreis wieder sank und weil kein kommerzieller Auftrag in Sicht war, wurde die Forschung am Open Rotor weitgehend eingestellt.
Rotor-Riese

Mit seinem großen Propellerdurchmesser soll der Open Rotor ein Nebenstromverhältnis von mehr als 30:1 erreichen.
Das LEAP-1A des Airbus A320neo hat nur einen halb so großen Bläserdurchmesser und kommt auf ein Nebenstromverhältnis von 11:1 – was im Vergleich zum vor mehr als 30 Jahren entwickelten CFM56 schon eine Verdoppelung bedeutet.
Nachfolger des LEAP?

Neben dem Open Rotor bereitet Safran einen weiteren Demonstrator im Rahmen von Clean Sky 2 vor: einen Getriebefan für Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge mit dem sperrigen Namen Ultra-High Bypass Ratio (UHBR / ultrahohes Nebenstromverhältnis). Schlüsselkomponenten sind das mit dem Open Rotor erprobte Untersetzungsgetriebe sowie eine schnell laufende Niederdruckturbine. Safran will mit dem UHBR ein Nebenstromverhältnis von etwa 15:1 realisieren.
Angepeilt sind Treibstoffeinsparungen von fünf bis zehn Prozent gegenüber dem LEAP-Triebwerk. Anders als der Open Rotor kann der UHBR wie bisher unter dem Flügel montiert werden. Einsatzbereit soll das Triebwerk bis 2025 sein. Sollte der UHBR in die Serienproduktion gehen, wird er nach Angaben von Safran von CFM International hergestellt – das wäre auch beim Open Rotor der Fall.
FLUG REVUE Ausgabe 02/2018