Flughafen Memmingen,12. November 2024, 11:12 Uhr. HALO, eine modifizierte Gulfstream G550, steht am Rollhalt der Startbahn 24. Die geplante Startzeit ist 11.20 Uhr, wir sind etwas zu früh. Mit dem Turm handeln die Piloten noch ein paar Minuten Wartezeit auf der Piste aus. Doch um 11.17 Uhr, drei Minuten zu früh, schiebt Marc Puskeiler, der Mann auf dem linken Sitz, die Schubhebel ganz nach vorn, um den Weg für einen landenden Airbus A320 freizumachen.

Der europäisch-japanische Forschungssatellit EarthCARE ist seit Ende Mai 2024 im Weltraum.
Forschungssatellit EarthCare
HALOs Mission ist es an diesem Tag, an einem genau definierten Ort exakt unterhalb des Forschungssatelliten EarthCARE (Earth Cloud Aerosol and Radiation Explorer) zu fliegen. Dabei werden Daten gesammelt, die bei der Validierung dieses neuen Satelliten helfen. Genaues Timing ist essenziell, damit sich Flugzeug und Raumfahrzeug treffen. EarthCARE wurde gemeinsam von der europäischen Raumfahrtagentur ESA und ihrem japanischen Pendant JAXA entwickelt. Der Satellit soll Erkenntnisse darüber liefern, welche Rolle Wolken und Aerosole, das sind feste und flüssige Partikel in der Atmosphäre, für die Erderwärmung spielen. EarthCARE analysiert die Struktur von Wolken und Aerosolschichten und misst die Energieabstrahlung der Erde. Damit wird der Zusammenhang zwischen Wolken und Aerosolen einerseits und der Strahlungsbilanz andererseits beobachtbar. EarthCARE führt vier Sensoren mit: ein Radar, ein Lidar, eine multispektrale Kamera sowie ein Radiometer.

HALO gehört seit 2009 zur Flotte des DLR. Die EarthCARE-Validierung ist eine der bisher anspruchsvollsten Missionen des Jets.
Blick in Wolken
Mit dem Radar können Tropfen und Eiskristalle in Wolken vermessen werden. Anhand der Laufzeit lässt sich die Entfernung bestimmen, die Doppler-Phasenverschiebung verrät die Geschwindigkeit und an der Art der Reflexion kann zwischen Wasser und Eis unterschieden werden. Da Radarstrahlen von Luft und Feuchtigkeit wenig absorbiert werden, können sie kilometerweit in Wolken hineinschauen. Das Radar erzeugt ein Vertikalprofil der Teilchen innerhalb einer Wolke mit Parametern wie Wolkenbedeckung, Wasser- und Eisgehalt sowie Größe der Teilchen. Auch Lidar analysiert reflektierte elektromagnetische Strahlung, die es vorher aussendet, allerdings unterscheidet sich die Wellenlänge vom Radar: Dort sind es Millimeterwellen, beim Lidar ist es Ultraviolettstrahlung. Lidar detektiert optisch dünne Wolken, beispielsweise hohe Zirren, und Aerosole. Auch Wasserdampf kann gemessen werden, bevor er in Tröpfchen kondensiert. Für die Detektion von Tropfen ist Lidar hingegen ungeeignet. An Tropfen wird sehr viel des Lichtes reflektiert, das System hat eine entsprechend geringe Eindringtiefe. Im Gegensatz zu Radar und Lidar ist der Imager ein passives Instrument: Er zeichnet auf, was er "sieht". Er dient vor allem dazu, die Szenerie unter dem Satelliten festzuhalten. Dieses Gesamtbild hilft, die Daten der anderen Instrumente richtig zu interpretieren. Auch das Radiometer ist ein passives Instrument. Es misst den gesamten Strahlungsfluss, also die Gesamtmenge an Energie, die die Erde (im Sichtfeld des Sensors) abstrahlt.

HALO verfügt über ähnliche Instrumente wie EarthCARE, darunter ein spektral hochauflösendes Lidar.
Datenvergleich und -validierung
EarthCARE startete am 28. Mai 2024 mit einer Falcon 9 von Vandenberg in Kalifornienaus. Vom Sommer 2024 an werden die Sensoren des Satelliten validiert und kalibriert. Hier kommt HALO ins Spiel: Das Forschungsflugzeug fliegt direkt unterhalb des Satelliten und vermisst die Atmosphäre zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Die Daten sind Teil eines Vergleichsdatensatzes, der verwendet wird, um Vertrauen in EarthCARE aufzubauen. Im Rahmen der EarthCARE-Kampagne fliegt HALO Orte mit unterschiedlichen Wetterphänomenen an. Im November 2024 geht es von Oberpfaffenhofen aus unter anderem nach Nordnorwegen. HALO, kurz für High Altitude and Long Range Research Aircraft, ist eines der Flugzeuge, die das DLR in Oberpfaffenhofen betreibt. Im Vergleich zur Serien-G550 verfügt HALO über umfangreiche Modifikationen, darunter einen Behälter am Bauch für wissenschaftliche Instrumente (Belly Pod), mehrere Befestigungspunkte für Messsonden und -geräte an den Flügeln, insgesamt 18 Rumpfdurchbrüche, durch die Sensoren "schauen" können, sowie einen Nasenmast mit 5-Loch-Sonde, der Luftdaten mit einer Frequenz von 100 Hz misst und den wissenschaftlichen Instrumenten zur Verfügung stellt. Silke Groß vom DLR erläutert, dass durch die HALO-Vergleichsmessungen Daten gesammelt werden sollen, die mit den Messwerten des Satelliten vergleichbar sind, sogenannte Level-1-Daten. Deswegen werden mehrere, funktional ähnliche Instrumente geflogen, darunter ein Doppler-Radar und ein spektral hochauflösendes Lidar. Allerdings wurden die Instrumente nicht neu entwickelt, sondern sind teils schon jahrelang im Einsatz. Die Messergebnisse lassen sich dementsprechend zuverlässig interpretieren. Zudem sollen die Algorithmen validiert werden, mit denen aus Messwerten von einem oder mehreren Sensoren wissenschaftlich relevante Informationen abgeleitet werden, sogenannte Level-2-Daten. Dazu werden mit unterschiedlichen Algorithmen sowohl aus den HALO-Daten als auch aus den Earth-CARE-Daten die gleichen Level-2-Daten abgeleitet. Wenn alles richtig kalibriert und modelliert ist, muss für beide das gleiche Ergebnis herauskommen.

HALO wird von einem Konsortium deutscher Umwelt- und Klimaforschungseinrichtungen finanziert und genutzt und vom DLR betrieben
Jet und Satellit im Tandem
Der Satellit umkreist die Erde alle 92 Minuten, was einer Geschwindigkeit von 28 000 km/h entspricht. Das ist rund 35-mal schneller als HALO. Ein Unterflug kann also nur punktuell erfolgen. Die direkte räumliche und zeitliche Überschneidung, während der Flugzeug und Satellit das Gleiche sehen, beträgt nur ungefähr eine Sekunde. Nichtsdestotrotz können auch Daten verglichen werden, die zeitlich fünf bis zehn Sekunden auseinander liegen, sagt Silke Groß. Manche Wetterphänomene sind auch so ausgedehnt, dass man mit noch längeren Differenzen leben kann. Deswegen fliegt HALO möglichst entlang des Kurses des Satelliten über Grund (Track) zum Treffpunkt. Es gibt keinen Sensor im Flugzeug, der den Satelliten sieht, und es ist auch keine Echtzeitkoordination mit dem Kontrollzentrum nötig. Denn Satellitenbahnen lassen sich sehr gut vorherberechnen. Die ESA veröffentlicht täglich aktualisierte Orbitvorhersagen für die nachfolgenden Tage, die als Grundlage für die Routenplanung dienen. Bei unserem Flug geht es nach dem Tankstopp in Memmingen Richtung Koblenz. Von dort fliegen wir entlang des Satellitenkurses nach Norden zu unserem ersten Rendezvous mit EarthCARE über dem norwegischen Dorf Dafjord bei 70° Nord. Von dort geht es knapp 900 Kilometer genau nach Westen zum Satellitentreff Nummer zwei. Nach erfolgreichem zweitem Unterflug drehen wir nach links, um dem Satelliten nach Süden zu folgen. Nordwestlich der Färöer- Inseln verlassen wir den Satellitenkurs und kehren zurück nach Oberpfaffenhofen. Wenn HALO den Satelliten zweimal unterfliegen möchte, dann muss der Wechsel von einem Satellitentrack zum nächsten innerhalb der 92 Minuten eines Satellitenorbits passieren, was den maximal möglichen Abstand zweier Satellitenbahnen begrenzt. Dieser Abstand wiederum variiert mit der geografischen Breite: je weiter nördlich, desto näher liegen die Tracks zusammen. Die 900 Kilometer bei 70 Grad Nord sind eine für HALO in anderthalb Stunden machbare Entfernung.

Die HALO-Crew plant den Flug präzise, um die exakten Überflugzeiten für das EarthCARE-Treffen einzuhalten.
Exaktes Timing gefragt
Es gibt weitere Randbedingungen bezüglich des Timings. Falls wir auf dem ersten Kurs verspätet sind, wäre das für den ersten Unterflug kein großes Problem. Weil uns der Satellit auf diesem Schenkel entgegenkommt, würden wir ihn etwas südlicher treffen. Da die wissenschaftlich interessanten Wolkenformationen bei diesem Flug räumlich ausgedehnt sind, wäre das auch aus Sicht der Wissenschaft kein Drama. Zu früh zu kommen, wäre allerdings fatal. Weil es in Nordnorwegen keine Radarabdeckung gibt und wir eine "Oceanic Clearance", eine Freigabe der Flugsicherung, benötigen, müssen wir uns an den Flugplan halten: Der Abbiegepunkt ist geografisch und zeitlich fix. Wenn wir dort zu früh ankämen, müssten wir möglicherweise nach Westen abbiegen, bevor uns der Satellit erreicht. Für das zweite Treffen ist es genau umgekehrt. Weil uns dort der Satellit von hinten einholt, wäre er bei Verspätung schon an uns vorbei-gehuscht. Wenn wir hingegen zu früh kämen, würde er uns etwas südlicher einholen. Die nötige zeitliche Präzision erreicht die HALO-Crew einerseits durch eine Flugplanungssoftware, die detaillierte Windvorhersagen berücksichtigt. Die Planung wird am Flugtag nochmal aktualisiert. Während des Fluges berechnet das Flight-Management-System von HALO kontinuierlich die erwarteten Überflugzeiten der Wegpunkte auf Basis aktueller Winddaten. Durch leichte Variation der Geschwindigkeit sei es dann relativ einfach, die Überflugzeiten der Wegpunkte minutengenau einzuhalten, sagt der Pilot Marc Puskeiler.

Sechs Wissenschaftler sind für die Instrumente zuständig und greifen im Fall eines Fehlers ein.
Aufwendige Koordination
In Europa, so Puskeiler, seien die Herausforderungen eher administrativer Art. Denn HALO hält sich weder an Luftstraßen noch an Wegpunkte, wenn er dem Satelliten entlang des Großkreises folgt. Und die Route führt durch viele Flug-sicherungssektoren, mit jedem ist im Vorfeld eine explizite Absprache nötig. Glücklicherweise ist HALO in der Regel über FL400 (40 000 Fuß, gut 12 km) unterwegs, also oberhalb der meisten Verkehrsflugzeuge. Das macht die unkonventionelle Route einfacher. Trotzdem dauert die Koordination mit der Flugsicherung pro Flug rund drei Tage. In der EarthCARE-Konfiguration gibt es in der Kabine von HALO sieben Plätze. Einer gehört Florian Ewald, dem wissenschaftlichen Leiter des Flugs, auch als Mission Principal Investigator (PI) bezeichnet. Während des Fluges hat er das letzte Wort, wenn wissenschaftlich relevante Entscheidungen zu treffen sind, wie beispielsweise eine Änderung der Route aus Flugsicherungsgründen oder weil erst in situ entschieden werden kann, welche Cumulonimbus-Wolke angeflogen werden soll. Der Rest sind Wissenschaftler. Sie pendeln während des Flugs zwischen ihrem Laptop am Sitz und ihrem Instrument oder versammeln sich bei der Vierersitzgruppe für Diskussionen über Wolken, Wetter und Messergebnisse.

Marc Puskeiler ist auf unserer Mission im November der verantwortliche Pilot.
Mission erfolgreich
Nach insgesamt zehn Stunden landen wir ILS-geführt auf der Piste 22 in Oberpfaffenhofen bei geschlossener Wolkendecke in 250 Meter. An der Halle des DLR erwarten uns bereits die Kollegen von der Projektleitung und der Technik. Es gibt noch ein kurzes Debriefing, bevor sich alle müde und hungrig auf den Heimweg machen. Unsere Mission, arktische Wolken zu vermessen, war erfolgreich. "Von wissenschaftlicher Seite hätte der Flug nicht besser laufen können. In beiden Unterflügen hatten wir interessante Wolkenstrukturen", sagt Florian Ewald. "Eine Warm- und anschließende Kaltfront mit Schneefall bis zum Boden hat uns bisher bei den Messflügen in den Tropen gefehlt. Die Instrumente funktionierten, und wir konnten auch schon erste Aussagen über die Kalibrierung des Wolkenradars auf EarthCARE für die ESA erstellen." Nach Ende der Kampagne zwei Wochen später ergänzt Marc Puskeiler, dass HALO in der EarthCARE-Kampagne 283 Stunden Blockzeit angesammelt hat. Im gesamten Jahr 2024 flog HALO mehr als 500 Stunden.