Noch heute wird der Truppenübungsplatz Neuhammer von der polnischen Armee genutzt. Doch vor mehr als 85 Jahren flog hier die deutsche Luftwaffe über einem der größten Übungsplätze des Deutschen Reichs, der nach der Machtübernahme Hitlers massiv ausgebaut worden war. Es konnten bis zu 70 000 Mann starke Großverbände aus den verschiedenen Waffengattungen dort für den Einsatz trainieren. Bei einer dieser Übungen kam es zum größten Unfall in der Geschichte der Luftwaffe vor dem Zweiten Weltkrieg, dem Neuhammer Stuka-Unglück.
Vorführung für hohe Luftwaffengenerale
Am Morgen des 15. August 1939, nur 16 Tage vor dem Überfall der Wehrmacht auf Polen, sollten 30 Sturzkampfbomber vom Typ Junkers Ju 87B-1 eine Vorführung für hohe Luftwaffengenerale wie von Richthofen, Sperrle und Loerzer sowie von Manstein vom Heer geben. Ziel war es, einen simulierten Angriff auf Bodenziele auf dem Gelände zu fliegen. Bewaffnet waren die Stukas dafür mit Zementbomben, die mit einem Rauchsatz bestückt waren. Drei Staffelverbände, bestehend aus jeweils neun Maschinen mit zwei Mann Besatzung, sollten unmittelbar nacheinander einen Sturzflug samt Bombenabwurf durchführen.
Wolkenbank im Zielgebiet
Mit der Demonstration beauftragt war die I. Gruppe des Sturzkampfgeschwaders 76 (I./StG 76) unter dem Kommando von Hauptmann Walter Sigel. Diese war normalerweise in Graz in der Steiermark stationiert, hatte aber im Rahmen der Kriegsvorbereitungen nach Cottbus verlegt. Etwa eine Stunde vor dem Start meldete die Wettererkundungsstaffel eine Wolkenbank im Zielgebiet. 2/3 Bewölkung bei einer Obergrenze von 2000 Metern über Grund. Die Wolkenuntergrenze lag bei 900 Metern, hieß es. Darunter herrsche Erdsicht.
Sturzflug durch die Wolken
Noch vor sechs Uhr starteten die drei Staffeln der I. Gruppe und formierten sich. Gemeinsam stiegen sie über die geschlossene Wolkendecke. Der Anflug auf das Zielgebiet erfolgte in 4000 Metern Höhe; die Piloten sollten nach einem Sturzflug durch die Wolken ihre Maschinen in 300 bis 400 Metern mit dem Ziel im Visier abfangen und ihre Übungsbomben ausklinken.
Morgennebel
Gruppenkommandeur Hauptmann Sigel ging als Erster in den Sturzflug über, die anderen Maschinen folgen ihrem Anführer blind. Endlos scheinende Sekunden waren die Maschinen in der Suppe, und als der Boden endlich schemenhaft dunkel auftauchte, fand sich Sigel nicht in 900 Metern Höhe, sondern in nur noch etwa 100 Metern im inzwischen aufgetretenem Morgennebel wieder. Sofort riss er den Steuerknüppel nach hinten und gab über Funk eine Warnung durch. Mit Glück konnte Sigel seine Ju 87 B entlang einer Schneise im Wald wenige Meter über dem Boden abfangen.
Die komplette zweite Staffel
Die folgenden zwei Flugzeuge seiner Führungskette mit Oberleutnant Eppen und Oberleutnant Müller schlugen jedoch im Wald auf. Und es kam noch schlimmer: Die komplette zweite Staffel und zwei weitere Stukas der 3. Staffel konnten ebenfalls nicht mehr abfangen und knallten in den Wald – einige aufgrund eines Strömungsabrisses beim verzweifelten Versuch, die Ju 87 noch abzufangen. Nur die Piloten der 1. Staffel konnten ihren Sturzflug noch rechtzeitig abbrechen. Insgesamt 26 Besatzungsmitglieder überlebten das Stuka-Unglück von Neuhammer nicht.
Hastig einberufenes Kriegsgericht
Ein noch am selben Tag hastig einberufenes Kriegsgericht kam zu dem Schluss, dass den Gruppenkommandeur keine Schuld traf, da er sich auf die Meldung des Flugwetterdienstes verlassen hatte und vom Truppenübungsplatz aus nicht über Funk gewarnt werden konnte. Hauptmann Sigel wurde freigesprochen und zog wenig später mit seiner durch Piloten anderer Einheiten wieder aufgefüllten Gruppe in den Krieg gegen Polen. Die Luftwaffe brauchte erfahrene Flugzeugführer wie ihn für die vielen im Blitzkrieg eingesetzten Stukas.
Erster Luftangriff des Zweiten Weltkriegs
Zu Beginn des Feldzugs führten von ihm kommandierte Stukas der I./StG 76 den ersten Luftangriff des Zweiten Weltkriegs durch. Der Angriff auf die polnische Stadt Wielun erfolgte zeitgleich mit dem Beschuss der Westerplatte durch das Kriegsschiff "SMS Schleswig-Holstein". Im weiteren Verlauf des Kriegs war Walter Sigel noch im Westfeldzug im Einsatz, führte sein Geschwader bei der Schlacht um Kreta an und flog in Afrika. 1943 wechselte er zum Stab General der Kampfflieger im Luftfahrtministerium. Ab April 1944 war der inzwischen zum Oberst beförderte Sigel Fliegerführer Norwegen. Bei einem Checkflug ein Jahr vor Kriegsende berührte sein Fieseler Storch ein Haltetau eines Tarnnetzes des Schlachtschiffes "Tirpitz" und stürzte ab. Sigel überlebte diesen Absturz nicht.