Südlich der beiden Startbahnen des Flughafens Marseille Provence liegt ein altes 1.900 Quadratmeter großes Stück Vorfeld. Aktiv genutzt wird es schon lange nicht mehr. Der Betonboden bröckelt, Grasbüschel wachsen aus den Ritzen. An anderer Stelle sieht man sogar alte Badfliesen, scheinbar mitten auf dem Vorfeld. Hier stand einmal ein alter Hangar – doch der musste vor fast 15 Jahren abgerissen werden. Einsturzgefahr.
Mit dem Abriss verlor auch die letzte fliegende Nord 2501 Noratlas der Welt ihren Unterschlupf. Fliegen kann sie immer noch – aber parken muss sie jetzt im Freien. 426 Exemplare des französischen Transportflugzeugs entstanden zwischen 1950 und 1961, 264 davon im französischen Bourges und 162 in Hamburg-Finkenwerder bei der Flugzeugbau Nord GmbH. Die Zusammenarbeit war ein erster Vorgeschmack auf den heutigen Airbus-Konzern, die Luftwaffe beschaffte sich damals 186 Noratlas. Dank des Dreiradfahrwerks und der "Blütenblatt"-Öffnung im Heck erwies sich die Zweimot als dankbares Transportflugzeug.
Zweites Leben für die "105"
Die Noratlas in Marseille erblickte 1956 mit der Baunummer 105 das Licht der Welt. 30 Jahre lang erfüllte sie treu ihren Dienst bei der Armée de l’Air, darunter zeitweise auch in Agiers und in Dschibuti. Aus dieser Zeit in Afrika stammt auch die bis heute grün lackierte Nase, die sie bis heute trägt. Ihre operative Karriere beendete die "105" am 3. Juni 1986 nach 10.772 Flugstunden. Am 10. Juni 1986 landete sie auf der Basis 114 d’Aix les Milles, wo sie sieben Jahre lang vor sich hin rottete.
Dass sie heute wieder in die Luft gehen kann, verdankt sie dem Verein "Le Noratlas de Provence", der die Maschine in den Neunzigerjahren unter seine Fittiche nahm. Für einen symbolischen Franc gekauft, wurde sie mehr als zwei Jahre lang aufwändig restauriert. Nach 24.000 Arbeitsstunden erhob sie sich am 29. Mai 1995 zum ersten Mal wieder in den Himmel. 1999 erhielt sie ein beschränktes Lufttüchtigkeitszeugnis für besondere Oldtimer-Flugzeuge, seit 2007 gilt sie offiziell als historisches Denkmal und genießt nun den Schutz und die Unterstützung des Staates.

Die letzte flugfähige Noratlas der Welt muss seit 2009 unter freiem Himmel parken. Ihr alter Hangar wurde abgerissen.
Überflug bei der Fremdenlegion
Dieser Status bringt diverse "Verpflichtungen" mit sich – etwa die Präsenz zu bestimmten Anlässen und Feierlichkeiten, für die man die Noratlas buchen kann. So wie am Morgen des 30. April dieses Jahres – dem Jahrestag der Schlacht von Camerone 1863, in der 65 Soldaten der französischen Fremdenlegion in Mexiko von 2.000 mexikanischen Soldaten unter Feuer genommen wurden. Nur 17 Legionäre kamen mit dem Leben davon. Als Symbol der Widerstandkraft und Stärke der Fremdenlegion erinnern die in Aubagne, wo die Legion ihr Hauptquartier hat, bis heute an die Schlacht. Und in diesem Jahr ist auch die letzte Noratlas mit von der Partie.
Morgens um 7:30 Uhr, zwei Stunden und 15 Minuten vor dem geplanten Start, trifft sich die Besatzung der Noratlas Nr. 105 am Flughafen Marseille. Die Crew besteht aus zwei Piloten sowie einem Bordmechaniker, wie er früher in der Luftfahrt üblich war. Der Rest der insgesamt achtköpfigen Mannschaft sind Vereinsmitglieder. Das Kommando hat heute Pilot Christian Bernardi. Bernardi flog einst selbst beim französischen Militär und militärisch exakt fällt denn auch die Flugvorbereitung aus. Die anstehende Mission wird auf die Minute genau berechnet.

Vor dem Flug nach Aubagne wird die anstehende Mission beim Crew-Briefing en détail durchgesprochen.
Briefing, Startup, Take-off
Nach dem Briefing begibt sich die Mannschaft zur Noratlas. Das Wetter? Nicht schön, für die Côte d’Azur ungewöhnlich trüb. Aber immerhin hält sich der Regen von Marseille fern. Problemlos fliegbar. Also einsteigen, Platz nehmen. 9:30 Uhr.
In der Kabine ein Dröhnen und Brummen – die Flight Crew startet die Triebwerke. Mit Rauch und Getöse erwacht zuerst der linke der beiden gut 2.000 PS starken Sternmotoren zum Leben, kurz darauf der rechte. Im Cockpit haben neben Kommandant Bernardi, der vorn rechts sitzt, Pilot Laurent Chevalier links und Bordmechaniker Thomas Lecomte mittig ihre Plätze eingenommen. Nach Einholung der Startfreigabe beim Tower schieben Chevalier und Lecomte die Gashebel nach vorne und beschleunigen die zu diesem Zeitpunkt 18,3 Tonnen schwere Maschine. Die Motoren transportieren beim Startlauf einen ohrenbetäubenden Lärm ins Flugzeuginnere, die Kommunikation im Cockpit erfolgt deshalb nonverbal: Lecomte gibt Handzeichen: Startleistung gesetzt! V1! V2! Um 09:54 Uhr schließlich hebt die Noratlas mit der offiziellen Kennung F-AZVM vom Boden ab. Zunächst folgt eine Platzrunde zum Training für Chevalier. Butterweich setzt er den Oldtimer wenig später wieder auf die Runway 13R in Marseille. Nach dem erneuten Start verlässt die Maschine die Kontrollzone in südliche Richtung.

Pilot Laurent Chevalier steuert die Noratlas "Nummer 105" von Marseille aus zunächst über das Meer.
Minutiös koordiniert
Währenddessen sind die Feierlichkeiten auf dem Paradeplatz in Aubagne in vollem Gang. Kommandant Bernardi steht per WhatsApp mit dem Koordinator der Gedenkfeier am Boden in Kontakt. So kann der geplante Überflug der Noratlas mit dem Verlauf der Zeremonie exakt synchronisiert werden.
Um 10:44 Uhr kommt das "Go" aus Aubagne. Von der Küstenlinie aus nimmt Pilot Chevalier Kurs ins Landesinnere. Kurz vor Aubagne muss die Noratlas noch in knapper Höhe einen Bergrücken überfliegen. Die Stadt befindet sich direkt dahinter in einem Tal. Die Strecke aus dem Holding über dem Meer bis zum Überflug hat die Crew zuvor mit exakt anderthalb Minuten berechnet. Und die Rechnung geht auf: Genau zum richtigen Zeitpunkt überfliegt "die Graue", wie die Noratlas auch liebevoll genannt wird, mit 110 Knoten die in Reih‘ und Glied stehenden Soldaten und Zuschauer auf dem Paradeplatz vor dem Gedenkmuseum der Fremdenlegion in nur 500 Fuß Höhe.

Die Aussicht aus dem Heckfenster der Noratlas ist ziemlich einmalig...
Viel Arbeit nach der Landung
Nach dem Überflug begibt sich die "105" auf den Rückweg nach Marseille. Um kurz nach 11 Uhr landet die Noratlas, nach einer Stunde und zehn Minuten Flugzeit, wieder auf der Landebahn 13R des Aeroport de Provence, rollt zu ihrer Parkposition. Das Brummen der Motoren erlischt. Stille. Draußen stellen Vereinsmitglieder sofort Auffangbehälter für austretendes Öl unter neuralgische Punkte der Triebwerke. Jeder der Motoren fasst 150 Liter Öl. Es ist normal, dass ein kleiner Prozentsatz davon während und nach dem Flug austritt.
Das Tanken gestaltet sich bei der Noratlas etwas umständlicher. Denn die Öffnungen befinden sich auf der Oberseite der Tragflächen. Zuständig für die Betankung ist Bordmechaniker Lecomte. Der 32jährige, der als Ingenieur bei Airbus Helicopters tätig ist und in seiner Freizeit für den Verein arbeitet, muss mit dem Schlauch des Tankwagens auf die Tragflächen klettern und von oben befüllen. Insgesamt gibt es sechs Tanks, drei in jeder Tragfläche. Mit einem Fassungsvermögen von insgesamt 5.090 Litern AvGas 100LL und einem Verbrauch von 600 Litern pro Stunde ergibt sich eine maximale Reichweite von 2.500 Kilometer.

Wie alle Oldtimer braucht die letzte Noratlas viel Pflege. Auf eine Flugstunde kommen rund 35 Wartungsstunden.
Betrieb vorerst gesichert
Die Wartung der Noratlas findet überwiegend am Wochenende statt. Denn unter der Woche gehen die Vereinsmitglieder gewöhnlich ihren Jobs nach. Auf eine Flugstunde kommen etwa 35 Stunden Wartung. An Ersatzteilen mangelt es aktuell zum Glück nicht. Der Verein hat sich etwa 28.000 Teile gesichert, die in Containern neben der Maschine gelagert werden.
Insgesamt zählt der Verein "Le Noratlas de Provence" 151 Mitglieder. Die meisten kommen aus Frankreich und der unmittelbaren Region um Marseille. Aber auch in Deutschland und der Schweiz gibt es 18 Mitglieder und sogar eines in Bulgarien. Erfreulicherweise finden sich auch immer mehr junge Leute, die Interesse für das geschichtsträchtige Flugzeug zeigen. Finanziell spitzte sich die Lage des Vereins wegen des Rückgangs von öffentlichen Subventionen, welcher aber alle Vereine in Frankreich betraf, in den letzten Jahren zu. 2019 und 2020 folgten die schwersten Jahre in der Geschichte der "105". Aufgrund mehrerer Abstürze von Oldtimer-Flugzeugen, darunter der Ju-52 in der Schweiz und eines B-17 Bombers in den USA, reduzierte der einzige Versicherer der Noratlas seine Schadensdeckung von 100 auf nurmehr 50 Prozent, obwohl der Franzosen-Oldie seit über 25 Jahren unfallfrei im Einsatz ist. So war es notwendig, andere Versicherungsgesellschaften in den USA und Europa zu finden, um die komplette Haftpflichtsumme abzudecken. Die europäische Gesetzgebung schreibt vor, dass Flugzeuge, die so groß sind wie die Noratlas, für Schäden von bis zu 100 Millionen Euro versichert sein müssen – das ist die gleiche Kategorie, in welche auch eine Boeing 737 eingestuft wird. Auch die Anzahl der erlaubten Fallschirmspringer an Bord – der Sprungdienst ist eine wichtige Erwerbsquelle für den Verein – wurde vorübergehend begrenzt. Erst 2022 ließen sich wieder wirtschaftlich tragfähige Bedingungen aushandeln.
Immense Kosten
Die Kosten für den Erhalt der historischen Maschine sind aber weiter immens. Allein die Überprüfung des Feuerlöscherkreislaufs alle fünf Jahre kostet im Schnitt zum Beispiel 30.000 Euro. Dass die "105" seit 2009 im Freien steht, macht die Lage natürlich nicht besser: Der salzhaltigen Meeresluft ausgesetzt, müssen immer wieder bestimmte Teile ausgetauscht werden. Immerhin berechnet der Flughafen dem Verein keine Standgebühren. Finanzielle Unterstützung vom Staat gibt es allerdings nur wenig, trotz Denkmalstatus. Üblicherweise werden die Ausgaben durch die Mitgliedsbeiträge und Einnahmen von den Flügen auf Veranstaltungen ausgeglichen. Airbus ist die einzige Firma, die dem Verein finanziell unter die Arme greift.
Auch neue Einnahmequellen werden angezapft: Um den schwindelerregenden Anstieg der Versicherungskosten zu bewältigen und Projekte wie die notwendige Neulackierung des Flugzeugs zu realisieren, hatte sich der Verein im Jahr 2021 zum ersten Mal in der Geschichte dazu entschlossen, zu einer Online-Spendenaktion aufzurufen. Mit Hilfe dieser konnte ein Großteil der Ausgaben für die Neulackierung im Jahr 2023 gedeckt werden.
Seit ihrem zweiten Erstflug 1995 ist die Noratlas 1.200 Stunden geflogen. Viele Zuschauer auf den verschiedensten Veranstaltungen kamen in dieser Zeit in den Genuss, den satten Sound der Sternmotoren und die markante Silhouette des Flugzeugs live am Himmel zu bestaunen. Aktuell scheint die finanzielle Situation des Vereins gesichert zu sein. Bleibt zu hoffen, dass dieser positive Trend noch viele Jahre anhält und die Noratlas "Nr. 105" noch oft auf Flugshows und Feierlichkeiten zu sehen sein wird.