Das Foto einer russischen Suchoi Su-35S macht dieser Tage die Runde durch die sozialen Medien – zeigt es die "Super-Flanker" mit der Kennung 05 Rot doch mit (mutmaßlich) zwei Wympel R-77M-Lenkwaffen unterm Rumpf – einer neuen Luft-Luft-Rakete mit großer Reichweite und AESA-Radarsuchkopf, die vor allem für den Stealth-Kampfjet Su-57 entwickelt wurde. Im Kampf eingesetzt wurde die R-77M zuvor noch nie, doch in der Ukraine hat die Lenkwaffe nun womöglich ihre Feuertaufe erhalten: Ebenfalls über die sozialen Medien wurde ein weiteres Foto gestreut, das Wrackteile einer russischen Rakete zeigt, die in der Ukraine eingesammelt wurden – und diese Teile weisen starke Merkmale der neuen R-77M auf. Für die meisten Beobachter genügt das als Beleg, dass Russland seit Kurzem die R-77M aktiv im Luftkampf gegen ukrainische Fighter verwendet.
Die Wympel R-77M basiert auf der bereits in der Sowjetunion entwickelten R-77 mit aktivem Radarsuchkopf, die in der Ausgangsversion "Produkt 170" mit rund 80 Kilometern Reichweite aufwartet. Auffälligstes Merkmal der R-77 – und auch der verbesserten R-77-1, die seit 2014 eingesetzt wird – sind die rechteckigen, "Kartoffelstampfer"-Gitterflossen am Heck. Diese wurden bei der R-77M durch kreuzförmig angeordnete, konventionelle Steuerflossen mit kupierten Spitzen ersetzt – genau so, wie sie auf dem Wrack-Foto aus der Ukraine zu erkennen sind.
Reichweite mehr als verdoppelt
Die veränderte Erscheinung der neuen Rakete, die in Russland auch als "Produkt 180" bezeichnet wird, ist in erster Linie einer optimierten Aerodynamik und verringerter Radarsignatur geschuldet. Außerdem passt die R-77M so besser in den internen Waffenschacht der Su-57, für die sie primär konzipiert wurde. Der Rumpf der R-77M scheint überdies geringfügig länger als der des 3,6 Meter langen Ausgangsmodells, das einst als Gegenstück zur US-amerikanischen AIM-120 AMRAAM an den Start ging.
Die R-77M tauchte öffentlich erstmals 2020 in einem Werbevideo der russischen Luftwaffe auf – montiert unter einer Su-57. Die Erprobung der neuen Lenkwaffe soll bereits seit 2016 laufen und dürfte mit den ersten operativen Einsätzen im Ukraine-Krieg ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht haben. Mit zweistufigem Feststoffantrieb und größerem Treibstoffvorrat erreicht die R-77M im Einsatz eine Reichweite von (je nach Quelle) etwa 160 bis 190 Kilometer. Ihr Ziel visiert die Luft-Luft-Rakete über den neuen AESA-Radarsuchkopf Agat 9B-1348M an, der laut Berichten eine aktive Zielerfassungsreichweite von 25 Kilometern besitzt und resistenter gegen elektronische Störmaßnahmen sein soll. Der auf Russland spezialisierte Luftfahrtjournalist Piotr Butowski schrieb ferner im Herbst 2020, die R-77M besitze "eine neue Funkdatenverbindung zur Bahnkorrektur mit wesentlich kürzeren Korrekturintervallen, ein präziseres Trägheitsnavigationssystem und leistungsstärkere Batterien für eine längere Stromversorgung."
R-77M in der Ukraine
Russischen Angaben zufolge besitzt die R-77M im Luftkampf eine 360-Grad-Abdeckung und könnte damit auch gegen von hinten anfliegende feindliche Luft-Luft-Raketen eingesetzt kommen. Gesichert ist diese Information jedoch nicht. Klar ist allerdings, dass das Auftauchen der neuen Lenkwaffe den täglichen Einsatz für die ukrainischen Kampfjets nicht einfacher macht – wenngleich es aktuell keinerlei Angaben darüber gibt, in welcher Zahl die R-77M gegen die Ukraine zur Verwendung kommt und dementsprechend auch die Frage, welchen Einfluss das "Produkt 180" wirklich auf das Kampfgeschehen nehmen kann, vorerst einer Antwort harrt.