London-Heathrow, gleich westlich vom Stadtrand der britischen Kapitale gelegen, bietet normalerweise das Bild eines quirligen Weltdrehkreuzes: Bunt lackierte A380 aus aller Herren Länder rollen zum Start, während, wie am Fließband, in einer langen Kette Jets einschweben und fast im Minutentakt aufsetzen. Scheichs und Oligarchen, Inder und Chinesen, Bankiers in formvollendeten Anzügen, schicke Londonerinnen und ein buntes Publikum aus allen Teilen des weltweiten Commonwealth mischt sich in Heathrow mit Nordamerikanern, die von hier aus gesehen nur wenige Flugstunden weiter westlich wohnen.
Europas Drehkreuz Nummer eins
Heathrow ist Europas Drehkreuz Nummer eins. Doch derzeit ist die Lage ganz anders: Heathrow steht weitgehend leer. Nur wenige Passagiere verirren sich auf die polierten Steinfußböden, Designer-Bänke sind mit Flatterband abgesperrt oder voneinander abgerückt, Geschäfte geschlossen und nur eine der beiden Start- und Landebahnen, sonst ständig überfüllt, ist überhaupt in Betrieb. Statt riesiger Jumbo Jets und A380 prägen nun eher mittelgroße Boeing 787 und 777 sowie Airbus A330 und A350, oft im Hilfsfrachtereinsatz ohne Passagiere, neben zahlreichen Standardrumpfflugzeugen das Bild.
Britische Reisesperre bremst den Airport-Champion aus
Am Beispieldatum 12. April verzeichnete die europäische Flugsicherungsorganisation Eurocontrol nur noch 343 tägliche Flugbewegungen in Heathrow, 75 Prozent weniger als an einem Vergleichstag 2019 und in Europa aktuell nur noch Rang sieben. Frankfurt kam zum Vergleich am 12. April, auch dank seiner vielen Frachtflüge, immerhin auf 511 Flugbewegungen und lag in Europa auf Rang zwei, gleich hinter Spitzenreiter Istanbul (IGA) mit 644 Flugbewegungen.

Strenge Ausgangs- und Reisesperren
Zurück nach Heathrow: Hier hatte Lokalmatador und Home Carrier British Airways Mitte April seinen Betrieb auf nur noch 56 tägliche Abflüge reduziert, 84 Prozent weniger als an einem Vergleichstag im Vorkrisenjahr 2019. Auf ihre zeitweise verheerende Corona-Lage reagierten die Briten mit außergewöhnlich strengen Ausgangs- und Reisesperren, die beim Flughafen als brutaler Nachfrageeinbruch direkt durchschlugen. Nur 22 Millionen Passagiere flogen im Gesamtjahr 2020 in Heathrow, nachdem es 2019 noch 81,1 Millionen gewesen waren. Immerhin impften die Briten unterdessen als Nummer eins in Europa vorbildlich ihre Bürger, so dass die Hoffnungen auf eine baldige Besserung der Corona-Lage begründet steigen. Das drückt sich auch schon in den Londoner Flugbuchungen aus, die bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe für Juni, Juli und August schon wieder um 20 Prozent gegenüber der Talsohle zugelegt hatten.
Mehr Mitarbeiter im Einsatz als Passagiere im Terminal
"Wir halten Anlagen im Wert von 16 Milliarden Pfund vor, aber wir haben im Augenblick nicht die Passagiere, um sie rentabel auszulasten", klagte Heathrows Flughafenchef John Holland-Kaye bei der Eurocontrol-Gesprächsreihe "Straight- Talk" im April. Mehr Mitarbeiter seien derzeit mit dem Betrieb der Flughafenanlagen als mit der Abfertigung von Passagieren beschäftigt. "Wir machen jeden Tag fünf Millionen Pfund Verlust. Das Geschäft kann sich so nicht tragen. Wenn wir im Sommer keine substanzielle Verbesserung erreichen, werden viele Flughäfen in Europa in ernsthafte Schwierigkeiten geraten", warnte der Top-Flughafenmanager. Entscheidend sei dabei auch, möglichst einheitliche Reiseregeln zu erlassen, damit Langstreckenpassagiere keinen Flickenteppich stets anderer Vorschriften vorfänden, mahnte Holland-Kaye. Für ihn sei Heathrows engstes Nadelöhr derzeit die Einreiseabfertigung. Bis zu sechseinhalb Stunden betrügen die Wartezeiten bei der Einreise ins Vereinigte Königreich, berichtete der Flughafendirektor im Eurocontrol-Branchengespräch.
Stark verkleinerter Mannschaft
Erst kurz davor kursierte im Internet der Film einer einreisenden Passagierin, die nach angeblich siebenstündiger Wartezeit in Heathrow ohnmächtig vor dem Schalter zusammenbrach und auf dem Fußboden liegenblieb. Fairerweise muss man ergänzen, dass auch die Grenz- beamten von UK Border während des strengen britischen Lockdowns nur in voneinander isolierten Teams in "Blasen" arbeiten und nur mit stark verkleinerter Mannschaft antreten können, so dass immer nur wenige Einreiseschalter zugleich geöffnet sind. Laut Flughafenchef Holland-Kaye befinde er sich bereits in Gesprächen mit der Regierung, sei aber "noch nicht am Ziel", umschreibt er höflich. Der Flughafen selbst beschäftige nur 7000 Mitarbeiter von den 75 000 Menschen, die direkt am Flughafen arbeiteten. Gegenüber den Passagieren übernehme die Flughafen-gesellschaft nach außen die volle Verantwortung für alles, was auch bei anderen Dienstleistern eben einmal nicht klappe. Anschließend müssten diese aber ihr eigenes Handeln verbessern.

Neue Technologien für mehr Tempo und Sicherheit
Unterdessen behilft sich der Flughafen mit neuen Technologien, die seine Abfertigungsprozesse auch unter Pandemiebedingungen verbessern und beschleunigen sollen. Dazu gehören seit Mai 2020 versuchsweise Wärmebildkameras, die, wie auf asiatischen Flughäfen schon länger üblich, fiebernde Passagiere aus großen Menschenmengen schnell herausfiltern können. Wer hier mit hoher Körpertemperatur auffällt, wird in die Covid-19-Testzentren des Flughafens zum Schnelltest gebeten. Auch automatische Einreiseschalter, die Pass- und Reisedaten mit Fahndungslisten abgleichen und Passagiere anhand biometrischer Daten identifizieren, sind bei den Briten normalerweise, nicht aber jetzt, in Heathrow in großem Umfang im Einsatz.
Passagier-App fürs Mobiltelefon
Noch einen Schritt weiter geht jetzt eine Passagier-App fürs Mobiltelefon, die British Airways eingeführt hat. Die App namens "VeriFly" lädt man sich vor dem Flug aufs eigene mobile Endgerät. Dort gibt man Flugnummer und Flugziel ein und wird über die jeweils aktuellen Covid-Reisebestimmungen informiert. In die App kann man – nach Art einer logisch strukturierten Checkliste – alle benötigten Angaben in ein elektronisches Formular eingeben und an die Airline senden, auch seinen aktuellen Covid-Teststatus. Wenn man zum Airport fährt, sind alle erforderlichen Verwaltungsprozesse bereits erledigt, ohne dass man, die Ansteckungsgefahr erhöhend, sich noch an Schaltern stauen oder mit unnötig vielen anderen Personen zusammen kommen würde.
Hochauflösende Vorfeldkameras
Auch hinter den Kulissen hilft die Elektronik bei verbesserter Abfertigung. So hat British Airways in Heathrow seit Ende 2019 hochauflösende Vorfeldkameras eingeführt, die in 4K-/UHD-Auflösung ihre Gate-Prozesse überwachen und den Abfertigungsfortschritt erkennen können. Sind die Kabinentüren noch offen, sind Cateringwagen oder Gepäckbänder noch angedockt? Mit künstlicher Intelligenz und Maschinenlernen kann die Software die Vorfeldabläufe verstehen und an die Betriebszentrale weitermelden, damit das globale Umsteigedrehkreuz auch bei hier häufigem Schlechtwetterbetrieb seine Pünktlichkeitswerte hält.

Schlechtwetteranflüge
Flughafen-Schrittmacher war Heathrow schon öfter: So wurden hier seit den sechziger Jahren Schlechtwetteranflüge bis hin zu automatischen Landungen nach CAT III entwickelt und eingeführt. Im Mai 1972 landete eine Hawker-Siddeley HS-121 Trident von BEA automatisch unter extremen Schlechtwetterbedingungen nach CAT IIIa, später sogar nach CAT IIIb.
Schrittmacher auch beim Lärmschutz
Seit den siebziger Jahren stand das Thema Überschall mit der Concorde für Heathrow täglich auf dem Plan. Die schnelle Concorde musste ohne Umwege auf ihre extreme Reiseflughöhe steigen können und bei der Rückkehr nach einem steilen Sinkflug pünktlich in den dichten Drehkreuzverkehr eingefädelt werden. London wurde weltberühmt, weil Airlines sich hier die begehrten Start- und Landezeiten-"Slots" für mehrstellige Millionenbeträge untereinander weiterverkauften. In normalen Zeiten sind sie wie die Lizenz zum Gelddrucken. Entsprechend größer wurden die Flugzeuge, und London wurde weltweit einer der Flughäfen, für den schließlich der riesige Airbus A380 konzipiert wurde. Mit einem teuren Slot möglichst viele Passagiere befördern, das war die Idee für den Doppeldeck-Giganten.
Quota Count
Nach den Erfahrungen mit der durch ihre vier Nachbrennertriebwerke beim Start tosend lauten Concorde wurde Heathrow auch bei der Fluglärmdebatte wegweisend. Nur Flugzeuge, die das "Quota Count" (QC) genannte, vor allem abends und nachts besonders strenge Gesamt-Lärmkontingent in Heathrow einhalten, dürfen hier fliegen. Immerhin geht es im typischen Anflug aus Osten einmal quer über die Innenstadt der dicht besiedelten Metropole mit neun Millionen Einwohnern im Großraum. Zu den prominenten Heathrow-Anwohnern, hier unter dem westlichen Abflugs-Lärmteppich, gehört sogar niemand Geringeres als die Queen persönlich, die dort auf Schloss Windsor wohnt.

A380-Reaktivierung
Auch wenn die Euphorie für die A380 bei den Airlines merklich verflogen ist und viele der Vierstrahler am Boden stehen oder ausgemustert werden: in Heathrow könnte der Riese bald wieder antreten. Neben Emirates hat auch BA angekündigt, ihre A380-Flotte hier möglichst bald wieder fliegen zu lassen. Selbst Qantas aus dem fernen Australien soll Pläne für eine A380-Reaktivierung schmieden.
Neue Standardrümpfe im Nordatlantikverkehr
Einen ganz anderen Vorgeschmack auf den Luftverkehrsmarkt der Zukunft liefert mit kleinen Standardrumpf-Langstreckenflugzeugen in Heathrow bald auch JetBlue, die New Yorker Fluggesellschaft. Die Amerikaner kündigten bei der jüngsten Übernahme ihres ersten Airbus A321neoLR in Hamburg an, mit ihrer dank Getriebefans und Zusatztanks reichweitenstarken Neuerwerbung erstmals auch transatlantisch fliegen zu wollen. Darunter sind die Strecken von Boston und New York (JFK) nach London. Hier entschied sich JetBlue – nach einem Slot-Antragsverfahren an allen drei Konkurrenzstandorten Stansted, Gatwick und Heathrow – schließlich für das Drehkreuz, wo sie am Terminal 2 abgefertigt werden wird. Mit den mittlerweile für die Sommersaison fest erteilten Heathrow-Slots wären etwa ab August tägliche JetBlue-Flüge nach JFK möglich und ab September auch noch tägliche nach Boston.
Anziehende Netzwerk-Nachfrage
Mit der erfolgreichen Ansiedlung von JetBlue beweist Heathrow, wie attraktiv der Standort auch nach dem Brexit weiterhin ist und mit der bereits wieder anziehenden Netzwerk-Nachfrage künftig wieder sein wird. Ab dem Spätherbst wird für Europa eine beginnende Erholung des für Heathrow besonders wichtigen Langstreckengeschäfts prognostiziert. Auch wenn der wirtschaftliche Heilungsprozess nach der Corona-Pandemie und die Umschichtung der Flotten einige Jahre dauern mögen, steht einer baldigen Rückkehr Heathrows an Europas Flughafenspitze wohl nichts mehr entgegen.

Heathrow historisch
Der britische Konstrukteur Richard Fairey kaufte sich 1930 nahe des Dörfchens Heath Row ein Gelände, um dort ein Flugzeugwerk und sein "Great West Aerodrome" zu errichten. Am Ende des Zweiten Weltkrieg begann die britische Luftwaffe, den Grasflugplatz als "RAF Heston" zu erweitern. Sechs feste Start- und Landebahnen in der Form eines Davidsterns ermöglichten schließlich Flugbetrieb bei jeder Windrichtung. 1946 wurde Heathrow zu Londons neuem Zivilflughafen ernannt, an dem auch British Airways ihre Unternehmenszentrale einrichtete. Von den ersten Jet-Verkehrsflugzeugen bis zum Massenflugverkehr wuchs London an die Spitze und brachte seine Anlagen immer wieder an die Kapazitätsgrenze. 2008 öffnete endlich das wegweisende Neubau-Terminal 5 und 2014 das Pendant für die Star Alliance, Terminal 2.

Daten und Fakten Flughafen Heathrow
IATA-Code: LHR
ICAO-Code: EGLL
Start und Landebahnen:
09L/27R, Länge: 3902 m
09R/27L, Länge: 3660 m
Betreiber: Heathrow Airport Holdings Limited.
Teilhaber: Ferrovial S.A. (25 Prozent), Qatar Investment Authority (20 Prozent), Caisse de dépôt et placement du Québec (12,62 Prozent), GIC (11,2 Prozent), Alinda Capital Partners of the United States (11,18 Prozent), China Investment Corporation (10 Prozent) und Universities Superannuation Scheme (10 Prozent).
Fläche: 1227 Hektar
Fluggastbrücken: 133
Vorfeldpositionen: 64
Frachtpositionen: 15
Airlines: 84 Destinationen: 204 in 84 Ländern
Die zehn größten Flughäfen 2020
1. Guangzhou, China: 43,8 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 11)
2. Atlanta, USA: 42,9 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 1)
3. Chengdu, China: 40,7 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 24)
4. Dallas/Fort Worth, USA: 39,4 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 10)
5. Shenzhen, China: 37,9 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 26)
6. Chongqing, China: 34,9 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 48)
7. Beijing, China: 34,5 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 2)
8. Denver, USA: 33,7 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 16)
9. Kunming, China: 32,9 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 37)
10. Shanghai, China: 31,2 Millionen Passagiere (Vorjahresrang: 46)