Dunkelheit, Nebel, Rauch: Das menschliche Auge hat seine Grenzen. Dank Infrarottechnologie werden diese Grenzen in der Luftfahrt verschoben – nicht nur im militärischen Bereich, sondern auch in der Business Aviation. Klare Sicht fast wie am helllichten Tag ermöglichen Enhanced-Vision-Systeme (EVS, Sichtverbesserungssysteme), die mittlerweile in vielen Business Jets zum Standard gehören. Die nächste Systemgeneration, die EVS mit Computeranimationen auf der Basis von Geländedaten kombiniert, steht bereits in den Startlöchern.
Ein EVS besteht aus einer nach vorne blickenden Wärmebildkamera (forward looking infrared, FLIR) an der Nase eines Flugzeugs, die Infrarotstrahlung von Objekten erkennt und als Echtzeitvideo auf ein Multifunktionsdisplay im Cockpit überträgt. Das verbessert die situative Wahrnehmung der Piloten vor allem bei Dunkelheit und schlechtem Wetter. Werden die Bilder der Infrarotkamera auf einem Head-up-Display (HUD) angezeigt, spricht man von einem Enhanced Flight Vision System (EFVS). Es ist für die primäre Flugführung bei Instrumentenflugbedingungen zugelassen und ermöglicht niedrigere Mindesthöhen im Präzisionsanflug bei schlechter Sicht. „Wenn ein Pilot den Flughafen aus der normalen Entscheidungshöhe mit EVS ‚sieht‘, kann er auf 100 Fuß sinken, bis eine visuelle Referenz hergestellt ist“, erklärt Steve Cass, stellvertretender Leiter Technical and Marketing Communications bei Gulfstream. Damit können mit EFVS ausgestattete Maschinen auch dann noch auf Flugplätzen ohne Instrumentenlandesystem (ILS) landen, wenn andere wetter- und sichtbedingt umgeleitet werden müssen – in der Business Aviation ein zeitlicher und finanzieller Vorteil. Die amerikanische Luftfahrtbehörde FAA könnte 2016 sogar Starts und Landungen im Blindflug erlauben, wenn ein EFVS benutzt wird.
Nach sieben Jahren Forschung, Entwicklung und Erprobung war Gulfstream Aerospace 2001 der erste Business-Jet-Hersteller, der ein EVS auf den Markt brachte. Seither hat sich bei der Hardware einiges getan. Gulfstreams EVS II, das wie das erste Modell in Zusammenarbeit mit dem Sensorhersteller Kollsman (heute Elbit Systems of America) und dem HUD-Hersteller Honeywell entwickelt und 2007 zugelassen wurde, ist zehn Kilogramm leichter und verfügt über viermal mehr Rechnerleistung und Speicherkapazität als die erste Version. Momentan arbeiten Gulfstream und Elbit Systems am EVS III. Es soll 2018 für die neue G500 und 2019 für die neue G600 erhältlich sein. „Das System hat eine vierfach höhere Auflösung als seine Vorgänger“, sagt Cass.
Im elektromagnetischen Spektrum gibt es drei Infrarotbereiche, die durch ihre Wellenlänge definiert sind: langwelliges Infrarot (long-wave infrared, LWIR: 8 bis 15 Mikrometer), mittleres Infrarot (mid-wave infrared, MWIR: 3 bis 8 Mikrometer) und kurzwelliges Infrarot (short-wave infrared, SWIR: 1,4 bis 3 Mikrometer). Wärmebildkameras bisheriger EVS nutzen typischerweise den Spektralbereich von langwelligem und mittlerem Infrarot, das von Objekten ausgeht. Bei diesen Wellenlängen absorbieren Wassermoleküle in der Atmosphäre am wenigsten Infrarotstrahlung, was Sicht durch Nebel und Rauch ermöglicht. Kurzwelliges Infrarot ähnelt dahingehend sichtbarem Licht, als dass Photonen von Objekten reflektiert oder absorbiert werden. SWIR-Sensoren sorgen für starken Kontrast in hochauflösenden Bildern. Allerdings fallen SWIR-Flächensensoren von US-Herstellern unter Restriktionen der International Traffic in Arms Regulations (ITAR) und waren bislang militärischen Anwendungen vorbehalten. Neue Sicherheitsmechanismen verhindern, dass SWIR-Sensoren nach einem Ausbau aus einem EVS wiederverwendet werden können, und erlauben damit den Export im Einklang mit ITAR.
CVS stellt auch Terraindaten dar
Damit die Detektoren auch kleinste Abweichungen im Infrarotspektrum wahrnehmen können, werden sie in den meisten der aktuellen Systeme kryogen mit flüssigem Stickstoff gekühlt. Es gibt aber auch ungekühlte Systeme wie das EVS-3000 von Rockwell Collins, das sich, kombiniert mit einem HUD, beispielsweise in der Embraer Legacy 450/500 findet. Es besteht aus einer Multispektralkamera (LWIR, SWIR) und einer Kamera für sichtbares Licht. Dieses System kann auch LED-Lichter erkennen, die an immer mehr Flughäfen installiert werden und nahezu keine Wärme abstrahlen. Ungekühlte Systeme sind weniger empfindlich und benötigen deshalb meist einen weiteren Sensor sowie Hard- und Software zur Bildfusion, um sowohl Gelände als auch Flughafenlichter in einem Bild darzustellen. Dafür sind sie aber kleiner, leichter und günstiger. „Ältere, kryogen gekühlte Systeme wurden je nach Flugzeughersteller als Option im Bereich um die 500 000 US-Dollar angeboten“, sagt Scott Galloway, Marketing-Manager Head-up Vision Systems bei Rockwell Collins. Das neue EVS-3000 soll deutlich darunter liegen. Wie viel, darüber macht Rockwell Collins keine Angaben.
Doch nicht nur bei der Hardware gibt es ständige Verbesserungen. Auch die Software schafft neue Möglichkeiten, genannt Combined Vision System (CVS). Business-Jet- und Avionikhersteller arbeiten daran, das Bild der verschiedenen Sensoren des EVS mit dem Synthetic Vision System (SVS) zu kombinieren. Ein SVS zeigt die Umgebung als 3D-Animation basierend auf Gelände- und Hindernisdatenbanken auf einem Display an und verbessert so die Situationswahrnehmung. „SVS und EVS zu verbinden und so jederzeit das beste Bild zur Verfügung zu stellen, ist die Lösung der Zukunft“, sagt Galloway. Rockwell Collins hat nach eigenen Angaben die Forschung im Bereich CVS abgeschlossen und zeigt Business-Jet-Herstellern derzeit eine Demoversion am unternehmenseigenen Flugzeug.
Auch Honeywell arbeitet seit mehr als zehn Jahren an der Entwicklung von CVS. Mitte September 2010 wurde das System erstmals öffentlich vorgestellt und zwischenzeitlich für militärische Hubschrauber weiterentwickelt – allerdings nur zur Verbesserung der Situationswahrnehmung und ohne Auswirkung auf die Height above Touchdown Elevation (HAT). Derzeit befindet sich der US-Konzern im Zulassungsprozess des Systems für Helikopter und Flächenflugzeuge. Bis die ersten Business Jets mit einem Honeywell-CVS fliegen, dürften also noch ein paar Jahre vergehen. „Während des Entwicklungsprozesses bestand die größte Herausforderung darin, sicherzustellen, dass sich das System EVS nahtlos in das SVS einfügt“, sagt Thea Feyereisen, Ingenieurin bei Honeywell. Die Software müsse die Außenwelt ohne Sichteinschränkungen wie Nebel oder Dunkelheit darstellen, um Piloten das Gelände und potenzielle Hindernisse wie an einem klaren Tag anzuzeigen.
„Mit CVS profitieren Piloten vom Besten aus beiden Welten“, sagt Dror Yahav, Vizechef Commercial Aviation bei Elbit Systems. SVS-Bilder seien geeignet auf der Langstrecke oder an Stellen, die von der EVS-Kamera nicht erkannt werden, beispielsweise bei dichten Wolken. Und das EVS liefere ergänzend eine sehr hohe Auflösung, Echtzeiterkennung von Gelände und Hindernissen bei Start, Landung und Taxi. Das israelische Unternehmen rüstet die Falcon 2000, Falcon 8X und Falcon 5X von Dassault mit CVS aus. Der französische Business-Jet-Hersteller hat das CVS namens FalconEye im November 2015 bei der NBAA in Las Vegas an einer Falcon 2000LXS vorgestellt. Die Wärmebildkamera umfasst sechs Sensoren, die das Spektrum von sichtbarem Licht bis LWIR abdecken und zu einem Bild zusammenfügen. Das Multispektral-Sensor-Array hat ein Sichtfeld von 35 Grad horizontal und 26,5 Grad vertikal.
Die Fusion von EVS und SVS ist laut Yahav erst durch zwei neue Technologien möglich geworden: Da gibt es einerseits Bedienelemente, mit denen Piloten in Echtzeit die optimale Einstellung zwischen SVS-Bildern und Infrarotvideo wählen können, andererseits verbesserte Algorithmen, die das EVS-Video winkelgetreu und mit nahtlosem Übergang zur „echten Welt“ darstellen – in Dassaults Konfiguration auf einem LCD-HUD mit einem Blickwinkel von 40 mal 30 Grad. Der erste Falcon-2000-Kunde soll nach Angaben von Dassault noch dieses Jahr mit dem System fliegen. „Wir haben für das Programm weniger als fünf Jahre bis zum ersten Zulassungslevel gebraucht. Die Entwicklung weiterer Features wie das duale HUD ist für die kommenden zwei Jahre geplant“, sagt Philippe Rebours, Testpilot und FalconEye-Projektpilot bei Dassault. So sollen beide Piloten dieselben Informationen erhalten. Laut Dassault hat FalconEye das Potenzial, unter Zero-Zero-Bedingungen (keine Sicht sowohl horizontal wie vertikal) zu operieren. „Wir sondieren den Weg zur Zulassung“, so Rebours.
Mit der Weiterentwicklung und aufgrund sinkender Preise werden die Systeme auch für die kommerzielle Luftfahrt zunehmend interessant. Die Luftfrachtgesellschaft FedEx hat bereits vor einigen Jahren angefangen, ihre gesamte Flotte mit einem EFVS von Elbit System auszustatten. Vergangenes Jahr schloss der Turboprop-Hersteller ATR ebenfalls mit dem israelischen Hersteller einen Vertrag über die Ausrüstung der neuen ATR-600-Serie. Auch die chinesische COMAC C919 soll ein EFVS von Elbit erhalten.
FLUG REVUE Ausgabe 03/2016