"Ich will für Planungssicherheit sorgen, für den Luftfahrtsektor, aber auch für die Anwohner", sagte Mark Harbers, Minister für Infrastruktur und Wasserbau der Niederlande, bei der Vorstellung der durch das niederländische Kabinett beschlossenen Schiphol-Kürzungspläne am 24. Juni. Der niederländische Staat ist Mehrheitsaktionär der Amsterdamer Flughafen-Betreibergesellschaft Schiphol Group. Er will aus Lärm- und Schadstoffausstoßgründen ab November 2023 die Zahl der jährlichen Flugbewegungen in Amsterdam von derzeit zulässigen 500 000 auf 440 000 kürzen, also 60 000 Flugbewegungen im Jahr weniger als bisher erlaubt.
"Diese Entscheidung bildet die Grundlage einer neuen Balance. Sicherlich ist sie eine schwierige Nachricht für den Luftfahrtsektor, der sich noch immer von den großen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie erholt. Ich bin mir dessen sehr bewusst. Wir werden nun die Details der neuen Regelung gemeinsam mit der Flughafengesellschaft, den Anwohnern und anderen Beteiligten festlegen", versuchte der Minister zu besänftigen.
Drehkreuzrolle gefährdet?
Weltweit erstmalig dürfte eine Regierung damit derartig radikal aus Lärm- und Klimaschutzgründen ihren wichtigsten Flughafen im Lande zurechtstutzen. Schiphol ist der Dreh- und Angelpunkt im weltweiten Netz von KLM, die ihre globalen Langstrecken nur durch Zubringerflüge füllen kann, denn der Heimatmarkt alleine ist mit 17,6 Millionen Einwohnern zu klein. Entsprechend geschockt reagierte die traditionsreiche Fluggesellschaft auf die Nachricht.
Ihr sei zuvor seitens der Politik noch ein Wachstum auf 540 000 Flugbewegungen pro Jahr zugesichert worden, beschwerte sich KLM. Demgegenüber werde der erlaubte Verkehr nun plötzlich und ohne Vorwarnung um 20 Prozent gekürzt oder elf Prozent unter das Aufkommen von 2019, also vor Corona. Zudem habe die Regierung im Koalitionsvertrag erklärt, für ein "stabiles und berechenbares Geschäftsklima" sorgen zu wollen, erinnerte sich die Airline. Sie habe im Vertrauen auf diese Zusage für Milliardenbeträge neue Flugzeuge bestellt. Erst Ende Juni hatte KLM den verbliebenen Rest ihrer Corona-Staatshilfen zurückgezahlt.

Passagiere auf Umwegen?
Nun gibt die Airline zu bedenken, dass sie bei weniger erlaubten Slots ihre kleineren Flugzeuge "aufgeben" müsse, um dann weniger Ziele als ihre bisherigen 170 mit größeren Flugzeugen zu bedienen. Dies verschlechtere die Rentabilität und beeinträchtige die Drehkreuzfunktion. Dieser Effekt werde "schnell" eintreten, befürchtet KLM. Bei einem sinkenden Angebot in Amsterdam würden die Reisenden auf andere Flughäfen ausweichen, über Umwegverbindungen fliegen und den Schadstoffausstoß nicht wie erhofft vermindern.
Auch künftig Lärmkontingente für einzelne Startbahnen in Amsterdam festzulegen, wie seitens der Regierung jetzt angekündigt, um diese nach Erreichen des individuellen Limits jeweils vorübergehend zu sperren, senke den Lärm nicht. Denn mit dieser, bereits früher einmal angewandten Regelung verhindere man die schwerpunktmäßige Nutzung genau jener Startbahnen, deren An- und Abflugwege am wenigsten über bebautes Gebiet führten. In Amsterdam sind dies bisher für Starts die Piste 06-24 (Kaagbaan) und für Landungen 18R-36L (Polderbaan), so KLM.
In normalen Zeiten, vor Corona, schaffte es Amsterdam mit über 70 Millionen Passagieren im Jahr in die Top 3 des Kontinents, hinter Heathrow und Charles de Gaulle und vor Frankfurt.
Derzeit kämpft der Flughafen Schiphol, mehr noch als viele Konkurrenten, mit der zu schnellen Erholung seines Aufkommens nach der Corona-Flaute. Viele Flüge mussten gestrichen werden und sogar in Amsterdam zusteigenden Passagieren der Eintritt und Zugang zum Check-in komplett verweigert werden, weil unerwartete Massen von Umsteigern im Terminal den ausgedünnten Personalbestand schon vollständig auslasteten. Alleine Transavia musste im Juli und August wegen der Abfertigungsprobleme in Schiphol 240 Flüge stornieren, die 13 000 Reisende betrafen. "Diese erzwungene Zurückweisung von Passagieren ist wenig akzeptabel und darf nur einmalig und kurzzeitig passieren", protestierte Transavia-Chef Marcel de Nooijer.
Mit verbesserten Konditionen und einer zusätzlichen "Sommerprämie" in Höhe von 840 Euro belohnt Schiphol derzeit Mitarbeiter, die trotz der Spitzennachfrage aktuell noch volle 160 Stunden im Monat arbeiten. Man könne die Airlines nicht zwingen, an andere Flughäfen wie den Maastricht Aachen Airport oder den Groningen Airport Eelde auszuweichen, hatte Infrastrukturminister Mark Harbers bedauernd erklärt.

Ausweichen nach Lelystad?
Dennoch schlägt auch er für Amsterdams Slotkürzungen mittelfristig eine Ausweichlösung vor: Hier soll Lelystad einspringen und möglichst alle touristischen Flüge aus Schiphol übernehmen. Dieser östlich von Amsterdam gelegene Flughafen ist bereits der meistbenutzte Flughafen der allgemeinen Luftfahrt in den Niederlanden. Seine mittlerweile 2700 Meter lange Piste macht ihn auch verkehrsflugzeugtauglich.
Allerdings entbrannte auch hier sogleich eine Umweltdebatte. Zusätzlichen Linienverkehr aus Schiphol dürfte Lelystad nämlich nur nach einer erweiterten Umweltverträglichkeitsprüfung und Genehmigung annehmen. Schon jetzt klagen aber über ein Dutzend Anwohner vor Gericht gegen angeblich geschönte CO2-Werte im Ausbauantrag. Ohnehin wäre erst frühestens 2024 auf eine Genehmigung zu hoffen. Umgekehrt hat aber auch dieser Flughafen, der ebenfalls der Schiphol Group gehört, damit gedroht, die Regierung zu verklagen, falls ihm keine Ausbaugenehmigung erteilt werden sollte.
Selbstverständlich muss ein dicht besiedelter Großraum wie Amsterdam auf die Probleme Fluglärm- und Schadstoffbelastung eingehen und muss die Regierung auch diese legitimen Interessen ihrer Bürger unter einen Hut bekommen. Die bisher rein quantitativ ausgerichtete Slotkürzung droht aber, die Drehkreuzrolle von Amsterdam und die Zukunft von KLM grundsätzlich infrage zu stellen. Eine Rolle mit Bedeutung für die Niederlande und weit darüber hinaus.
Dagegen wird die bereits in großem Umfang praktisch begonnene Verjüngung der KLM-Flotte mit sehr viel umweltfreundlicheren Flugzeugen, darunter neueste E2-Regionaljets und zuletzt neu bestellte A320neo, im Zubringerverkehr qualitativ zu wenig anerkannt. Schon heute bestraft Schiphol laute und schmutzige Flugzeuge mit drastisch erhöhten Gebühren. Mit langfristig angelegten Anreizsystemen wie diesem lassen sich Umweltbelastungen selbst bei wachsendem Flugaufkommen wirksam senken, weil man nur noch besonders leise und saubere Flugzeuge zulässt.

SAF und Schallschutz
KLM führt an, auch mit umweltfreundlichen Treibstoffen, wie SAF, könne man die Umweltwerte verbessern. Anwohnerinitiativen hatten außerdem kritisiert, Lärmschutzmaßnahmen rund um Schiphol seien bisher nur nach rein formellen Kriterien, zum Beispiel Entfernungskriterien, in direkter Flughafennähe erfolgt, aber nicht, wenn auch entfernter gelegene Gebiete ständig überflogen würden und erheblich lärmbelastet seien. Mindestens an dieser Stelle könnte auch die Politik selbst noch nachbessern.
Eine Lösung im Zubringerdilemma wäre auch der Ausbau von schnellen Eisenbahnverbindungen nach Schiphol. Seit dem 18. Juli ersetzt ein Thalys-Hochgeschwindigkeitszug nach Brüssel im Probebetrieb ein tägliches KLM-Flugpaar. Bis zum 29. Oktober läuft dieser Versuch, dem nach einer Auswertungsphase weitere Verbindungen folgen könnten.

Daten Amsterdam Airport Schiphol
IATA-Code: AMS
ICAO-Code: EHAM
Eigentümer: Royal Schiphol Group (Niederlande 69,77%, Amsterdam 20,03%, Rotterdam 2,20% und Groupe ADP 8,0%)
Startbahnen: sechs mit Längen zwischen 2014 und 3800 Metern
Fläche: 2787 Hektar
Flugbewegungen: 227304/Jahr
Destinationen: 316
Arbeitsplätze am Flughafen: 68 000 bei 800 Unternehmen, darunter bei 120 Airlines
Passagiere: 20,9 Mio./Jahr, davon 42,1 Prozent Umsteiger
Luftfracht: 1,44 Mio. Tonnen/Jahr