Boeing 737 in der Antarktis

Gletscherlandung auf Rädern
Boeing 737 in der Antarktis

Veröffentlicht am 26.07.2015

Troll Airfield, Antarctica, ICAO-Flughafenkürzel „AT27“. Dies ist eine drei Kilometer lange Piste aus purem, sogenanntem „blauen“, Eis in den weißen Weiten der Antarktis. Rund 235 Kilometer ist die Küste von hier aus entfernt. Jedes Ölfass, jeder Liter Kerosin muss mühsam von dort hierher auf 1230 Meter Höhe geschleppt werden. Seit 1989 unterhält Norwegen hier, am Rande des eisfreien Felsengebirges und damit auf festem Grund, eine kleine Forschungsstation namens Troll. Hier, in einer kleinen Ansammlung von Containern, Zelten und spartanischen Fertighäusern, werden UV-Strahlung und Gletscherveränderungen gemessen und weitere physikalische und biologische Forschungsarbeiten durchgeführt. Wenn bei uns im Norden der Winter herrscht, genießt die Südhalbkugel sommerliche Hochsaison und die Antarktis Flugwetter. Dann schwillt die Zahl der Forscher in Troll von acht im Winter auf über 30 an.

Als Verkehrsmittel dienten bislang rustikale, viermotorige Militärtransporter, wie die Iljuschin Il-76 oder die Lockheed C-130 Hercules mit Skifahrwerk. Sie scheiden vergleichsweise viel Abgas in der sonst völlig unberührten Antarktisluft aus und verbrauchen viel Kerosin, das wegen der langen Transportwege hier unten fast den Literpreis von Champagner kostet. Deshalb war im Auftrag der Norweger in der nun gerade zurückliegenden „Sommersaison“ erstmals eine zweistrahlige Boeing 737-700 in Troll. Der reguläre BBJ von PrivatAir sollte das exotische Ziel wirtschaftlicher und umweltfreundlicher, mit weniger CO2-Ausstoß, bedienen.

Das Flugzeug mit dem Kennzeichen HBIIQ, Baujahr 1999, ist vielen deutschen Lesern sicherlich schon aus seiner Zeit in Düsseldorf bekannt, von wo aus es für PrivatAir seit 2002 und bis August 2009 im Auftrag von Lufthansa mit einer reinen Business-Class-Bestuhlung nach Newark bei New York pendelte. Für den jetzigen Passagierflug dieses zivilen Verkehrsflugzeugs mit Radfahrwerk in die arktische Wildnis waren umfangreiche Vorbereitungen nötig.

„Wir haben uns rund eineinhalb Jahre auf diesen Flug vorbereitet“, erläutert PrivatAir-Kapitän Dennis Kaer, der bei der 737-Premiere am 28. und 29. November 2012 am Steuer saß, im Gespräch mit der FLUG REVUE seine Planungsarbeit. Der Däne Kaer ist bei PrivatAir seit über fünf Jahren auch für die Risikobewertung, Prüfung und Planung von Langstrecken zuständig.

Ständige Wetterinformationen per Satellitentelefon im Cockpit

Im vielseitigen Chartergeschäft der  Schweizer Airline werden weltweit ständig neue Ziele und Routen angesteuert, die Kaer vorab durchrechnet. Von Personaltransporten für die Rohstoffindustrie in der Hitze des Kongo bis zu eng getakteten Linienflügen, wie dem nach Newark, reicht das Spektrum. Kaer betont, man führe alle Flüge nach regulären europäischen Linienairline-Standards durch. Auch die Antarktis-Reise sei von den Schweizer Behörden vorab geprüft und genehmigt worden.

Der Antarktis-Versorgungsflug begann mit 32 Passagieren im südafrikanischen Kapstadt. Von hier aus startete die 737-700 am frühen Morgen des 28. November ins fünfeinhalb Flugstunden entfernte Troll. „Das Schwere ist nicht die Landung, sondern der Anflug, auch wenn wir 50 Kilometer Sicht, nur leichten Wind und -8 Grad Celsius hatten“, sagt Kapitän Kaer. Im Landeanflug über den menschenleeren Weiten verliere man jede Fähigkeit, die Höhe über Grund und die Geschwindigkeit einzuschätzen. Zudem drohe über dem Gletschereis eine unzuverlässige Anzeige des Radarhöhenmessers bei der Landung. Noch nicht einmal die optische Anflughilfe neben der Pistenschwelle, ein sogenanntes PAPI, habe man in den grellen antarktischen Lichtverhältnissen, im sogenannten „Whiteout“, erkennen können, weil dessen zarte Lichtstrahlen von der weißen Umgebung verschluckt worden seien.

Anflug und Landung klappten trotzdem reibungslos, denn das PrivatAir-Team hatte vorgesorgt. Zunächst habe man über die Norweger Luftwaffenkarten und Erfahrungswerte aus dem bisherigen Flugbetrieb gesammelt. Danach habe man Anflugkarten im bei PrivatAir üblichen „Jeppesen“-Format erstellt und bei Lufthansa Systems Anflugdaten für das Flight Management System (FMS) der 737 vorbereiten lassen. Mit Hilfe einer satellitengestützen Kurslinie und eines virtuellen 3,1-Grad-Gleitpfads im FMS habe man, bei besten Sichtflugbedingungen, den Anflug nahezu mit der Präzision eines Instrumentenanfluges durchführen können, sagt Kaer.

Dabei entscheidend sei aber die Verfügbarkeit guter Wetterberichte. Man habe im Flugzeug eigens eine zusätzliche Iridium-Satellitentelefonanlage installiert. Mit deren Hilfe habe man alle halbe Stunde über die Genfer  PrivatAir-Betriebszentrale das neueste Flugwetter eingeholt, welche wiederum die deutsche Neumayer-Antarktisstation sehr zuverlässig geliefert habe. In der antarktischen „TAF“-Flugwetterprognose werden übrigens, zusätzlich zu den üblichen Angaben, auch noch die Positionen „Contrast“ und „Horizontal Contrast“ gemeldet, um die besonders schwierigen Sicht- und Lichtverhältnisse zu charakterisieren.

Die eigentliche Landung auf der 3000 Meter langen und 60 Meter breiten Eispiste verlief glatt, aber weniger rutschig als man hätte befürchten können. „Das Rollen fühlte sich an wie auf einer Asphaltlandebahn“, berichtet Kaer, „und mit weniger Bodenwellen als etwa auf der Startbahn 18 in Frankfurt.“ Weil die Norweger die Eislandebahn mit „Grindern“ aufgeraut hätten, könne man, bei trockenem Eis, wie auf „Sandpapier“ sogar mit der üblichen Bremsstellung „Autobrakes 2“ bremsen, so der Kapitän. Allerdings habe er die Schubumkehr nur im Leerlauf mitlaufen lassen, um kein Eis anzusaugen. Die CFM-Triebwerke, vor allem deren Öl, waren noch vor dem Flug mit einem eigenen Herstellergutachten für den Antarktiseinsatz freigegeben worden.

Nach dem Landen übernahm ein Raupenschlepper die Passagiere und deren Gepäck, Fracht war aus Brandschutzgründen nicht an Bord, und brachte sie auf offenen Transportschlitten in die sieben Kilometer entfernte Forschungsstation. Schon eine Dreiviertelstunde vor der Landung hatten die Fluggäste ihre dicken Spezial-Kälteschutzanzüge und -schuhe angelegt. Zwei Mitglieder der vierköpfigen Kabinenbesatzung hatten außerdem zuvor eigens einen Polar-Überlebenskurs bei Finnair besucht, um für jegliche Notlagen gewappnet zu sein. Nur die Cockpitbesatzung blieb während des Fluges im gewohnten kurzärmeligen Pilotenhemd. Der sperrige Kälteschutzanzug im engen Cockpit hätte die eingespielten Arbeitsabläufe zu sehr gestört, berichtet Kapitän Kaer. Er kümmerte sich nach der Landung, nun auch in der Polarkleidung, zunächst um das Tanken aus 5000-Liter-Containern in Troll. Sie stehen geschützt auf Spezialfolien, damit keinerlei Verunreinigung in den jungfräulich reinen Boden gelangen kann. Jeglicher Müll wird von hier wieder abtransportiert.

Die Eislandebahn trägt nur begrenzte Lasten

Nach ihrem ETOPS180-Hinflug hatte die 737 noch rund zehn Tonnen Kerosin an Bord, so dass sie noch über zwei Stunden in niedriger Höhe hätte kreisen können. Vollwertige Ausweichflugplätze standen nicht zur Verfügung. Nur in akuten Notlagen wäre man zu benachbarten Schneepisten von kleineren Polarstationen ausgewichen.

Obwohl die Eisdecke des Gletschers 700 bis 800 Meter dick ist, musste vorher ermittelt werden, ob das Flugzeug mit seinem für Asphaltpisten ausgelegten Hochdruck-Radfahrwerk beim Landen einsinkt. Dabei mussten sämtliche Beladungs- und Trimmzustände errechnet werden und auch hartes Bremsen mit erhöhter Last auf dem Bugfahrwerk. Die Eisprüfung erfolgte durch Falltests eines genormten Stahlzylinders in Troll. Demnach durfte die 737 mit nahezu ihrer maximal zulässigen Landemasse aufsetzen.

Erst am nächsten Tag stand der Rückflug an. Um die Temperatur an Bord über Nacht nicht zu weit absinken zu lassen, ließ der eigens mitgereiste Bordingenieur Jack alle drei Stunden die Hilfsgasturbine des Flugzeugs für 45 Minuten laufen. Zusätzlich wurden Wasserflaschen in der Kabine als Kälteindikatoren aufgestellt. Vor allem die gleichmäßige Verteilung des warmen Heizungs-Luftstroms an Bord gilt bei Außentemperaturen unter minus 15 Grad als Herausforderung.

Bei Tagesanbruch am nächsten Morgen konnte die Crew das Flugzeug ohne große Probleme in Betrieb nehmen. „Wir hatten das aktuelle Wetter, haben die APU angeworfen, Passagiere und Gepäck geladen und die Gewichtsberechnung durchgeführt“, sagt der Pilot. Durch die extrem trockene Antarktisluft habe sich keinerlei gefährliches Eis oder Raureif auf dem Flugzeug niedergeschlagen. Die anhaltend gute Wetterlage ermöglichte einen planmäßigen Rückflug, diesmal mit 23 Passagieren, nach Kapstadt, dessen Großkreisentfernung Kaers mit 4365 Kilometern, die tatsächlich geflogene Track-Länge mit 4643 Kilometern angibt. Kaers hatte eigens 15 Windszenarien durchgerechnet, um 95 Prozent aller in dieser Jahreszeit typischen Wetterlagen planerisch zu berücksichtigen. Am späten Vormittag des 29. November landete Flug „PTI 737“ wieder wohlbehalten in Kapstadt. „Zu meiner Verblüffung war das totale Routine“, sagt Kapitän Kaer über die Premiere. „Es hat alles, wie geplant geklappt. Allerdings hat auch ein Riesen-Team dahinter gestanden.“ Für Privatair hat der exotische Flug den Beweis erbracht, dass man mit der entsprechenden Vorbereitung auch herkömmliche Flugzeuge regulär und sicher in der Antarktis einsetzen kann. Damit winkt ein potenziell großer Markt zur Versorgung der polaren Forschungsstationen.

Die Antarktis-737

Boeing 737-7CN (Geschäftsreiseausführung BBJ)

Besatzung: zwei Piloten, vier Flugbegleiter (hier noch ein zusätzlicher Bordingenieur)
Antrieb: zwei CFMI CFM56-7 mit 117 kN Schub
Max. Startmasse: 70 Tonnen
typische Reisefluggeschwindigkeit: Mach 0.785 in 10 700 m
Länge: 33,6 m
Spannweite: 35,8 m
Höhe: 12,5 m
Fluggäste: 44
Gepäckraum: 94 Standardkoffer
Reichweite: 8000 Kilometer
Listenpreis: 74,8 Mio. Dollar

FLUG REVUE Ausgabe 04/2013