Das Projekt 777X dürfte zu den am schlechtesten gehüteten Geheimnissen der Luftfahrtgeschichte zählen. Schon seit mindestens 2010 ist die Tatsache bekannt, dass Boeing den größten Zweistrahler der Welt grundsätzlich überarbeiten will. Damit soll das Boeing-Erfolgsmodell weiter an der Spitze aller zivilen Zweistrahler fliegen. Einerseits droht neue Konkurrenz durch den völlig neu konstruierten Airbus A350 XWB und andererseits stellen die kaufkräftigen, arabischen Airlines immer höhere Reichweitenforderungen: Sie wollen gerne, und das mit möglichst hoher Nutzlast, vom Golf nonstop an die US-Westküste kommen. Allerdings zieht sich die Geburt des Konzepts nun schon über Jahre hin, ohne dass es zu verbindlichen Ergebnissen gekommen wäre. Gerade erst hat British Airways den Kauf von 18 Airbus A350-1000 angekündigt, und auch Japan Airlines gilt als Kandidat für eine A350-Order.
Höchste Zeit also für Boeing, dem neuen Projekt mehr Gehör zu verschaffen: „Wir unternehmen jetzt den nächsten Schritt und erörtern mehr Details der Technik, Preise und Fahrpläne mit den Kunden, sagte Boeing-Marketingvorstand Randy Tinseth am 2. Mai. Die Kunden „liebten“, was Boeing ihnen zeige und gäben weitere wertvolle Anregungen. Die 777X sei für Langstrecken und frachtintensive Märkte vorgesehen und werde 350 bis 400 Passagiersitze haben. Ein vergrößerter neuer Flügel aus Kohlefaser-Verbundwerkstoff und neue Triebwerke von GE sorgten für den niedrigsten Kerosinverbrauch pro Sitz aller Verkehrsflugzeuge. Der Zeitpunkt eines Programmstarts hänge von der Rückmeldung der Airlines nach der jetzt begonnenen Präsentationsphase ab. Ziel sei eine Indienststellung gegen Ende der Dekade, so der Marketing-Vorstand.
Stand des Programms

Boeing lehnte es auf Anfrage der FLUG REVUE ab, zu bestätigen, dass Anfang Mai, wie von mehreren Medien gemeldet, schon eine Angebotsfreigabe für die 777X durch das Boeing Board of Directors ergangen sei. Mit dieser „Authority to offer“ könnten die Boeing-Verkaufsteams verbindliche Vorverträge mit den Kunden abschließen, die man für den im Herbst erwarteten Programmstart bräuchte. Mindestens zwei unterschiedliche Kunden gelten als hausinterne Forderung für jeden Boeing-Programmstart. Zum 777X-Programmvorstand wurde bereits Bob Feldmann ernannt, der zuvor für die 737 MAX gearbeitet hatte, gab das Unternehmen bekannt.
Nach derzeitigem, von Boeing noch nicht offiziell bestätigtem Stand, sind zwei Versionen der nächsten 777-Generation geplant: Die 777-8LX für etwa 353 Passagiere, als direkter Nachfolger der heutigen Boeing 777-300ER, und die gestreckte 777-9X für 406 Fluggäste. Ihre hohe Sitzzahl kommt, neben dem verlängerten Rumpf, auch durch eine verdichtete Bestuhlung der typischen Economy Class in Zehnerreihen, statt in Neunerreihen, zustande. Diese engere Bestuhlung setzt sich aber schon heute bei neu ausgelieferten, herkömmlichen Boeing 777 durch. Im Jahr 2010 seien erst 15 Prozent aller neuen 777 mit Zehnerreihen ausgeliefert worden, 2011 bereits 46 Prozent und 2012 ganze 69 Prozent, hatte Randy Tinseth auf der Flugzeughändler-Tagung ISTAT, Mitte März in Orlando berichtet.
Die 777X solle eine innen neu gestaltete Kabine erhalten und deutlich gesenkte Betriebskosten aufweisen. Zudem könnten die Piloten ein gemeinsames Type-Rating mit der 787 nutzen, so dass man das fliegende Personal ohne große Umschulung austauschen könne. Schon bei der Indienststellung werde die 777X die höchste Zuverlässigkeit ihrer Klasse erreichen, versprach Tinseth den Flugzeughändlern. Boeing rechne mit einem weltweiten Markt für 8740 neue Großraumflugzeuge in den nächsten zwanzig Jahren. Dessen Wert liege alleine bei 2,4 Billionen Dollar.
Klassischer Alu-Rumpf mit neuem CFK-Flügel

Kernstück der geplanten 777X sind ein völlig neuer Kohlefaserflügel mit einer erhöhten Spannweite von etwa 71 Metern und neue GE-Triebwerke, nämlich GE9X. Dank des neuen, gleichermaßen effizienten und treibstoffsparenden Flügels soll das Triebwerk mit rund 444 kN Schub auskommen, also mit deutlich weniger Leistung als die bisherigen GE90-115B-Triebwerke der heutigen 777-300ER mit bis zu 511 kN Schub.
Angeblich plant Boeing auch, die Flügelspitzen der nächsten 777-Generation zum Parken hochklappbar oder schwenkbar zu machen. Anders als bei einer einst für American Airlines entwickelten und zugelassenen, dann aber nie bestellten, Klappoption für die früheren Modelle 777-200 und 777-300, sollen aber nur die äußersten Bereiche der Flügelspitze Platz sparend eingeklappt werden. Gebaut würde die 777X vermutlich in Everett, wo auch bisher alle 777 entstehen. Allerdings müsste man für die neuen CFK-Flügel ein größeres Flügelwerk bauen, eine strategische Investition.
Großinvestition

Schon pokert Boeing mit der Regierung des Bundesstaates Washington um Steuererleichterungen für die Großinvestition. Vor zehn Jahren hatte Boeing im Gegenzug für die 787-Ansiedlung Steuererleichterungen über drei Milliarden Dollar in einem Zeitraum von 20 Jahren ertrotzt, wie die Zeitung Seattle Times meldete. Dafür seien aber auch 86000 von 92000 Luftfahrtindustriejobs im Bundesstaat Washington vom Boeing-Geschäft abhängig. Mit Lieferanten komme man auf 1250 Unternehmen mit 131000 Mitarbeitern und zehn Milliarden Dollar Jahresgehalt – alleine im Bundesstaat Washington, wohlgemerkt.
Als mögliche Erstkunden der 777X gelten bereits Emirates und Qatar Airways. Akbar Al Baker, Chef von Qatar Airways, liebäugelte bereits öffentlich mit einer Beschaffung von „40 bis 50“ Flugzeugen, mit denen Qatar ihre herkömmlichen 777 ablösen wolle. Al-Baker hat auch schon 80 Airbus A350 bestellt und Qatar will Ende 2014 deren erstes Kundenflugzeug übernehmen. Ebenso wohlwollend äußerte sich Tim Clark, der Chef von Emirates über die 777X. Man werde erst bestellen, wenn alle Emirates-Vorgaben sicher erfüllt würden, gab sich Clark streng, umriss aber einen Ersatzbedarf für bis zu 175 Boeing 777-300ER. Man habe eng an der Spezifikation der 777X mitgearbeitet.
Eine besondere Herausforderung dürfte die zweistrahlige 777X für die bei den Auftragseingängen kränkelnde Boeing 747-8 Intercontinental werden. Boeing musste die Jumbo-Produktionsrate bereits von zwei auf 1,75 Flugzeuge im Monat senken. Allerdings hofft der Hersteller auf eine Erholung des Frachtmarktes, und damit auch der Jumbo-Nachfrage, ab 2014. Auch Boeing-Sprecherin Karen Crabtree bestreitet gegenüber der FLUG REVUE, dass eine Einstellung der 747 zur Debatte stehe: „Unsere Produktstrategie basiert auf einem Angebot mit Kapazitätszuwächsen von etwa 15 bis 20 Prozent. Dadurch gewinnen die Kunden maximale Flexibilität. Unsere 747-8 ist genau diese 15 bis 20 Prozent größer als die 777X-Studien und sie dient genau jenen Märkten, die mehr Sitzplatzkapazität benötigen. Betreiber älterer 747-400 können mit niedrigem Aufwand auf die 747-8 umsteigen und sie verbessern sich bei Verbrauch und Emissionen zweistellig. Die 747-8 ist schon jetzt lieferbar und sie verfügt über Premiumbereiche, wie den Buckel und den Bug, den kein anderes Flugzeug anbieten kann. Außerdem hat die 747-8 als vierstahliges Flugzeug bessere Leistungen beim Start unter Höhen- und Hitzebedingungen, was auch den Umsatz erhöht. Wenn man die 777X und die 747-8 parallel einsetzt, hat man als Airline die Möglichkeit, seine Profitabilität im Netz zu maximieren“, warb die Boeing-Sprecherin.
FLUG REVUE Ausgabe 07/2013




