Europas ATM: „Die größte Herausforderung ist Fragmentierung“

Interview mit Mariagrazia La Piscopia
„Die größte Herausforderung ist Fragmentierung“

Zuletzt aktualisiert am 07.02.2025
„Die größte Herausforderung ist Fragmentierung“
Foto: Eurocontrol

Mariagrazia La Piscopia ist seit Juni 2022 Executive Director des SESAR Deployment Manager (SDM), zuvor war die Italienerin für das Strategie- und Programmmanagement des europäischen Konsortiums zuständig. La Piscopia begann ihre Karriere vor mehr als 25 Jahren bei der italienischen Flugsicherungsorganisation ENAV.

Frau La Piscopia, warum braucht Europa eine Modernisierung des Flugverkehrsmanagements?

Wir müssen vorbereitet sein, um die zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen. Über das Thema Nachhaltigkeit hinaus besteht unser Ziel darin, die Kapazität zu erhöhen, ohne die Sicherheit zu kompromittieren. Das wird natürlich auch die Emissionen im Luftverkehr senken, die Effizienz steigern und die Gesamtleistung des Netzwerks verbessern. Auch die Widerstandsfähigkeit wird immer wichtiger. Wir müssen die Anpassungsfähigkeit des Systems bei Störungen wie Covid, geopolitischen Krisen oder den Auswirkungen des Klimawandels verbessern. Ein Hauptaugenmerk liegt zudem auf der Interoperabilität, da eine der Herausforderungen Europas die Fragmentierung ist. Technologie ist der Schlüssel zur Lösung dieser Fragmentierung. Sie ermöglicht grenzüberschreitenden Datenaustausch und stellt sicher, dass die verschiedenen Akteure reibungslos kommunizieren und zusammenarbeiten. Zudem verbessert die Optimierung der Abläufe sowohl in der Luft als auch am Boden das Passagiererlebnis erheblich.

SDM
Welche Rolle spielt der SESAR Deployment Manager (SDM)? Wie arbeiten SDM und das SESAR Joint Undertaking zusammen?

Wir sind deutlich jünger als das SESAR Joint Undertaking. SESAR ist ein europäisches Projekt im Rahmen des Single European Sky und fungiert als dessen technologische Säule. Die Aktivitäten von SESAR begannen 2004. Der SESAR Deployment Manager wurde erst Ende 2014 als Konsortium betrieblicher Akteure gegründet. Unsere Aufgabe ist eine völlig andere, da wir uns nicht mit Forschung beschäftigen. Stattdessen nehmen wir die Ergebnisse der Forschung – die sogenannten SESAR-Lösungen – und koordinieren deren Umsetzung auf europäischer Ebene. Das umfasst die Synchronisierung und Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren, grenzüberschreitend, zwischen Luft und Boden sowie zwischen Bodenstationen. Wir arbeiten mit einer Auswahl von SESAR-Lösungen, die in einer EU-Verordnung namens "Common Project 1" (CP1) zusammengefasst sind. Diese Verordnung der Europäischen Kommission legt die Prioritäten für die Modernisierung fest, die sich aus der Forschung ergeben und die eine Koordination durch eine zentrale Stelle erfordern. Genau hier kommen wir ins Spiel.

Wer ist Teil des SDM?

Wir sind ein Konsortium. Zu unseren Mitgliedern gehören die vier großen europäischen Fluggesellschaften: die Lufthansa Group, Ryanair, Air France und easyJet, die zusammen ein Drittel des europäischen Luftverkehrs abdecken. Zudem arbeiten wir mit 15 Flugsicherungsorganisationen zusammen, die 80 Prozent des europäischen Luftraums überwachen. Auf Flughafenseite kooperieren wir mit ACI Europe, der 600 Flughäfen repräsentiert. Unser Fokus liegt jedoch auf den Flughäfen, die laut Verordnung zur Umsetzung verpflichtet sind. EUROCONTROL Network Manager ist ebenfalls Teil des Konsortiums und bringt sein Fachwissen zu Netzwerk-, technischen und betrieblichen Themen ein. Dieses Setup ist für Europa innovativ. Wenn es um den Einsatz neuer Technologien und Investitionen geht, ist es entscheidend, diejenigen direkt einzubinden, die diese Investitionen tätigen müssen.

Können Sie uns Beispiele für laufende oder bereits umgesetzte Projekte geben?

Da gibt es viele. Das Common Project 1 (CP1) ist eine umfangreiche und komplexe Verordnung, die sowohl den Flughafenbetrieb als auch Streckenaktivitäten und Verbesserungen im Terminalbereich abdeckt. Ein Beispiel ist der sogenannte "Free Route Airspace", der es Fluggesellschaften ermöglicht, direktere und effizientere Routen zu planen. Während der nationale "Free Route Airspace" bereits in ganz Europa implementiert wurde, haben viele Akteure begonnen, grenzüberschreitend freie Streckenführung einzuführen, um die Fragmentierung zu verringern. Die Frist dafür endet Ende 2025, aber mehr als die Hälfte hat dies bereits erreicht. Ein weiteres Beispiel ist der initiale Flughafenbetriebsplan, der die Vorhersehbarkeit, Widerstandsfähigkeit und Effizienz sowohl am Boden als auch in der Netzwerk-Integration verbessert. Dadurch werden Verspätungen und die Zeit, die Flugzeuge mit laufenden Triebwerken vor dem Start verbringen, reduziert. A-CDM [Airport Collaborative Decision Making; d. Red.] ist bereits an großen europäischen Flughäfen im Einsatz und verbessert die Koordination durch digitalen Datenaustausch zwischen den Beteiligten und verringert Verspätungen. Außerdem gibt es die flexible Luftraumnutzung und spezifische Tools für das Luftraummanagement sowohl für militärische als auch zivile Zwecke. Das minimiert Störungen und verringert Luftraumsperrungen während Militärübungen. Dies ist insbesondere in östlichen Ländern mit der aktuellen geopolitischen Lage von Bedeutung. Zu den laufenden Projekten gehört das Conflict Detection Tool, das Fluglotsen dabei hilft, Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu verhindern, um die Sicherheit zu erhöhen und das Verkehrsaufkommen zu managen. Außerdem arbeiten wir an der erweiterten Ankunftssteuerung, die die Flugsequenzierung aus größerer Entfernung optimiert und dadurch Treibstoffverbrauch und Emissionen reduziert. Schließlich liegt ein zentraler Fokus auf SWIM [System-Wide Information Management; d. Red.], das den Echtzeit-Datenaustausch ermöglicht und eine digitale Transformation vorantreibt. Bald folgt das ADS-C Extended Profile, ein weiterer Schritt in Richtung vollwertigem, traiektoriebasiertem Betrieb, der Effizienz, Vorhersehbarkeit und Nachhaltigkeit verbessert.

Wie weit sind Sie mit der Umsetzung?

Bis Ende 2025 werden über 50 Prozent von CP1 voll betriebsbereit sein. Aktuell haben wir eine Umsetzungsquote von 95 Prozent bei den Elementen, deren Fristen bereits abgelaufen sind. Diese Quote ist beispiellos für europäische Verordnungen. CP1 ist hochkomplex und umfasst mehrere Interoperabilitätsverordnungen, die von 30 Flugsicherungsorganisationen, mindestens 30 Flughäfen, Fluggesellschaften und weiteren Beteiligten umgesetzt werden müssen. Trotz dieser Herausforderungen bin ich mit dem Fortschritt der letzten zehn Jahre zufrieden.

Was kostet die Modernisierung des europäischen Flugverkehrsmanagements?

Die Investitionen sind beträchtlich. Unser Portfolio umfasst 356 Projekte, von denen 300 bereits abgeschlossen sind. Diese Projekte repräsentieren ein Gesamtinvestitionsvolumen von 3,1 Milliarden Euro, von denen 1,5 Milliarden Euro von der Europäischen Kommission stammen. Der Rest kommt aus der Industrie. Die öffentliche Förderung war entscheidend, damit die beteiligten Akteure diese Investitionen tätigen konnten. Der Return on Investment ist beeindruckend: Im Jahr 2023 brachte jeder in CP1 investierte Euro einen Nutzen von 1,50 Euro. Bis 2030 wird dieser Betrag auf 3,80 Euro ansteigen, und bis 2040 sogar auf 8 Euro. Das überzeugt auch die Investoren.

Was sind die größten Herausforderungen, denen Sie begegnen?

Die größte Herausforderung bleibt die Fragmentierung – schließlich gibt es 27 EU-Mitgliedstaaten. Doch davor müssen wir keine Angst haben: Technologie und Interoperabilitätslösungen sind der Weg, um diese Hürden zu überwinden. Eine weitere Herausforderung ist das Ausmaß der erforderlichen Investitionen und in einigen Fällen die langsame Einführung neuer Technologien. Die Modernisierung des Flugverkehrsmanagements muss beschleunigt werden, um bis 2050 ein prognostiziertes Verkehrswachstum von 40 Prozent bewältigen zu können. CP1 bietet eine starke Grundlage, aber es ist weiterhin eine enge Zusammenarbeit notwendig, um die Modernisierung voranzutreiben.

Sie erwähnten, dass es 356 Projekte gibt, von denen 300 bereits umgesetzt wurden. Wie lange wird die Umsetzung der restlichen Projekte dauern?

Die Zeitpläne variieren, aber viele Projekte werden zwischen 2025 und 2027 abgeschlossen sein. Jeden Monat schließen wir neue Projekte ab. Die endgültigen CP1-Fristen liegen im Dezember 2027 und Januar 2028. Bis dahin wird der Großteil von CP1 umgesetzt sein, auch wenn einige komplexe Elemente möglicherweise mehr Zeit benötigen.

Was kommt nach dem Common Project 1?

Der kürzlich vom SESAR Joint Undertaking genehmigte European ATM Master Plan legt die nächsten Prioritäten für die Umsetzung fest. Wir werden eng mit SESAR JU zusammenarbeiten, um die nächsten Schritte zu definieren und zu koordinieren. Das wird voraussichtlich zu einem zweiten Common Project führen.

Welche Rolle kann das europäische Flugverkehrsmanagement für eine nachhaltigere Luftfahrt spielen?

Bis nachhaltige Flugkraftstoffe (SAF) weit verbreitet sind, bleibt das Flugverkehrsmanagement das wichtigste Mittel, um CO2-Emissionen zu senken. Für die 300 Projekte, die bis Ende letzten Jahres abgeschlossen wurden, erwarten wir eine Einsparung von 13,6 Millionen Tonnen CO2 bis 2035 und 20 Millionen Tonnen bis 2040. Diese Zahlen beziehen sich nur auf die Projekte, die wir koordinieren. Die tatsächlichen Vorteile, einschließlich der damit verbundenen Aktivitäten, werden noch viel größer sein.

Ein Blick in die Zukunft: Wie wird das Flugverkehrsmanagement im Jahr 2050 organisiert sein?

Ich stelle mir ein vollständig digitales und datenbasiertes System vor, mit Echtzeit-Datenaustausch zwischen Luft und Boden. Das wird die Flüge optimieren und eine serviceorientierte Architektur ermöglichen, bei der der Fokus von physischen Infrastrukturen auf Dienstleistungen verlagert wird. Cloud-basierte, datengetriebene Operationen werden eine nahtlose Integration des Luftraums, eine einheitliche Verwaltung für alle Nutzer und vollwertigen traiektoriebasierten Betrieb unterstützen. Routineaufgaben werden automatisiert, und künstliche Intelligenz wird die Menschen unterstützen. Grüne Flugverkehrsmanagement-Verfahren und nachhaltige Betriebsabläufe bleiben zentral. Angesichts jüngster Herausforderungen wie Covid, geopolitischer Spannungen und des Klimawandels wird die Widerstandsfähigkeit entscheidend sein, um sich an Störungen anzupassen und das Verkehrsaufkommen effizient zu bewältigen.