Sie tun es (fast) alle: Zur Maximierung der Gesamterlöse pro Flug nutzen Airlines schon seit Beginn der 1980er Jahre algorithmenbasierte Computersysteme, um die Zahlungswilligkeit der Passagiere möglichst maximal auszunutzen – doch dann kam die Pandemie und brachte die Vorhersagefähigkeit der Systeme in Turbulenzen.

Im regulierten Markt war alles einfacher
Welchen Sitz verkaufe ich welchem Passagier zu welchem Zeitpunkt zu welchem Preis? Warum sollte ich meine Tickets heute verkaufen, wenn ich morgen die identische Dienstleistung womöglich zu einem höheren Preis verkaufen könnte?
Dies ist die zentrale Frage, der sich jede Airline im Revenue Management gegenübergestellt sieht. Vor der Liberalisierung der Luftverkehrsmärkte war die Preisbildung der großen Flagcarrier noch deutlich simpler – der Passagier hatte lediglich die Wahl, ob er den (hohen) Preis gewillt war zu zahlen – oder ob eben nicht.
Doch bereits in den späten 1960er Jahren bemerkten Airlines, dass Fluggäste, die ohne Storno ihrer Reservierung den Flug nicht antreten (No-Shows), keine Seltenheit sind und dort eine bisher ungenutzte Einnahmequelle verbogen zu liegen schien. Die Geschichte der systematisierten Überbuchungen hatte begonnen.

Mit der Deregulierung des US-Marktes 1978 trat der Wettbewerb auf eine neue Ebene und die Major Carrier sahen sich plötzlich effizienteren Konkurrenten mit der Unterstützung privater Kapitalgeber gegenübergestellt, in deren Preiskampf sie aufgrund ihrer komplexen Strukturen nicht dauerhaft bestehen konnten. Anstatt die Werkzeuge des Gegners zu übernehmen und das gesamte Ticketportfolio mit allen Mitteln zu vergünstigen, fiel der Fokus auf die Maximierung des Yields (Ertrag pro Passagierkilometer) durch gleichzeitige Bedienung preissensiblerer und klassischer Kundensegmente: das Revenue Management war geboren.

Damit die Marktposition mit einem kleinen Teil günstiger, nicht-wettbewerbsfähiger Ticketpreise auch in preissensiblen Kundensegmenten gesichert werden konnte, musste gleichzeitig der Erlös am gegenüberliegenden Ende gestärkt werden. So wurden erste System für das leg-basierte Revenue Management, also auf einzelnen Routen, entwickelt. Bis im Revenue Management jedoch nicht nur einzelne Strecken, sondern auch die Erlöswertigkeit von Umsteigeverbindungen berücksichtigt wurde, vergingen nochmals einige Jahre – erst 1989 führte SAS als erste Airline ein Start-Ziel-basiertes System ein, das Umsteigeverbindungen verknüpfen und als ein Verkaufsprodukt ansehen konnte.
Hohe Auslastung vs. maximaler Umsatz
Grundsätzlich gibt es in der Preisbildung drei Zielvorgaben, die durch gesteuerte Preisbildung erreicht werden können.
Einerseits besteht die Möglichkeit, den Auslastungsgrad zu maximieren, sodass die Maschine mit möglichst wenig leeren Sitzen fliegt. Zur Erfüllung dieses Ziels wird der Fokus auf preissensiblere Reisende gelegt, um auf diesem Weg zusätzlich Personen zur Reisebuchung zu animieren, die ursprünglich nicht an dieser Route interessiert waren. Nachfrage wird hier somit bewusst mit Dumping-Preisen maximal ausgeschöpft und gleichzeitig zusätzlich erzeugt.

Demgegenüber steht die Option der Durchschnittserlösmaximierung, bei welcher der Ertrag des Verkaufs pro Sitzplatz im Querschnitt möglichst maximiert werden soll. Hierbei wird die Preisstruktur so verschoben, dass möglichst viele Tickets zu einem höheren Preis verkauft werden – auch wenn dadurch womöglich andere Sitzplätze unbesetzt bleiben.
Die dritte Option betrachtet den Flug als Ganzes und versucht, dessen Gesamteinnahmen durch dynamische Preisbildung zu maximieren. Hier werden Systeme des Revenue Managements wirksam, um die aktuelle und zukünftige Kaufkraft des Passagiers möglichst genau zu prognostizieren. Charakteristisch für diesen Ansatz ist eine Flugauslastung, die zwar geringer als bei Option A ausfällt, aber trotzdem höhere Gesamterträge erzielt.
Nicht alle Fluggäste sind gleich viel wert
Dass Fluggesellschaften daran interessiert sind, nicht ihre gesamte Kapazität an preissensible Kunden zu verkaufen, die dem umsatzstarken Segment dann wiederum die Sitze wegnehmen, wurde bereits eingehend erwähnt. Doch auch der Ort und die Reisegewohnheiten des einzelnen Passagiers sind dafür entscheidend, ob ihm ein Ticketangebot unterbreitet wird.
Werden Fluginteressierte als Statuskunden identifiziert, so ordnet ihnen das System eine höhere Buchungspriorität zu. Dies bedeutet, dass Frequent Flyer exklusiv Zugriff auf Kapazitäten bekommen, die womöglich ursprünglich höherwertigen Tickets vorbehalten waren. Ähnliches gilt für den Abflughafen.

Ist beispielsweise ein innerdeutscher Flug bereits zum Großteil ausgelastet, so priorisiert das Revenue Management die übrigen Kapazitäten vor allem dahingehend, dass Langstreckenpassagiere noch auf die übrigen Sitzplätze als vor- oder nachgelagerter Feeder Service zugreifen können. Stellt ein anderer Buchungsgast jedoch nur die ausschließliche Buchungsanfrage für das innerdeutsche Leg, könnte diese je nach bereits verkaufter Auslastung abgewiesen werden.
Um dieses Prinzip der Kundensegmentierung nach Wertigkeit in der Praxis umzusetzen, konfiguriert eine Fluggesellschaft verschiedene Buchungsklassen für ihr Angebotsportfolio.
Die virtuelle Klassenherrschaft
Die Kabinenteilung nach Zahlungsfähigkeit – First, Business, (Premium) Economy – ist allseits bekannt und akzeptiert. Weit weniger bewusst sind sich jedoch Fluggäste über den kleinen Buchstaben im Kleingedruckten ihrer E-Tickets: die Buchungsklasse.

Neben der physischen Unterteilung der Kabine in Compartments unterteilen Fluggesellschaften ihre Sitzkapazität ebenso noch in unternehmensspezifische Buchungsklassen. Jede Buchungsklasse hat dabei einen festgelegten Preis und ein bestimmtes Kontingent. Denn anstatt Dynamic Pricing direkt über die Steuerung der Flugpreise zu erreichen, ist im System der Zwischenschritt über das Verwalten von Buchungsklassen zielgerichteter. Die Dimensionierung jeder einzelnen Buchungsklasse erfolgt dabei nach dem Prinzip, dass im Gesamtergebnis die Erwartungswerte (= Expected Marginal Seat Revenue) gleich sind. Bewirken die äußeren Rahmenbedingungen nun eine Erhöhung des prognostizierten Wahrscheinlichkeitsverkaufs, beispielsweise durch ein anstehendes Großereignis oder das Wegbrechen von Konkurrenz, wird der Ticketpreis aller Buchungsklassen so angepasst, dass die Erwartungswerte sich wieder zueinander stabilisieren.
So kann gleichzeitig ein Ausverkauf des Fluges zu Schnäppchenpreisen verhindert werden: Ist das zuvor festgelegte Kontingent der günstigsten Buchungsklasse aufgebraucht, werden die Buchungsanfragen des potenziellen Fluggastes automatisch in die nächsthöhere Buchungsklasse umgeleitet.
Teurer immer, günstiger nimmer
Das Prinzip gilt in seinen Grundzügen auch von oben nach unten. Wird eine Buchungsanfrage für eine ausverkaufte, hochwertige Klasse realisiert, so vergrößert das Revenue Management System automatisch das Kontingent der höheren Buchungsklasse zulasten der minderwertigen. Dadurch kann der Sitz zu einem höheren Preis als ursprünglich geplant verkauft werden und die maximale Zahlungskraft des Passagiers wird ausgeschöpft. Die Buchungsklassen sind also ineinander verschachtelt.
Das Kreuz mit der Pandemie
Das gesamte Revenue Management basiert auf dem Prinzip, das zukünftige Buchungsverhalten möglichst detailliert vorherzusagen. Um beispielweise die prognostizierte Menge der NoShows zu bestimmen, stützen sich Fluggesellschaften auf historische Statistiken, den eigenen Flugplan sowie das Marktumfeld. Wenn es sich beim jeweiligen Flug zum Beispiel um eine "Rennstrecke" handelt, die von der Fluggesellschaft mehrmals täglich bedient wird, so ist es deutlich wahrscheinlicher, dass sich ein Fluggast kurzfristig auf einen späteren Umlauf umbuchen oder die Reservierung ganz verfallen lässt, als wenn es sich um ein exotisches Ziel mit einer geringen wöchentlichen Frequenz handelt.

Historische Daten der letzten Jahre sind dabei ein aussagekräftiges Hilfsmittel, da das Marktumfeld (fast) immer mit einem Ereignis aus der Vergangenheit verglichen werden kann und so eine Vorhersage kalkulierbar ist. Doch dann kam die Pandemie.
Innerhalb weniger Tage brach die Buchungsnachfrage global beinahe vollständig ein. Dies stellte das Revenue Management vor unlösbare Situationen, da man auf keinerlei historische Vergleichsdaten für solch ein Marktumfeld zugreifen konnte. So eine Situation gab es schlicht noch nicht. Durch exorbitante NoShow-Raten wurden die Systeme in ihrer Prognose überfordert und konnten keine realistische Preisgestaltung festlegen.
Zusätzlich hat sich durch Einreisebeschränkungen und plötzlich öffnende Märkte das Buchungsverhalten stark verzögert: Während Revenue Management-Systeme traditionell möglichst hohe Preise verlangen, je kürzer der Passagier vor Abflug bucht, war dies aufgrund des veränderten Kundenverhaltens durch die volatile Reiseumgebung keine zuverlässige Messgröße. Aus diesem Grund stellten viele Major Airlines während des Lockdowns auf manuelles Revenue Management und eine vereinfachte Preisstruktur um.

Und nun? – Ein Ausblick
Kein effizient funktionierendes Revenue Management benachteiligt eine Fluggesellschaft langfristig im Wettbewerb und drängt sie gegenüber Mitbewerbern mit gezielterer Preissteuerung an den Rand. Doch im Luftverkehrsmarkt nach der Pandemie werden sich zwangsläufig alle Marktakteure auf neue Kundenwünsche einstellen müssen – wer einmal flexible Erstattungsoptionen und kurze Buchungsvorlaufzeiten von Fluggesellschaften gewöhnt ist, wird nicht ohne weiteres zu seinem vorherigen Verhalten zurückkehren. Dadurch wird es für Airlines zunehmend komplexer, zwischen preissensiblen Urlaubsreisenden und kurzfristig buchenden Geschäftsreisenden mit höherer Zahlungsbereitschaft unterscheiden zu können und so die Zahlungswilligkeit jedes Einzelnen zu einem möglichst hohen Maße auszuschöpfen. Die Algorithmen werden sich an dieses sich verändernde Marktumfeld anpassen müssen und können – doch dafür benötigt es Zeit und neue Datengrundlagen.