Martin Bickeboeller ist ein echtes Boeing-Urgestein. Seit 1987 arbeitet der Dr.-Ing. in leitenden technischen Funktionen für den Konzern. Im August 2011 stellte Boeing Bickeboeller kalt. Der Ingenieur hatte zuvor intern auf mögliche Zertifizierungsdefizite im 787-Programm und Probleme in der Qualitätskontrolle bei den Flügelzulieferern Mitsubishi Heavy Industries und Alenia, dem heutigen Leonardo-Konzern, hingewiesen.
Boeing stand seinerzeit unter enormen Zeit- und Lieferdruck – das 787-Programm hinkte Vertragszusagen um Jahre hinterher. "Die Entfernung von Posten erfolgte immer dann, wenn es zwischen Zeitplan-Erfordernissen für die Lieferung wichtiger Komponenten an die Endmontage von Boeing und den Anforderungen an die Einhaltung von Konfigurations-Management-Prozessen eng wurde", sagte Bickeboeller jetzt gegenüber der US-Luftfahrtbehörde FAA aus.

Schlendrian-Denken "tief verankert"
Nachzulesen ist das in dem am Montag veröffentlichten "Whistleblower-Bericht zu Fragen der Flugsicherheit" des US-Senats. Nicht hinreichend geprüfte Teile könnten laut Bickeboeller noch heute in frühen 787 fliegen – und nach Einschätzung des Boeing-Insiders hat sich in den letzten zehn Jahren wenig am Schlendrian in der Qualitätskontrolle geändert. Verfahrensverstöße werden bei Boeing immer nur aufgearbeitet, "wenn es gerade passt", schrieb Bickeboeller am 25. Oktober 2021 an die FAA. Diese Denke sei in den höheren Boeing-Riegen "tief verankert". Noch immer übernehme das Management "keinerlei Verantwortung für die Wirksamkeit der Qualitätssysteme".
Das rächt sich: Boeing steckt mit der 787 tief in der Produktionshölle – 2021 hat Boeing nur 14 neue 787 an Kunden übergeben. Insider rechnen nicht vor April mit einer Wiederaufnahme der aktuell gestoppten Auslieferungen. American Airlines streicht deswegen gerade den Sommerflugplan 2022 zusammen. Jüngste Beispiele der Fehlerliste: Titanteile aus Italien entsprechen nicht den Standards. Die FAA stieß zudem auf Verunreinigungen an Faserverbund-Komponenten von Mitsubishi Heavy Industries. An verklebten CFK-Teilen ist die Verbindungsfestigkeit dadurch zumindest nicht uneingeschränkt gewährleistet.

Mangelhafte Sicherheitskultur
"Laut Dr. Martin Bickeboeller gehen Qualitätsprobleme in der Lieferkette der 787 auf eng gesteckte Zeitpläne zurück", stellt der Senats-Bericht jetzt "einen unmittelbaren Zusammenhang zu aktuellen Produktionsproblemen bei diesem Flugzeug" her. Bickeboeller geht noch einen Schritt weiter: Boeing verstehe Probleme allenfalls als "Regelverstöße" aber nicht als "direkte Frage der Produktsicherheit" und wird mit dieser Einstellung Anforderungen an "die Sicherheit von Luftfahrterzeugnissen nicht gerecht".
GE9X unter Zertifizierungsdruck
Bickeboeller ist nicht der einzige Insider, der über systemische Defizite in der US-Luftfahrtindustrie berichtet. Der Senats-Bericht lässt neue Zweifel an der Praxis von Eigenzertifizierungen von Luftverkehrsprodukten aufkommen – große Konzerne können mit einer sogenannten "Organization Design Authorization" (ODA) der FAA bestimmte Abnahme- und Zulassungsverfahren an eigene Abteilungen delegieren, in denen bevollmächtigte Mitarbeiter FAA-Aufgaben wahrnehmen. Die Aufgabe ist undankbar – Mitarbeiter stehen gegenüber Arbeitgeber und Aufsicht zwischen den Stühlen. Richard Kucera hat das am eigenen Leib erfahren. Der GE-Ingenieur sollte für die FAA Produktionszertifikate abzeichnen – und zeitgleich für GE die Serienfertigung des 777X-Triebwerks GE9X in die Spur bringen.
Als Kucera in dieser konfliktträchtigen Doppelrolle Anfang 2021 auf "20 bis 30 Punkte" hinwies, die GE in den Produktionsverfahren des GE9X noch lösen sollte, wurde es ungemütlich. Sein Vorgesetzer habe ihm "mit Kündigung gedroht", nachdem der Zeitplan für die Produktzertifizierung des GE9X "durch Ausübung meiner Aufgaben für die FAA" ins Wanken geriet, schrieb Kucera am 1. April 2021 an Mitarbeiter bei GE Aviation.
Whistleblower kaltgestellt
Nach der Produktionszulassung nahm GE den Mitarbeiter an die kurze Leine. Kucera fand sich in einem "Coachingprogramm" wieder – wenn sich an seinen "Leistungsproblemen" nichts ändere, sei mit "einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses" zu rechnen, ließ die GE-Personalabteilung Kucera wissen. "Zulassungeprozesse der FAA kranken an unangemessenem Druck auf Ingenieure und Produktionsmitarbeiter", mahnt der US-Senat Änderungen am ODA-Verfahren an.