Sikorsky S-69: Extra-schneller Hubschrauber

Extra-schneller Hubschrauber
Sikorsky S-69: Schnelles ABC

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Zuletzt aktualisiert am 12.08.2023

Mitte der 1960er-Jahre erforschten viele Unternehmen Technologien zur Erweiterung des Geschwindigkeitsbereichs von Hubschraubern. Bei den meisten dieser Konzepte handelte es sich um Verbundhubschrauber, bei denen ein Flügel und ein Hilfsantrieb hinzugefügt wurden. Sikorsky entwickelte ab 1964 auch eine Alternative – das Advancing Blade Concept (ABC). Die Idee ist, das Problem des Strömungsabrisses an den rücklaufenden Blättern bei hohen Geschwindigkeiten durch den Einsatz von zwei gegenläufigen Rotoren zu beseitigen, sodass auf beiden Seiten des Hubschraubers vorlaufende Blätter vorhanden sind und der Drehflügler in der Balance bleibt. Die rücklaufenden Blätter können so stark entlastet werden.

Technische Herausforderungen

Das Konzept hat allerdings einige technische Haken, insbesondere darf es kein Schlaggelenk geben und die Blätter müssen sehr steif sein, damit der Auftriebsmittelpunkt des Rotors von der Rotormittellinie nach außen verlagert werden kann. Das ABC verlangt, dass der Blattholm die hohen Biegemomente aufnehmen kann. Es wurde also Titan anstelle von Aluminium benötigt, um die für ein praktisches Blattdesign erforderliche Festigkeit und das erforderliche Elastizitätsmodul zu erreichen. Es musste zudem sichergestellt werden, dass die im Vergleich zu Koaxialrotoren recht eng übereinander angeordneten Rotoren nicht kollidieren. Der Abstand ihrer Spitzen beträgt im Betrieb teils kaum mehr als 25 Zentimeter.

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Komplexe und teure Lösung

Nach einer Reihe von Fehlversuchen wurde ein Herstellungsverfahren entwickelt, bei dem ein 6AL-4V-Titan-Strangpressprofil verwendet wurde. Es erfolgte eine Bearbeitung sowohl innen als auch außen, um eine konische Form und eine konische Wandstärke zu erzielen. Die Holmrohre wurden dann in keramischen Warmformwerkzeugen in eine elliptische Form gebracht. Dies erwies sich als erfolgreich, obwohl es sich um ein komplexes und teures Verfahren handelte, das für eine finanziell wettbewerbsfähige Serienkonstruktion des ABC unerschwinglich gewesen wäre. Ein Testrotor mit einem Durchmesser von zwölf Metern wurde 1970 hergestellt und im großen NASA-Windkanal in Ames bei Geschwindigkeiten von 150 bis 330 km/h getestet.

Holpriger Start

1971 interessierte sich dann die US Army (Research and Technology Laboratories Applied Technology Laboratory, Fort Eustis) für die Technologie, und im Dezember erhielt Sikorsky einen Auftrag für den Bau von zwei Versuchsmustern unter der Bezeichnung XH-59A (Sikorsky-Modellnummer S-69). Sie wurden in Stratford gebaut und erhielten einen Pratt & Whitney Canada PT6T-3 Turbo Twin Pac als Antrieb. Erstflug war dann am 26. Juli 1973, doch nach kaum vier Flugstunden wurde die Maschine mit der Kennung 73-31941 bereits bei einem Unfall schwer beschädigt. Am 24. August, beim Übergang vom Schwebe- in den Vorwärtsflug, bäumte sich die S-69 auf, was trotz Vollausschlag des Steuerknüppels nach vorn nicht mehr korrigiert werden konnte. Bei der versuchten Landung berührte das Heck als Erstes den Boden, die XH-59A rollte zur Seite und die Rotorblätter zersplitterten nach Bodenberührung. Zum Glück kam die Besatzung unverletzt davon. Als Ursache wurde eine ungenügende Steuerwirksamkeit ermittelt. Diese hatte man extra mit sehr geringer Übersetzung ausgelegt, um zu verhindern, dass die Crew zu große Eingaben macht – es fehlte die Erfahrung mit einem derart steifen Rotorsystem. Das Programm wurde jedenfalls um fast zwei Jahre zurückgeworfen, bis die zweite XH-59 (73-21942) nach den notwendigen Änderungen am 21. Juli 1975 mit den Testpiloten Byron Graham und Ronald Holassek mit ihrem Versuchsprogramm beginnen konnte.

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Zweiter Prototyp

Von Juli 1975 bis März 1977 wurde in 66 Flugstunden zunächst die Hubschrauberkonfiguration getestet. Der Flugbereich wurde auf eine Geschwindigkeit von 288 km/h im Horizontalflug, auf Sturzfluggeschwindigkeiten bis 344 km/h sowie auf Flughöhen bis 4270 Meter erweitert. Der Army ging dann das Geld aus, und zudem hatte sie das dringende Interesse an schnellen Hubschraubern verloren. Aufgrund der Erfahrungen in Vietnam und im Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn waren nun wieder Tiefstflüge in der Deckung bei Geschwindigkeiten von nur 50 bis 150 km/h gefragt. Immerhin konnte man die US Navy und die NASA überreden, sich am Hochgeschwindigkeits-Versuchsprogramm zu beteiligen. Die Navy zahlte ab Oktober 1979 sogar komplett, obwohl die Army weiterhin für das Management zuständig war. Für die neue Phase musste die XH-59 zunächst einmal umgebaut werden. Zwei Pratt & Whitney J60-P-3A Turbojets mit je 13,35 Kilonewton Schub wurden seitlich am Rumpf montiert. Flüge mit diesem Hilfsantrieb wurden von April 1978 bis Januar 1981 durchgeführt, ab September 1978 dann von West Palm Beach in Florida aus. Dabei erreichte die S-69 praktisch alle technischen Ziele. In 62 Flugstunden wurde eine Höchstgeschwindigkeit von 445 km/h im Horizontalflug realisiert – und zwar ohne einen Hilfsflügel – und somit das ABC-Konzept unter Beweis gestellt. Stabilität und Steuerung erwiesen sich als ausgezeichnet. Der gesamte Flugbereich wurde ohne künstliche Stabilisierungseinrichtungen erflogen.

Vibrationsprobleme

Ein Problem war allerdings erheblich, weil man kein Vibrationsdämpfungssystem eingebaut hatte. Bei 100 Prozent Rotordrehzahl und 377 km/h erreichten die Vibrationen im Cockpit 0,9 g, und es traten strukturelle Schäden an den Triebwerksaufhängungen der J60, am Heckkonus, an den Leitwerksbefestigungen und an bestimmten Komponenten der Rudersteuerung auf. Das Flugprogramm musste im Mai 1979 für gründliche Inspektionen unterbrochen werden und wurde dann im November fortgesetzt. Im April und Mai 1981 führte die US Army schließlich noch eine etwa zwölf Flugstunden umfassende operationelle Bewertung des Drehflüglers in Ft. Rucker, Alabama, durch. Die NOE (nap of the earth)-Flugeigenschaften zeigten, dass die XH-59A zu den kompliziertesten, anspruchsvollsten Manövern fähig ist, die in einem taktischen Tiefstflugeinsatz erforderlich sind. Hochgeschwindigkeits-Konturenflug konnte die XH-59 bis etwa 400 km/h durchführen und so die Reaktionszeit für feindliche Ziele und Verteidigungssysteme verkürzen.

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Großes Potenzial

Das Advancing-Blade-Konzept bot ein ausgezeichnetes Potenzial. "Die nachgewiesene Agilität, Stabilität und erhöhte Geschwindigkeit würden den taktischen Crews zusätzliche Fähigkeiten verleihen, um auf dem modernen Schlachtfeld zu kämpfen und zu gewinnen", hieß es im Abschlussbericht. Das Team vergab die bestmögliche Bewertung für das Handling im Schwebeflug außerhalb des Bodeneffekts (HOGE). Im Hochgeschwindigkeitsflug "verhält sich die XH-59A wie ein Starrflügler". Solche Lobeshymnen halfen damals aber nicht. Nach der Investition von zehn Millionen Dollar von Sikorsky und 27 Millionen von Regierungsstellen wurde das Programm nach etwa 140 Flugstunden eingestellt und eine vorgeschlagene XH-59B mit ummanteltem Heckpropeller nicht gebaut. Sikorsky versuchte zwar, das Advancing Blade Concept beim LHX-Wettbewerb Mitte der 1980er-Jahre ins Spiel zu bringen, doch die Army wählte später mit der Boeing-Sikorsky RAH-66 Comanche ein (letztlich wieder gestrichenes) konventionelles Muster. Auch beim FLRAA-Wettbewerb zog die mit ABC-Rotor bestückte Sikorsky-Boeing SB-1 Defiant im Dezember 2022 gegen den V-280-Kipprotor von Bell den Kürzeren.

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Technische Daten

Sikorsky S-69 (XH-59A)

Besatzung: 2
Antrieb: 1 x Pratt & Whitney Canada PT6T-3 Turbo Twin Pac
Leistung: 1360 kW
Hilfsantrieb: 2 x Pratt & Whitney J60-P-3A
Schub: 2 x 13 kN
Länge: 12,42 m
Höhe: 4,01 m
Rotordurchmesser: 10,97 m
Rotorkreisfläche: 189,2 m²
max. Startmasse: 4080 kg ohne oder 4990 kg mit Strahltriebwerken
Maximalgeschwindigkeit: 289 km/h ohne und 487 km/h mit Strahltriebwerken
Marschgeschwindigkeit: ca. 200 km/h
Dienstgipfelhöhe: 4570 m
Steigrate: 6,1 m/s