Vier Tage vor Heiligabend im Jahr 1943 stand der 21-jährige amerikanische Pilot Charlie Brown kurz davor, seinen ersten Einsatz mit seiner Crew und der B-17F Flying Fortress zu fliegen. Im Briefing wurden die Offiziere in den frühen Morgenstunden über das Ziel des Angriffs informiert. Es galt, eine Rüstungsfabrik in Bremen zu bombardieren. Die Hansestadt im Norden Deutschlands kam zu diesem Zeitpunkt einer Festung gleich. Tausende Flakgeschütze legten sich wie ein tödlicher Gürtel um die Stadt und die Focke-Wulf-Werke.
Die schlimmsten Befürchtungen wurden wahr
Die Flying Fortress mit dem Namen "Ye Olde Pub" gehörte zur 379th Bomb Group und flog an diesem schicksalhaften Tag mit an vorderster Position in das Kampfgebiet. Die schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Die B-17 wurde von der deutschen Flak und den angreifenden Jägern zusammengeschossen. Das Seitenleitwerk wurde zur Hälfte zerstört, ein Höhenruder ging verloren, die Bugkanzel wurde zerschossen und der Heckschütze getötet. Sechs weitere Crewmitglieder, darunter auch Brown, wurden verwundet. Sie schafften es noch, ihre Bomben ins Ziel zu bringen, doch dann fiel ein Motor aus, und es gelang nicht, weiterhin die Formation zu halten. Die "Pub" sank immer weiter und verlor den Anschluss an die Gruppe.

Ein Abschuss zum Ritterkreuz
Auf dem Flugplatz Jever stand Franz Stigler neben seiner 109, die gerade wieder aufgetankt und munitioniert wurde, als der stark beschädigte Bomber direkt über den Platz hinwegbrauste. Jetzt war die Stunde des 28-jährigen Regensburgers gekommen. Ihm fehlte noch ein Abschuss zum Ritterkreuz. Er sprang in seine Maschine und nahm die Verfolgung auf. Stigler, der in den 30er Jahren als Pilot bei der Lufthansa gearbeitet hatte, war erst durch den tragischen Fliegertod seines Bruders zu den Jagdfliegern gekommen und flog ab 1942 beim JG 27 –zu Beginn in Nordafrika, wo er noch auf Hans-Joachim Marseille traf, später auf Sizilien und schließlich in Deutschland zur Verteidigung gegen die einfliegenden Bomberströme.
Kein Anzeichen von Gegenwehr
Nun befand er sich im Anflug auf die B-17, doch irgendetwas war anders. Die Abwehrbewaffnung schwieg, das Heck-MG hing herunter, und Stigler konnte den leblosen Körper des Schützen im Heck erkennen. Die B-17 zeigte kein Anzeichen von Gegenwehr. Er erzählte später, dass er noch nie eine so stark beschädigte Maschine in der Luft gesehen hatte. So beschloss er, sich erst mal neben sie zu setzen und zu beobachten. Durch die großen Löcher im Rumpf sah er den Rest der Besatzung zusammengekauert im Inneren. Dann erkannte er den Piloten, ebenfalls verwundet, wie er damit kämpfte, die Maschine in der Luft zu halten. Stigler, ein überzeugter Christ, griff nach seinem Rosenkranz in der Innentasche und überlegte. Die Entscheidung war schnell getroffen. Per Handzeichen versuchte er den Piloten zur Landung zu bewegen. Keine Reaktion. Die B-17 flog weiter Richtung Nordsee. Dann wollte Stigler sie auf Kurs nach Schweden bringen. Wieder kein Erfolg.

Kein Wort über den Vorfall
So flogen die beiden Maschinen einige Zeit nebeneinander her. Dieser Umstand hielt auch die Flak am Boden davon ab, dem Bomber endgültig den Garaus zu machen. Schließlich waren sie über der offenen See, und Stigler entschied, die B-17 ziehen zu lassen. Er blickte nochmals hinüber zum Piloten – die beiden Männer sahen sich an, Stigler salutierte und drehte ab. Charlie Brown brachte die Maschine nach Hause. Stigler flog nach Bremen und verlor kein Wort über den Vorfall, denn dieser hätte ihn vermutlich vor ein Erschießungskommando gebracht.
Aufruf im "Jägerblatt"
Der Krieg ging für beide Piloten vorüber, und das Geschehene geriet in Vergessenheit. Erst Ende der 1980er Jahre war es Brown, der sich auf die Suche nach dem Ritter der Lüfte machte. Nach einem Aufruf im "Jägerblatt", zu dem Adolf Galland ihm geraten hatte, erreichte Brown tatsächlich ein Brief aus Kanada. Darin schilderte Stigler Einzelheiten der Begegnung, die niemand außer den Beteiligten wissen konnte. Es war klar, sie hatten sich gefunden.
Eine tiefe Freundschaft
Wenige Tage später trafen sich Brown und Stigler in Washington. Bei diesem Treffen gingen sie aufeinander zu, niemand sagte ein Wort. Sie nahmen sich in den Arm, und damit war wohl alles gesagt. Bis zum Tod der beiden im Jahr 2008 verband sie fortan eine tiefe Freundschaft. Sie gingen zusammen Angeln, ihre Frauen lernten sich kennen, und die beiden einstigen Feinde nannten sich sogar "Bruder".
Buchtipp:
Die ganze Geschichte der zwei jungen Piloten, die im hohen Alter Brüder wurden, lesen Sie im Buch "Eine höhere Pflicht" von Adam Makos.